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KOMMENTAR/186: Sport voran - Wertumschrift Leistung (SB)


Sportwettrüsten: Strategie-Kommission des deutschen Sports fordert umfassenden Zugriff auf Grundschulkinder



Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) [1] hat vor kurzem Pläne einer Art "Strategie-Kommission des deutschen Sports" enthüllt, wonach der deutsche Leistungssport "zukunftsfähig" gemacht werden soll. Die "Vordenker" wollen den Bereich Leistungssport als Steuerungselement aus dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) ausgliedern und in einem eigenständigen, dem Bundeskanzleramt angebundenen Ministerium ansiedeln. Die Strategiegruppe kritisiert nicht die Medaillenhatz und den immer mehr soziale wie materielle Ressourcen verheizenden Rüstungswettlauf im internationalen Spitzensport, sondern stellt diesen als gegeben hin und fordert noch mehr (Steuer-)Gelder sowie die Bereitstellung umfassender Mittel und Zugriffsstrukturen. Wie die FAZ berichtet, stünde nach Darstellung der Gruppe der "deutsche Sport" (gemeint ist der Hochleistungssport) ohne eine Erweiterung der finanziellen Förderung bald vor der Alternative, "entweder auf Mittelmaß abzurutschen oder aber Prioritäten setzen zu müssen, um in einem Teil der Sportarten/Disziplinen in der Weltspitze zu verbleiben. Beides ist nicht tragbar".

So undenkbar der Strategiegruppe die Alternative zu sein scheint, dem zerstörerischen Wirken des weltweiten Sportwettrüstens durch schrittweisen Verzicht endlich Einhalt zu gebieten, so zielsicher strebt sie die totale Mobilisierung des sportlichen Humankapitals an, um im weltweit immer härter und brutaler werdenden Medaillenkrieg an vorderster Front mitmischen zu können.

Wie die FAZ berichtet, verlangten die Spitzensportplaner auch Zugriff auf Talente: "Deren Sichtung müsse als Schwerpunktaufgabe der Spitzenverbände verstanden werden. Deshalb brauchten diese, so das Konzept, Richtlinienkompetenz. Grundschulkinder könnten dann frühzeitig auf ihre sportliche Eignung überprüft werden; ein entsprechendes Testverfahren sei zu etablieren." Im Sinne eines "Talent Crossings" will die Arbeitsgruppe übergreifende Sichtungs- und Förderaktivitäten schaffen.

Die Forderungen nach einem effizienteren Zugriff auf Talente finden vor dem Hintergrund statt, daß die in Deutschland mehr als 11.000 Kinder und Jugendlichen, die in 41 Eliteschulen des Sports zu potentiellen Medaillenkandidaten herantrainiert werden, offenbar nicht mehr reichen, um im Wettbewerb der Nationen die Nase vorn zu behalten. Die nationalen Kaderschmieden sind ein Erbe des DDR-Sports und des Kalten Krieges. Die damaligen Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) der DDR gehörten zu den gesellschaftlichen Subsystemen, die in ihrer Gesamtheit die Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft, die sich heute mehr denn je in Arm und Reich spaltet, möglich machen sollten. Der medaillenträchtige Hochleistungssport diente der DDR als (vielfach auch überschätztes) Mittel, soziale Kohäsion nach innen und internationale Anerkennung nach außen zu erzeugen. Doch, wie einer der bekanntesten Rechtsanwälte der DDR, Winfried Wolff, einmal resümierte: "Im Ergebnis waren die Bemühungen der DDR, ihre auf allen Medien vorgetragenen marxistischen Auffassungen unter ihren Bürgern zu verbreiten, trotz hohen Aufwands wirkungslos." [2]

Was den Sport betrifft, so waren die Ereignisse und Folgekonsequenzen rund um den Mauerfall 1989 in jeder Hinsicht ernüchternd: Die - aus westlicher Sicht - sozialistisch indoktrinierten ElitesportlerInnen der DDR, die ob ihrer sportlichen Erfolge und Leistungen höchste Anerkennung im Arbeiter- und Bauernstaat mit zugleich hoher sozialer Absicherung genossen, erwiesen sich als äußerst anpassungsbereit und avancierten bald nach der Wende zu den Erfolgs- und Funktionsgaranten des Leistungs- und Wettkampfsports kapitalistischer Prägung. Was den Funktionsträgern des von Professionalismus und Kommerzialisierung beherrschten Spitzensports im wiedervereinigten Deutschland nützlich schien, wurde aus der Erbmasse der DDR, die in der Entwicklung von Sieg- und Rekordleistungen nahezu deckungsgleiche Interessensdispositionen mit dem marktorientierten Sportpropagandasystem der BRD bzw. Gesamtdeutschlands aufweist, übernommen. Gleichzeitig wurde der "sozialistische Ballast" als Ideologie vergangener Zeiten entsorgt. Partielle Übersteigerungen bei der sportwissenschaftlichen Zurichtung und staatlich gelenkten Talenteselektion sowie der Überwachung des Sportler- und Spielermaterials wurden zudem begrenzt.

Heute wissen wir, daß der nach wie vor prävalierende "Quäl-dich-du-Sau"-Sport innovative Formen der Kontrolle und Überwachung von geradezu orwellschen Dimensionen geschaffen hat, die allen in westlichen Demokratien vorgehaltenen Freiheitsversprechen spotten. Um den ökonomisierten Hochleistungssport und die daran gekoppelte Wettindustrie in der vermeintlich integeren Form überhaupt möglich zu machen, bedarf es so gewaltiger Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsapparate mit entsprechenden Einschränkungen bürgerlicher Grundfreiheiten (siehe u.a. das Antidopingregime und der bald Fahrt aufnehmende Anti-Wettbetrugs-Krieg), daß man sich über die Bereitschaft vieler Vertreter (auch Kritiker) des Spitzensports nur wundern kann, den Entmündigungs- und Repressionspraxen des Spitzensports den moralisch-ethischen Geleitschutz zu geben. Was auch immer man dem Hochleistungssport an identitätsfördernden, sinn- und wertstiftenden Segnungen zuordnen mag - dort, wo der Bär im internationalen Sportzirkus tanzt, wird man die Verwirklichung der hehren Sportideale am allerwenigsten antreffen. Daß Spitzenkräfte des Sports über eine relativ kurze Zeitspanne halbwegs verletzungsfrei dem hohen Anpassungs- und Leistungsdruck scheinbar standzuhalten vermögen, bedeutet aus Sicht der sportpolitischen Funktionseliten nur, daß im Überbietungswettbewerb noch nicht alle Potentiale und Fristen ausgeschöpft sind.

Dies gilt auch für den Bereich des Nachwuchsleistungssportes. Vor dem Hintergrund, daß "sich die Zahl der von deutschen Athleten errungenen Medaillen bei olympischen Sommerspielen in den vergangenen 15 Jahren halbiert" habe, war die CDU-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen bereits 2010 mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen, flächendeckend sogenannte sportmotorische Tests für Kinder in den Grundschulen (Klasse 2 und 4) "zur Erfassung aller sportlichen Talente" einzuführen, um international konkurrenzfähigen Spitzensport sicherzustellen. "Besonders herausragende Sportlerinnen und Sportler müssen auf ihrem Weg an die Spitze individuell gefördert werden. Das setzt eine breit angelegte Früherkennung voraus, damit uns Sporttalente nicht durch die Lappen gehen", betonte der CDU-Sportexperte Holger Müller. [3]

Ein neuartiges Testverfahren für Grundschulkinder plant nun eben auch die Strategie-Kommission des deutschen Spitzensports. Nach Auskunft der FAZ soll Hamburgs ehrgeiziger Sportsenator Michael Neumann (SPD), der die Hansestadt zur Olympiastadt machen will und aus Werbe- und Imagegründen ebenfalls stark daran interessiert sein dürfte, daß Deutschland sportliche Aushängeschilder mit Edelmetallbeschlag produziert, bereits angekündigt haben, Grundschulkindern mit Tests sportliche Perspektiven zu eröffnen. "Diese gingen weit über eine spitzensportliche Eignungsprüfung hinaus", schreibt die FAZ.

Was das genau bedeutet, ist noch unklar, schließlich müssen der DOSB, die Sportfachverbände und das Bundesinnenministerium, die definitiv an den umstrittenen Zielvereinbarungen (neuerdings wird vom "Medaillenkorridor" gesprochen) festhalten wollen, aufpassen, nicht ins gesellschaftspolitisch prekäre Fahrwasser des DDR-Sportsystems zu geraten. Dieses hatte schon in unteren Schulklassen systematisch damit begonnen, Mädchen und Jungen unter spitzensportlichen Eignungsaspekten zu vermessen und zu kategorisieren.

Was die "Perspektiven" von Grundschulkindern betrifft, deren weiche, biegsame und noch lebensunerfahrene Körper behutsam in das Stahlbad des Hochleistungsgewerbes getaucht werden sollen, so ist darauf zu verweisen, daß ihre Aufnahme in eine der Eliteschulen des Sports vor allem bedeutet, daß sie beides stemmen müssen: Schule und Nachwuchsspitzensport. Das bedeutet für erfolgversprechende Hochtalente nicht nur eine 50-Stunden-Woche, die sich auf bis zu 90 Stunden ausdehnen kann [4], sondern ab einer bestimmten Leistungsstufe auch die bedingungslose Aufopferung für den Sport. Denn, so bestätigen es Topathleten, Trainer oder Funktionäre gleichermaßen: Das internationale Business ist hart, sehr hart.

Auch die Spitzensportfunktionäre, deren Sozialprestige und Förderbudgets sich nicht unwesentlich an den Medaillenausbeuten ihrer Vorzeigesportler bemessen, fürchten den Abstieg in die Mittelmäßigkeit. Um dem drohenden Leistungsverlust, der ab den Olympischen Sommerspielen 2016 prognostiziert wird, entgegenzuwirken, fordert die "Strategiekommission des deutschen Spitzensports", die auf die Initiative von hauptamtlichen Mitarbeitern aus Winter- wie Sommersportverbänden zurückgehen soll, signifikante Aufwüchse in allen Bereichen. Dazu gehören eine höhere Bezahlung von Trainern, verbesserte sportwissenschaftliche Betreuung, mehr Personal für die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgerät in Berlin und das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig sowie mehr Trainingsstätten (u.a. mit Befreiung vom Erneuerbare-Energien-Gesetz).

Wie die FAZ berichtet, ist für das neue Sportministerium die Gründung einer Gesellschaft in der Rechtsform einer "gemeinnützigen GmbH" angedacht, in der der DOSB Gesellschafter und im Aufsichtsrat neben dem Sportdachverband "Staat, Wirtschaft und Verbände" vertreten sein sollen. Das läßt tief blicken. Offensichtlich soll der organisierte Spitzensport strukturell vollständig den Prämissen ökonomischer Effizienzsteigerung und vermeintlich "gemeinnütziger" Gewinnorientierung unterworfen werden. Es darf bezweifelt werden, daß Grundschulkindern perspektivisch eröffnet wird, was genau die frühzeitige und zielgerichtete Ausbeutung ihrer Körper für staatliche Prestigegewinne bedeutet.

Im Dezember wird auf der Mitgliederversammlung des DOSB über die Pläne der Strategiegruppe abgestimmt. Bis dahin sollen die Vorschläge diskutiert werden, berichtet die FAZ. Das Ausbleiben nahezu jedweden kritischen Echos in der Öffentlichkeit läßt Schlimmstes befürchten.

Fußnoten:

[1] "Ein Sportministerium im Kanzleramt?" Von Anno Hecker, Frankfurt, und Michael Reinsch, Berlin. 29.05.2013
http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/spitzensportfoerderung-ein-sportministerium-im-kanzleramt-12198582.html

[2] "Die wahren Fehler der DDR". Von Friedrich Wolff. Ossietzky Nr. 11, 26.05.2012.
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/ossie707.html

[3] http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/Webmaster/GB_II/II.2/Suche/Landtag_Intern/Suchergebnisse_Landtag_Intern.jsp?w=native%28%27+%28+ID+ph+like+%27%27LI100117%27%27++%29+%27%29&order=native%28%27ID%281%29%2FDescend+%27%29&view=detail

[4] Emrich, E., Fröhlich, M., Klein, M. & Pietsch, W. (2007). Eliteschulen des Sports - Erste Ergebnisse einer Pilotstudie. Zeitschrift für Evaluation, Heft 2/2007, S. 228.
http://www.swi-uni-saarland.de/files/file/Eliteschulen%20des%20Sports.pdf

24. Juni 2013