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KOMMENTAR/202: Die Fessel der fünf Ringe (SB)


Menschenrechte - hohle Argumente für einen brutalen olympischen Geist



Die Glaubwürdigkeits- und Legitimationskrisen, von denen der organisierte Leistungs- und Wettkampfsport heimgesucht wird, sind allgegenwärtig und werden auch nicht dadurch entschärft, daß die Sachwalter des marktorientierten Sports den Wertekatalog der Olympischen Bewegung, dargestellt in der "Olympischen Charta", rauf und runter rezitieren. Wer die fassadenhafte, schön anzusehende, aber durch und durch morsche Brücke des olympischen Werteuniversalismus betritt, wird unweigerlich einbrechen.

So bleibt auch der Versuch von DOSB-Präsident Alfons Hörmann, "Athleten, Offizielle, Trainer und Ärzte" wie auch "Journalisten, Wissenschaftler und Führungspersönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur" auf die Olympische Charta einzuschwören, ein zwar nobles, aber schon unter der Last der eigenen Ansprüche schwer in die Knie gehendes Unterfangen. Der Allgäuer Unternehmer hatte im Vorfeld der Winterspiele in Sotschi der aktualisierten Fassung der Olympischen Charta, die "die rechtliche Grundlage und den ideellen Orientierungsrahmen für die Internationalen Sportverbände, die Nationalen Olympischen Komitees und das Internationale Olympische Komitee selbst" darstelle, das Wortgeleit gegeben und "die nachlassende Akzeptanz Olympischer Spiele und des internationalen Spitzensports in Teilen unserer Bevölkerung" damit begründet, daß sie "in vielen Fällen auf mangelnder Kenntnis der olympischen Prinzipien und Verfahren" beruhe. Vollmundig verwies er auf die weitgehend unverändert gebliebenen "fundamentalen Prinzipien" in der Olympischen Charta "mit der Darstellung der olympischen Werte wie Fairness und Chancengleichheit, Respekt und Toleranz, aus denen sich unsere Verpflichtung zum kompromisslosen Kampf gegen Doping und alle anderen Formen der Manipulation sowie gegen Diskriminierung in jeder Form ergibt". [1]

Wer so laut brüllt, muß in Anbetracht der realen Fehlentwicklungen, Verwerfungen und inneren Widersprüche des elitären Leistungssports zum Kätzchen werden, das sich nurmehr mauzend um den heißen Brei längst vergorener Sportideologien bewegt. Die oft zitierte Wischiwaschi-Formel der Spitzenfunktionäre, der olympische Sport sei politisch neutral, aber nicht apolitisch - unlängst wieder vom deutschen IOC-Präsidenten und Wirtschaftsanwalt Thomas Bach vorgetragen - bleibt so lange eine Phrase der Beschwichtigung, wie Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Zwangsumsiedelungen, Umweltschäden, Demonstrationseinschränkungen, Diskriminierung von Homosexuellen, Arbeiterausbeutung, paternalistische Leistungskontrolle oder sicherheitsstaatliche Aufrüstung allenfalls als Kollateralwirkungen von Megaevents verstanden werden und nicht als integrale Bestandteile einer sich bis in Körperlichkeit und Bewegungsverhalten fortsetzenden Herrschaftssicherung. Bei Weltsportereignissen handelt es sich eben nicht bloß um "sachlich begrenzte partikulare Projekte" ähnlich Ernährungsprogrammen, Flüchtlingshilfen oder Verwundetenhilfen auf Schlachtfeldern [2], wie so mancher Alt- oder Ex-Linker weiszumachen versucht, der seinen gutdotierten Platz im Wissenschaftsbetrieb gefunden hat und altersgenügsam auf die "hitzigen Weltsportverbesser/-innen" aus der 68er-Generation blickt, die auf einen radikalen Bruch mit dem bürgerlichen Sport-Establishment und seines staatssozialistischen, vielfach ebenso kleinbürgerlichen Gegenstücks hinauswollten. Der Weltsport, den die Olympiers mit heuchlerischer Moral und wachsender Repression verteidigen, ist im Großen wie im Kleinen so sehr ein Ausdruck industrieller Leistungsnormierungen und Produktionsweisen, daß er sich gleichsam tief in die auf maschinenhafte Funktionalität und marktkonforme Verwertbarkeit getrimmten Körper der Athleten eingegraben hat. Wie sich junge, gespannte Körper bis zum Brechen biegen und als fleischgewordene Aufziehpuppen über Pisten, Parcours, Schanzen und Steilwände jagen lassen - je waghalsiger und spektakulärer, desto gefälliger -, davon legten dieser Tage die Winterspiele in Sotschi einmal mehr Zeugnis ab.

Ziel des Olympismus sei es, so heißt es in der Olympischen Charta, "den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist." Das IOC hat sogar die Ausübung von Sport als "Menschenrecht" proklamiert [1], obwohl davon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte keine Rede ist.

Um den philantropischen Schein der Olympischen Spiele zu wahren, liefern sich Sportfunktionäre und Medienvertreter sowie Sport- und Menschenrechtsidealisten alleventlich Scharmützel der Selbst- und Gegenrechtfertigung. Vor dem Hintergrund der pünktlich zu Sportgroßereignissen aufkochenden Menschenrechtsdebatten und des politisch zweckdienlichen Rußland-Bashings klagte beispielsweise der Sportwissenschaftler und Leichtathletikfunktionär Prof. Helmut Digel die suggestive, von Auslassungen geprägte und an fundierten Recherchen mangelnde Olympiaberichterstattung rund um die Spiele in Sotschi an: "Die Berichterstattung insbesondere die Sportberichterstattung wiederum wird von einem normativen Phänomen geprägt, das schon seit längerer Zeit zu beobachten ist. Die Leitmedien der deutschen Berichterstattung (dpa, FAZ, SZ, etc.) geben die Themen und die Richtung der Berichterstattung vor und alle übrigen Medien folgen dann dem Leithammel, so dass man von einer ungewollten Gleichschaltung der Massenmedien zu sprechen hat." Der emeritierte Soziologieprofessor wirft den Medien, aber auch dem "Politiksystem" vor, daß sich in Sotschi wiederhole, was auch kurz vor den Spielen in China 2008 zu beobachten war: "Unter dem Aspekt des Spektakels wird Kritik, für die man sich beinahe sieben Jahre lang nicht interessierte, nunmehr resonanzfähig." Vieles von dem, was heute an Kritik gegenüber den Olympischen Spielen in Sotschi vorgetragen werde, könne nur als Heuchelei, teilweise aber auch als Dummheit bezeichnet werden. Die Einhaltung aller Menschenrechte zum alleinigen Vergabekriterium für Olympische Spiele zu machen, sei nach Meinung Digels "weder realistisch noch wünschenswert. Die Analysen von Amnesty International sprechen diesbezüglich eine eindeutige Sprache. Selbst einige westliche Demokratien müssten dabei in Frage gestellt werden. Amnesty International dokumentiert für das Jahr 2013 in 112 Staaten Folter und Misshandlungen und in 101 Staaten Einschränkungen der Menschenrechte". [3]

Wenn der Spitzensportlobbyist, der im übrigen die umstrittenen Olympischen Jugendspiele gutheißt und den Kampf gegen Doping für gescheitert erklärt, sich aber im Chor mit den von ihm kritisierten Leithammelmedien für die Kriminalisierung von Dopingsündern ausspricht, nur die ganze Rechnung aufmachen würde. Doch die ambivalente, sich stets Hintertürchen offenhaltende Alibikritik scheint ein Wesensmerkmal der Sportwissenschaft zu sein. Tatsächlich könnte kein Staat der Welt Megaevents veranstalten, denn zu den Ausblendungen von Amnesty wie auch vieler PolitikerInnen etwa von Bündnis 90/Die Grünen, die eine stärkere Beachtung der Menschenrechtslage bei der Vergabe von Sportgroßereignissen fordern, gehört auch die indirekte oder verdeckte Beteiligung von westlichen Demokratien an Folterpraktiken oder Kriegsverbrechen, etwa im Rahmen nachrichtendienstlicher oder militärisch-logistischer Unterstützungsleistungen.

Statt immer wieder zu versuchen, dem Hochleistungssport neue Feigenblätter der Legitimität zu verpassen, und sei es durch NGOs oder Umweltorganisationen, die dann (notgedrungen mit zweierlei Menschenrechtsmaß) die Vergabekriterien von Spielen und Meisterschaften überwachen würden, wäre ein radikaler Bruch mit dem elitären Sportfördersystem nötig, das Unsummen an Geldern in die Leistungsproduktion, Disziplinierung und Repression steckt, um das Rad am Laufen zu halten.

Würde sich Helmut Digel als Vorkämpfer einer Graswurzelbewegung im Sport zu profilieren suchen und nicht als Verteidiger des modernen Hochleistungssports, dessen Schattenseiten er in wissenschaftlichen Fensterreden so eloquent beklagt, hätte er weit mehr zu tun als festzustellen, "dass sich die Verantwortlichen des Sports in einer Defensive befinden, die sie selbst zu verantworten haben. Sie haben zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, weil sie in ihrem politischen Handeln immer nur passiv bzw. reaktiv sind". Seine Lösung, "proaktives Handeln", erweist sich in Anbetracht seiner Wunschadresse an die deutsche Mannschaftsführung in Sotschi, "dass sie schlagende Argumente findet, die die Teilnahme unserer Olympiamannschaft rechtfertigt und dass sie sich dabei voll und ganz vor und hinter die Athleten stellt, die sich mit den besten der Welt messen möchten", als die Fortsetzung von Passivität und Reaktivität mit anderen Worten. Wer suchen gehen muß, um etwas zu finden, was die hehre Olympische Charta auch nicht mehr zu leisten in der Lage ist, hat natürlich ein Problem. Zumal wenn die von Juristen entworfene Charta, was viele gar nicht wissen, vor allem die Geschäftsbedingungen wie Besitz-, Werbe- oder Exklusivrechte zugunsten des IOC und seiner Mitglieder und Partner regelt. Viele Kritiker bezeichnen das Regel- und Pflichtenkonvolut schlichtweg als Strangulationsinstrument. Da bedarf es schon vieler Appelle an olympische Werte wie Fairneß, Chancengleichheit, Respekt und Toleranz, um davon abzulenken, daß der Olympische Geist alles andere als friedfertig ist. Oder wie ist es zu verstehen, daß Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff kürzlich ankündigte, falls nötig würden Truppen mobilisiert, um die Sicherheit der WM-Endrunde zu gewährleisten? Brasilien ist Austragungsland der Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympischen Spiele 2016 und will mit allen Mitteln polizeilicher, militärischer und geheimdienstlicher Unterdrückung dafür sorgen, daß soziale Proteste nicht den "Frieden" der Spiele gefährden.

Fußnoten:

[1] http://www.dosb.de/fileadmin/Bilder_allgemein/Veranstaltungen/Sotschi_2014/Olympische_Charta_2014.pdf. 09.09.2013.

[2] "Sportpolitik und Olympia" von Dr. Sven Güldenpfennig. 07.08.2008
http://www.bpb.de/internationales/asien/china/44328/sportpolitik-und-olympia?p=all.

[3] http://www.dosb.de/de/olympia/olympische-spiele/winterspiele/sotschi-2014/news/detail/news/sotschi_2014_gegen_politische_heuchelei. 22.01.2014.

25. Februar 2014