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KOMMENTAR/246: Eiertanz ... (SB)


Impeachment gegen Rousseff: Ausverkauf Brasiliens an die Rechte fand schon früher statt


Brasilien befindet sich knapp drei Monate vor den Olympischen und Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro in einer schweren ökonomischen und politischen Krise, die sich noch zugespitzt hat, nachdem es rechtsgerichteten Oppositionskräften gelang, Präsidentin Dilma Rousseff von der regierenden Arbeiterpartei PT im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens kaltzustellen. Die Rede ist von einem "Putsch" oder "Staatsstreich", von "politischem Revanchismus" und der Entmachtung eines demokratischen Systems, das allerdings rund dreißig Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur immer noch von einer reichen Herrschaftsschicht dominiert wird, die ihre Besitzstände mit harter Hand zu verteidigen und einzufordern versteht. Bezeichnenderweise wurde und wird die Attacke gegen Rousseff, der geschönte Haushaltszahlen vorgeworfen werden, von rechten politischen Funktionsträgern geritten, die selbst unter schweren Korruptionsanschuldigungen stehen. Sozialdemokratische bis linksliberale Lager im In- und Ausland verurteilten die Impeachment-Kampagne als durchsichtiges Manöver der konservativen bis ultrarechten Opposition, ein demokratisches Instrument wie das Amtsenthebungsverfahren mißbräuchlich anzuwenden. SPD-nahe Kreise sprechen von einer inszenierten Spektakularisierung der Korruptionsbekämpfung in Brasilien durch die Medien, auch die SPD-Bundestagsfraktion sieht die PT-Führung einer Diffamierungskampagne durch weite Teile der brasilianischen Medien ausgesetzt.

Nach den absehbaren Enttäuschungen, die die neoliberale Wirtschafts- und Austeritätspolitik der Regierung und die anhaltende Rezession hinterlassen haben, wird der Unmut der Bevölkerung nun gegen die sozialdemokratische Arbeiterpartei gelenkt. Die "neue prekäre Mittelschicht" in Brasilien, die nicht zuletzt durch die Konjunktur- und Sozialprogramme der Arbeiterpartei an Größe und Konsumkraft gewonnen hatte, und die reiche (in der Regel weiße) Oberschicht gehören zur bevorzugten Zielgruppe der konservativen Kräfte, denen die Sparpolitik der PT und unternehmerfreundliche Maßnahmen noch nicht weit genug gehen.

Der renommierte Journalist, Blogger und Rechtsanwalt Glenn Greenwald, der vor wenigen Jahren die streng geheimen NSA-Dokumente aus dem Archiv von ­Edward Snowden veröffentlicht hatte, wies darauf hin, daß ein Großteil westlicher Aufmerksamkeit nur Brasiliens einheitlich Oligarchie-dominierte und undemokratische Medienlandschaft widerspiegele. "In ihren Berichten aus Brasilien betonen westliche Medien die immer stärker werdenden Straßenproteste mit Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff. Sie schildern diese Proteste idealisiert und Comic-artig voller Bewunderung als inspirierende Volkserhebung gegen ein korruptes Regime", schreiben Greenwald und Mitautoren in einem lesenswerten Beitrag im "The Intercept", der auch ins Deutsche übersetzt wurde, und fragen: "Wer steht hinter den Protesten, wie repräsentativ sind die Protestierenden für die brasilianische Bevölkerung, und was sind ihre Absichten?" [1]

Massenproteste hatte es auch entlang der sportlichen Megaevents der letzten Jahre gegeben. Sie richteten sich sowohl gegen die Milliardenkosten der Großereignisse und ihre katastrophalen Auswirkungen auf große Teile der Bevölkerung als auch gegen Korruption und soziale Mißstände. Die Demonstrationen wurden von der Polizei zum Teil brutal niedergeschlagen - bestärkt von Brasiliens Zeitungs-, Radio-, TV-, Musik-, Internet- und Werbegiganten "O Globo", der immensen Einfluß auf sämtliche Bereiche des öffentlichen, politischen und privaten Lebens ausübt. Der Medien-Konzern hatte die brutale Militärdiktatur ebenso unterstützt, wie er die gegenwärtige Impeachment-Kampagne nach Kräften befeuert. Der Sport spielt für "O Globo" nicht nur in kommerzieller Hinsicht eine zentrale Rolle, sondern er stellt auch das klassische Mittel dar, das Volk mit "Brot-und-Spiele"-Programmen ruhig zu halten und für die zeitgemäßen Herrschaftsformen fit zu machen. In dieser meist ungesagten Intention unterscheidet sich das Globo-Imperium in nichts von anderen großen Medien- oder Spieleunternehmen auf der Welt. Oder glaubt jemand, daß es in Deutschland anders wäre?

Daß die Bewerbung Hamburgs für die Olympischen Spiele 2024 eine Abfuhr erhielt, lag weder an den hiesigen Großmedien noch an den konservativen und sozialdemokratischen PolitikerInnen, die sich vollkommen eins waren, daß die Megaspiele "große Chancen" (für die jeweiligen Kapitalfraktionen) bieten. In Deutschland wurde die NOlympia-Bewegung vom Medienmainstream genauso geschnitten, wie dies in Brasilien beim "World Cup and Olympics Popular Committee of Rio de Janeiro" der Fall ist - ein Basiskomitee, das seit 2010 Öffentlichkeitsarbeit betreibt, Demonstrationen organisiert und sich um den Aufbau einer kritischen Sichtweise auf sportliche Großereignisse bemüht. Letzterer Punkt ist entscheidend, denn auch im linken Spektrum herrschen weite Wahrnehmungsschatten vor, was die Körpertechnologie des Sports und seine industrielle Vernutzung betrifft, deren destruktive Aspekte keineswegs nur auf den Hochleistungssport beschränkt sind. Aber schon hier scheiden sich die Geister der Kritik, denn während Sportpolitik und -medien einen "sauberen Spitzensport" mit expansiven Kontrollregimen und Polizeimaßnahmen befürworten, lehnen entschiedene Kritiker derartige Forderungen als kriminalpolitische Verlängerung der Traumfabrik im Sport ab.

Greenwald und andere politische Kommentatoren beschränken sich indessen in ihrer berechtigten Kritik an der Impeachment-Kampagne zu sehr auf das Offenkundige: "Brasiliens Oligarchen wollen eine links-moderate Regierung, die als Vertreter der ärmeren Bevölkerungsteile viermal hintereinander gewählt wurde, von der Macht entfernen, und die Kontrolle über die siebtgrößte Wirtschaft der Welt buchstäblich Goldman Sachs und Vertretern der Bankenlobby überlassen." [2]

Tatsächlich hat der Ausverkauf längst stattgefunden, was am Beispiel des marktkonformen Sports nur zu offensichtlich wird. Die Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft 2014 und die Olym­pi­schen Spie­le 2016 in Bra­si­li­en ge­hö­ren zu den Groß­pro­jek­ten, die der frü­he­re Prä­si­dent Luiz In­acio Lula da Silva mit überschwenglichen Worten auf den Weg ge­bracht hatte, um sein Land in die Liga der "Global Player" zu führen. Für den teuren Einkauf der Spiele wurde er von Globo und Co. frenetisch gefeiert. Der sich links gerierende ehemalige Gewerkschaftsführer war nicht nur bereit, politische Zweckbündnisse mit den traditionellen Rechten einzugehen, die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Schuldentilgung zu erfüllen und einen wirt­schafts­li­be­ra­len Kurs mit freiem Zugang ausländischer Kapitale ein­zu­schla­gen, sondern auch die Tycoone der brasilianischen Wirtschaft zu bedienen. Die wirklichen Gewinner der Megaevents sind die großen Unternehmerfamilien des Landes sowie FIFA und IOC, welche Brasilien unglaubliche Unterwerfungsleistungen abverlangten.

Schon frühzeitig hatte Lula da Silva signalisiert, daß er die Spiele nutzen wolle, die "anhaltende Gewalt" in den Favelas anzupacken und "das schmutzige Image Rios" zu säubern. Eigentlicher Adressat der Botschaft war das internationale Kapital, das stabile Verhältnisse im Geschäftsverkehr und bei der Befriedung potentiell explosiven sozialen Elends verlangt. Riesige Summen von Geldern sollten in den Repressionsapparat gesteckt werden, um die "Kriminalitäts- und Drogenbekämpfung" zu forcieren - eine Sprachregelung, die sich inzwischen als Krieg gegen die eigene Armutsbevölkerung entpuppt hat. Die Befriedungspolizei (UPP), mit der die für die Sportevents relevanten Favelas in Inseln der Sicherheit und Ordnung verwandelt werden sollten, hat sich häufig als ebenso brutal und tödlich für die BewohnerInnen erwiesen wie die Armutskriminellen. Teilweise wurden die Favelas auch von Soldaten besetzt, ausgebildet für den Kriegseinsatz und losgelassen auf die Zivilbevölkerung. Weder Lula noch Rousseff haben es unterdessen geschafft, die berüchtigte Militärpolizei, die einer eigenen Gerichtsbarkeit (des Militärs) unterstellt ist und praktisch immer straffrei bleibt, abzuschaffen und die Polizeien unter die Kontrolle der Bürgergesellschaft zu bringen.

Standen bei den Sommerspielen in London 17.000 Soldaten bereit, sollen in Rio doppelt so viele Militärs zum Einsatz kommen - nebst 47.000 Sicherheitskräften. Erst kürzlich erließ Dilma Rousseff zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit ein scharfes Anti-Terror-Gesetz, "das häufig als Vorwand dient, um Protestkundgebungen zu verbieten oder Protestierende zu kriminalisieren", wie Amnesty International (AI) 100 Tage vor den Spielen monierte. [3]

Schon seit 2013, als erste Massenproteste aufflammten, gab es auf Landes- wie Bundesebene Bestrebungen, die Gesetze so zu verschärfen, daß Demonstrationen leichter niedergedrückt werden konnten. Nach dem neuen Anti-Terror-Gesetz werden Akte der Sabotage, Gewalt oder geplanter Aktionen "aufgrund von Fremdenhass, Diskriminierung oder Vorurteilen wegen Ethnie, Hautfarbe oder Religion, wenn sozialer Terror provoziert wird, der Personen, Eigentum oder die öffentliche Ruhe und Sicherheit gefährdet", als Terrorismus definiert. Der Vorentwurf des Gesetzes war noch schlimmer, er charakterisierte "politischen Extremismus" als Terrorismus und sollte sogar soziale Bewegungen mit einbeziehen, wie das Internetportal Amerika21 berichtete. Dem Druck linker Parteien ist es zu verdanken, daß nicht alle Paragraphen durchkamen. Die immer noch haarsträubenden Erträge des neuen Gesetzes wurden indessen von der Arbeiterpartei verteidigt. [4]

Schon die Verursachung von "Massenpanik" reicht jetzt als Grund für eine strafrechtliche Verfolgung aus. Das einst liberale Demonstrationsrecht in Brasilien wurde anläßlich der Sportevents Zug um Zug ausgehöhlt. So liefert etwa das neue Vermummungsverbot den Polizeien und Spezialkommandos weitere Vorwände und Handhaben, gegen Demonstrierende vorzugehen, die berechtigterweise Angst haben müssen, in die Fänge der Ordnungskräfte zu geraten.

"Den Bewohnerinnen und Bewohnern von Rio wurde als Vermächtnis der Olympischen Spiele eine sichere Stadt versprochen. Stattdessen erleben sie einen Anstieg der Polizeigewalt - bis hin zu Tötungen", so Atila Roque, Direktor von Amnesty International Brasilien. Mindestens 307 Menschen wurden 2015 alleine in Rio de Janeiro von der Polizei getötet, das heißt, einer von fünf Toten ging auf ihr Konto. Demonstrierende würden mittlerweile wie Staatsfeinde behandelt, berichtete AI [5].

Anläßlich der Spiele sind Vertreibungen und soziale Säuberungen in Rio an der Tagesordnung. Zehntausende von Familien sind umgesiedelt worden, vielfach unter Zwang und ohne angemessene Entschädigung. All das trägt nicht nur die Handschrift der reaktionären Kräfte in Brasilien, sondern wurde von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei mitverursacht. Wenn sich jetzt viele Kommentatoren entsetzt zeigen über den rechten Rollback in Brasilien, wo waren dann ihre Rufe, als die Regierung ihre neoliberalen Folterinstrumente auspackte, eingehüllt in die Zuckerwatte von Sport und Spielen?

Fußnoten:

[1] https://theintercept.com/2016/03/18/brazil-is-engulfed-by-ruling-class-corruption-and-a-dangerous-subversion-of-democracy/. 18.03.2016.
Übersetzt von:
https://amerika21.de/analyse/149295/the-intercept-brasilien. 06.04.2016.

[2] https://theintercept.com/2016/04/22/to-see-the-real-story-in-brazil-look-at-who-is-being-installed-as-president-and-finance-chiefs/. 22.04.2016.
Übersetzt von:
http://www.hintergrund.de/201604283934/politik/welt/was-in-brasilien-wirklich-geschieht.html

[3] https://www.amnesty.at/de/polizeigewalt-rio/. 27.04.2016.

[4] https://amerika21.de/2016/02/145636/antiterrorgesetz-brasilien. 27.02.2016.

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/amnesty/basam047.html. 27.04.2016.

13. Mai 2016


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