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KOMMENTAR/247: Not und Spiele ... (SB)


Fußball-EM in Frankreich: Befriedung sozialer Widersprüche nach deutschem Vorbild?


"Mehr als 90000 Polizisten, Rettungskräfte und private Sicherheitsleute sollen die Fußball-EM in Frankreich vor Terror und Hooligans schützen", vermeldete die Deutsche Presse-Agentur (dpa) kurz vor Beginn der Europameisterschaft in Frankreich (10. Juni bis 10. Juli). [1]

Unverkennbar: Nach den Anschlägen in Paris am 13. November hat der "Terror" den "Hooliganismus" auf den zweiten Platz verdrängt. Zwar wird der pyroaffine oder gewaltgeneigte Fußball-Rowdy immer noch als große Gefahr für die Allgemeinheit hingestellt, mitunter gar zum Verfassungsfeind stilisiert, der jede Menge Sonderpolizeimaßnahmen zu seiner Bekämpfung rechtfertige, doch der "islamische Terrorist" ist viel besser geeignet, Demonstrations- oder Streikrechte einzuschränken, Sicherheitsgesetze zu verschärfen und den Ausnahmezustand zu legitimieren. Am 19. Mai stimmte die französische Nationalversammlung erneut für eine Verlängerung des Ausnahmezustands, den die regierende Sozialistische Partei (PS) nach den Pariser Anschlägen verhängt hatte. Als Gründe für die Verlängerung um zwei weitere Monate wurde die Sicherheit der Fußball-EM und die Tour de France genannt - nicht etwa das neue "El-Khomri"-Arbeitsmarktgesetz, das die PS gegen den vehementen Widerstand großer Teile der Bevölkerung durchzusetzen gedenkt. Nach dem Vorbild der deutschen "Agenda 2010" beinhaltet die Reform zahlreiche Flexibilisierungs- und Austeritätsmaßnahmen zu Gunsten der Unternehmen. In vielen Städten Frankreichs war es in den letzten Wochen zu Streik- und Protestaktionen gekommen, welche von der zum Teil schwer bewaffneten Bereitschaftspolizei massiv bekämpft wurden. Gewerkschaftlich organisierte Streikposten wurden ebenso aufgelöst wie Blockaden von Produktionsstätten und Energielieferanten. Weit über tausend Demonstranten sind nach dem Aufflammen der Proteste festgenommen worden, in mehreren Dutzend Fällen kam es zu Gerichtsverfahren. Während etwa die steigende Polizeigewalt ein vieldiskutiertes Thema in Frankreich ist, fieberte die internationale Berichterstattung der EM entgegen und betrieb Favoritenroulette.

Im ambitionierten Sportjournalismus wird zwar die Lebenslüge des Sports, nämlicher und Politik seien auseinanderzuhalten oder dürften nicht vermischt werden, zunehmend in Frage gestellt, doch nur so weit, wie es der Verdachts-, Bezichtigungs- und Prangerkultur im staatstragenden Hochleistungssport dienlich ist und nicht die Grenzen sich an Doping, Korruption und Mißbrauch abarbeitender Kritik übersteigt. So werden in den Großmedien nur selten die offiziellen Anlässe oder Vorwände für die sicherheitsstaatliche Aufrüstung bei Sportgroßereignissen hinterfragt - schon gar nicht die moderne Eventkultur, die in der Regel darauf abzielt, die Massen mit Ereignis- und Spielekonsum zu befrieden und von den parallel laufenden Sozial- und Arbeitskämpfen abzulenken.

In der kritischen Politikwissenschaft wird inzwischen kaum noch angezweifelt, daß die märchenhafte, von Politik und Wirtschaft gekaufte Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland dazu diente, den Menschen den "fröhlichen Patriotismus" einzuimpfen. Statt gegen die sozialfeindlichen Auswirkungen der Arbeitsmarktreform "Agenda 2010", wie sie zwischen 2003 und 2005 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen umgesetzt wurde, zu rebellieren, sollten die Bürgerinnen und Bürger lieber sportpatriotische Feiergemeinschaften bilden und Deutschland-Fahnen schwenken. Die Public-Viewing-Konzepte, die 2006 erstmals in großem Maßstab auf Betreiben von FIFA und Sportpolitik durchexerziert wurden, sind aufgegangen. Während in den Party-Zonen und auf Fanmeilen die Menschen das Sommermärchen echoten, wurde die Berliner Republik Zug um Zug in ein Land mit den meisten Niedriglohnbeschäftigten in der EU umgewandelt. Gleichzeitig stieg die Kinder- und Altersarmut, während die Reichen immer reicher wurden. Nicht zu vergessen die Hartz-IV-Gesetze, mit denen die Fürsorgeberechtigten einem schikanösen Sanktionssystem unterworfen werden konnten.

Ähnliche Dumpingmaßnahmen sozialdemokratischen Schnittmusters stehen nun auch in Frankreich an, nur unter verschärften Bedingungen. Anders als in Deutschland wehren sich die betroffenen Menschen sehr viel heftiger und entschiedener gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung, wodurch Eskalationen zwischen Demonstranten oder Streikenden und der mit Sondervollmachten reich ausgestatteten Staatsmacht geradezu vorprogrammiert sind. Vieles erinnert an Brasilien, wo die sozialdemokratische Arbeiterpartei (PT) in der Verantwortung dafür steht, daß die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die kommenden Sommerspiele 2016 zum Anlaß genommen wurden, die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit voranzutreiben: Sozial explosive Elendsquartiere wurden militärpolizeilich befriedet und Gesetze so verschärft, daß sie als Vorwand zur Kriminalisierung von friedlich Protestierenden und AktivistInnen dienen können. Amnesty International kritisiert in einer aktuellen Medienmitteilung nicht nur das neue Anti-Terror-Gesetz, sondern auch das im Mai verabschiedete "allgemeine Gesetz der Olympischen Spiele". "Dieses Gesetz schränkt das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit an Orten ein, an denen Wettkämpfe stattfinden. Das Gesetz ist völkerrechtswidrig und setzt dem Einsatz von exzessiver und willkürlicher Polizeigewalt bei der Überwachung von Kundgebungen keine Grenzen." [2]

In Frankreich, das sich an gewaltsamen "Regime Changes", Waffenexporten und imperialistischen Kriegen in aller Welt beteiligt und sich in gespielter Empörung darüber beklagt, daß der Krieg nun ins eigene Land zurückkommt, wird anläßlich der EM-Endrunde alles mobilisiert, was der präventive Sicherheits- und Überwachungsstaat an Schutzmaßnahmen vor Anschlägen zu bieten hat: Totale Videoüberwachung, kilometerlange Zäune und Sicherheitssperren, gestaffelte Einlaßkontrollen in Stadien und Fanzonen, Taschenverbote, Körperscanner, Leibesvisitationen, Beschlagnahmen und Platzverweise auf Verdacht, Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag, Spürhunde, Drohnen über den Stadien und eine ungeheure Ausweitung der elektronischen Überwachung des Internets, sozialer Medien und allgemeiner Kommunikation. Neuestes Sicherheits-Gadget: Eine "Terror-Alarm-App" für Smartphones, mit der die Regierung vor möglichen terroristischen Aktionen warnen will.

Während sich Medienvertreter nach Kräften bemühen, Sicherheitslücken bei den Überwachungsschranken aufzudecken, damit die Polizei noch schärfere Kontrollen einführen kann, erklärt das allgemeine Postulat, "hundertprozentige Sicherheit wird es niemals geben", alle "gutgemeinten" Maßnahmen für im Prinzip unzureichend, was weiteren Sicherheitsbedarf legitimiert, die Verantwortlichen aber aus der Schußline der Verantwortung bringt, falls doch etwas schief läuft. Politischer Alarmismus und psychologisierende Erklärungsmuster, die am Bellizismus der "Grande Nation" nicht rütteln, ergeben nicht nur ein narrensicheres Perpetuum Mobile für die weitere Einschränkung von bürgerlichen Grundfreiheiten, sondern sorgen auch für volle Auftragsbücher bei polizeinaher Wissenschaft, Forschung und Sicherheitsindustrie.

Unvermeidlich daher die warnende Stimme des ehemaligen deutschen WM-Sicherheitschefs Helmut Spahn, der den EM-Organisatoren in Frankreich Nachlässigkeit bei der Gefahrenabwehr vorwarf. Der hochdotierte Ex-Polizist verdient sein Geld inzwischen als Executiv Director beim Sicherheitsunternehmen ICSS (International Centre for Sport Security) in Doha/Katar und spult sein Werbeprogramm für intelligente Polizeikonzepte regelmäßig vor sportlichen Großereignissen ab. Der Experte mahnte an, daß die Sicherheitslage durch die derzeitigen Streiks bei der französischen Bahn und möglicherweise auch im Flugverkehr verkompliziert werden könnte. Dafür brauche man Sicherheitskräfte, die dann anderswo fehlten, sagte Spahn gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". [3]

Am Ende haben noch die Gewerkschaftsstreiks schuld daran, daß den "Terroristen" Schlupflöcher gelassen werden mußten. Französische PolitikerInnen haben die vielfältigen Blockade- und Streikaktionen des kämpferischen Gewerkschaftsbundes CGT mit scharfen Worten verurteilt, gerade weil sie den reibungslosen Ablauf der EM stören könnten. Dessen ungeachtet haben Gegner der Arbeitsmarktreform am 14. Juni, kurz nach EM-Start, einen landesweiten Aktionstag angekündigt, weitere Blockadeaktionen werden von den Lohnabhängigen sowie von solidarischen Schülern und Studenten in Aussicht gestellt. Wird es dann Bilder wie aus Brasilien geben, wo Demonstranten u.a. Sozialsysteme nach "FIFA-Standard" gefordert hatten, aber Knüppel, Tränengas und Gummigeschosse durch die Sicherheitskräfte ernteten?

Die Sicherheitskosten für die EM sind dermaßen explodiert, daß Fachleute von einer Versechsfachung des ursprünglich veranschlagten Budgets ausgehen. Allein der Einsatz von mehr als 10.000 Soldaten soll täglich eine Million Euro kosten. Um die astronomischen Ausgaben noch halbwegs im Rahmen zu halten, wurde entschieden, die Public-Viewing-Veranstaltungen nur auf die zehn EM-Spielorte im Land zu beschränken. Das einem Stoßgebet gleichende Statement von Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve lautet dazu: "Die Fanzonen sind gesicherte Bereiche." Eine Risikoprognose zur Rechtfertigung hatte der Minister auch parat: "Gäbe es keine Fanzonen, würden sich die Fans komplett improvisiert zusammentun, dann wäre das Risiko zehn Mal so groß." [4] Demnach stellen spontane Fan-Zusammenkünfte, die nicht kontrolliert und überwacht werden können, das eigentliche Sicherheitsrisiko dar - eine klare Absage an die vom Sport propagierte Kultur der Geselligkeit und Zwanglosigkeit.

Innenminister Cazeneuve gehörte auch zu den Regierungspolitikern in Frankreich, die den Entwurf zu einem neuen Anti-Terror-Gesetz nach Art des US-amerikanischen "Patriot Act" durch das Parlament peitschen wollten. Danach sollte u.a. schon kriminalisiert werden, wenn jemand zu Anschlägen "anstiftet" oder diese "verteidigt" oder "glorifiziert". Dafür erntete Cazeneuve von Bürgerrechts- und Medienorganisationen viel Kritik, die von einem Gesinnungsstrafrecht sprachen, nach dem jeder Bürger als potentieller Terrorist gelte und ein Generalverdacht gegen die Bevölkerung eingeführt werde. Bereits vor einem Jahr war das Gesetz zur Überwachung von Telefon- und Internetverbindungen für verfassungskonform erklärt worden. Die neuen Regeln lassen das Belauschen von Telefonen und den Einsatz versteckter Kameras ohne richterliche Genehmigung zu. Kommunikations- und Internetunternehmen müssen den Geheimdiensten erlauben, daß sie bei ihnen die Verbindungsdaten ihrer Kunden sammeln und zum Abrufen bereithalten. Die Daten können nach Art der Rasterfahndung durchsiebt werden.

Vor wenigen Wochen hat dann das französische Parlament das etwas abgeschwächte Anti-Terror-Gesetz beschlossen. Kritiker sehen in der Gesetzesverschärfung eine Aushöhlung des Rechtsstaates und die Ausweitung des Terrorverdachts gegen alle. Die oppositionelle Linksfront spricht von einer Art "dauerhaftem Ausnahmezustand", auch Amnesty International hatte die Abgeordneten aufgefordert, gegen die Maßnahmen zu stimmen.

Doch auch in Deutschland wird versucht, im Aufmerksamkeitsschatten der Fußball-EM einen umstrittenen Gesetzentwurf ("Anti-Terror-Paket") voranzubringen, der noch vor der parlamentarischen Sommerpause (ab 9. Juli) abschließend beraten werden soll - also genau dann, wenn sich die EM auf der Zielgeraden und die Öffentlichkeit im Fußball-Rausch befindet. So hat sich die große Koalition auf einen Entwurf geeinigt, der dem Bundesnachrichtendienst (BND) einen weitgehend freien Zugriff auf Netzknoten im Inland erlauben soll. Fragwürdige Praktiken wie Verbindungs- und Standortdaten auf Vorrat zu speichern, Paßwörter abzufragen oder Informationen mit befreundeten ausländischen Geheimdiensten wie der NSA auszutauschen würden so legalisiert. Außerdem sollen präventive Ermittlungsbefugnisse der Bundespolizei mit Hilfe des Einsatzes von V-Leuten bereits zur Gefahrenabwehr - also der bloßen Vermutung - und nicht erst zur Strafverfolgung ermöglicht werden.

Unterdessen vergießen wirtschaftliberale Blätter Tränen für die großen Unternehmen in Frankreich. "Zur Fußball-EM wollte sich das Land als aufblühende Wirtschaftsnation präsentieren. Nun eskalieren die Streiks gegen die Reformpolitik. Zu den Leidtragenden gehören auch die großen Konzerne des Landes", erklärte die Wirtschaftswoche kurz vor EM-Beginn. "Mittlerweile drohen Gewerkschafter offen an, ihr Land während der EM ins Chaos zu stürzen - und nicht alle haben dabei die Arbeitsmarktreform im Blick." [5]

Wie sich der Wind doch drehen kann: Plötzlich sind die "Störer", "Gefährder" oder "Chaoten" nicht mehr die "Hooligans", sondern die aufgebrachten Bürger, die den Kampf für "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ganz anders auslegen als die strikt auf neoliberalem Kurs segelnde Regierung. Laut Umfragen steht eine große Mehrheit der Franzosen gegen die Arbeitsmarktreform der Sozialistischen Partei, während die Werte für Staatschef François Hollande, der die Reform in erster Lesung per Verfassungstrick ohne Abstimmung durchgedrückt hatte, im Keller sind. Das "Sommermärchen", mit dem Politiker, Wirtschaftslobbyisten und Medien während der Fußball-WM 2006 in Deutschland noch erfolgreich auf Dummenfang gehen konnten, läßt sich in Frankreich möglicherweise nicht so reibungslos wiederholen.

Fußnoten:

[1] http://www.wz.de/home/sport/fussball/em/frankreich-verspricht-maximale-vorkehrungen-1.2193728. 25.05.2016.

[2] https://www.amnesty.ch/de/laender/amerikas/brasilien/dok/2016/olympische-spiele-polizeigewalt. 02.06.2016.

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/f-a-s-exklusiv-ehemaliger-wm-sicherheitschef-kritisiert-em-planung-14269852.html. 03.06.2016.

[4] http://www.n-tv.de/politik/90-000-Sicherheitskraefte-sollen-EM-schuetzen-article17776021.html. 25.05.2016.

[5] http://www.wiwo.de/politik/europa/proteste-gegen-arbeitsmarktreform-frankreich-ist-auf-dem-weg-ins-chaos/13670350-all.html. 03.06.2016.

12. Juni 2016


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