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KOMMENTAR/268: Unfrei nach Turnvater Jahn - eine Kinderaufzuchtsdoku (SB)



"Der aktuelle Businesssport ist unsere zeitgenössische Ersatzreligion. Wir wollen das Märchen, wir wollen glauben, also kriegen wir auch das Märchen. Das Risiko zahlt allein der Athlet. Dass nichts mehr stimmt in diesem Irrsinns-Karussell, ist die eigentliche Konstante. Makaber ohne Ende."
Ines Geipel, Vorsitzende des Doping-Opferhilfevereins (DOH) [1]

Halten wir dieses "Irrsinns-Karussell" einmal kurz an und legen den Finger in die Wunde dessen, was uns der einstündige Dokumentarfilm "Der Kraftakt", den das NDR Landesfunkhaus Mecklenburg-Vorpommern mit Unterstützung des Hamburger Programmbereichs Dokumentationen und Reportage produziert hat, erzählt. Der überraschende Titel des Films, der zu mitternächtlicher Stunde im NDR Fernsehen lief [2], läßt vermuten, daß die Autoren André Keil und Benjamin Unger ganz bewußt darauf verzichten wollten, das DDR-Leistungssportsystem und seine Dopingpraktiken plakativ anzuprangern. Wie vergangene und aktuelle Aufarbeitungsversuche zeigen, haben die DDR-Dämonisierung und die Fixierung auf Doping als Erklärung für alle Übelstände des Sports längst ebenfalls den Charakter einer "zeitgenössischen Ersatzreligion" angenommen, um einerseits das politische System der BRD zu entlasten und andererseits von den vorherrschenden Verhältnissen im Leistungs- und Spitzensport nicht nur in "Sportdeutschland" (DOSB-Marketingsprech) abzulenken.

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Die körperlichen, psychischen und seelischen Traumata, die vier Kunstturnerinnen bzw. Sportgymnastinnen im Zuge ihrer Ausbildung zu Vorzeigesportlerinnen von Weltklasseformat davongetragen haben und für die die Geschädigten im Dokumentarfilm - auch im Kontext innerer Beteiligungen und eigener Ohnmachtserfahrungen - eine sozial vermittelbare Sprache zu finden suchen, sind erschreckend, und sie hängen auch mit den Dopingmittelvergaben durch DDR-Ärzte und -trainer zusammen. Medaillenträchtige Leistungsschübe, körperliche Belastungsintensitäten und persönliche Bestmarken wurden möglich, die ohne die Zuhilfenahme pharmakologischer Mittel wohl nur schwer zu erreichen gewesen wären. Laut Senderinfo stehen die Protagonistinnen Susann Scheller, Manuela Renk, Esther Nicklas und Dörte Thümmler jedoch "stellvertretend für sehr viele Sportgeschädigte in Deutschland". Die Autoren André Keil und Benjamin Unger, so liest man weiter, recherchierten schon einige Jahre zu den Spätfolgen des "politisch motivierten Leistungssports".

Hat sich da ein neuer Ton in die mediale Rezeption insbesondere des Kinder- und Jugend-Hochleistungssports gemischt? Natürlich ist der Leistungssport, gleich welcher Gesellschaftsordnung, politisch motiviert. Wenn das erklärte Ziel der Spitzensportförderung in Deutschland darin besteht, daß die Athletinnen und Athleten möglichst viele Medaillen gewinnen, damit der "Sportstandort" Deutschland gestärkt und der Staat mit seinen Aushängeschildern international renommieren kann, dann mögen diese offiziellen Eingeständnisse der Sportobrigkeit zwar die politische Zweckbestimmung von Fördergeldern aufzeigen, nicht aber die sozialen Wegschaukulturen und berufsständischen Opportunitäten, die der "Märchenwelt des Businesssports", der auch mit modernen Verschleierungsinstrumentarien - etwa durch "unabhängige" Dopingkontrolleure, Integritätskommissare, Ethikbeauftragte, Transparency-Hüter, Compliance-Wächter, Governance-Observer etc. - gnadenlos ausbeuterisch wäre, innewohnen.

Die Frage der sozioökonomischen Teilhaberschaft am mittlerweile weltumspannenden Sportzirkus haben Politiker, Funktionäre, Wissenschaftler, Trainer oder Eltern in der Regel längst für sich beantwortet, bevor Kinder oder Jugendliche auch nur daran denken können, sich gegen Körperdressur, Überbietungswahn und "intrinsischen" Selbstbeschiß, wie er auch unter AthletenvertreterInnen Hochstände feiert, aufzulehnen. Die Berichte der betroffenen DDR-Kadersportlerinnen, daß sie sich selbst Verletzungen oder Unpäßlichkeiten zufügen mußten, "in der Hoffnung, mal krank zu werden und mal eine Pause zu haben", wie die Sportgymnastin Manuela Renk schildert, sprechen eine deutliche Sprache, daß im leistungssportlichen Produktionsprozeß ähnliche Ausbeutungsverhältnisse herrschen wie an der Werkbank, nur daß die Turn- und Gymnastikkinder nicht nach Stechuhr, Fließbandgeschwindigkeit oder Baustellenradio arbeiten, sondern unter dem Einsatz von Klaviermusik, Schwierigkeitsgraden und Geräten härteste Sportarbeit am eigenen Körper verrichten. Je übermäßiger und spektakulärer sich der junge, noch unverbrauchte Körper verbiegen, spreizen oder strecken kann, als wären die dabei über kurz oder lang auftretenden Verschleißerscheinungen am maximal belasteten aktiven und passiven Bewegungsapparat nicht der Rede wert, desto höher die Wertungen der Kampfrichter und der Zuspruch des Publikums.

Was im Turn- und Gymnastikbereich als "ungezwungene Körperhaltung" oder "flüssige Bewegung" adaptiert wird, ist in Wirklichkeit das Ergebnis motorischer Schwungverschleierung und der systematischen Ausblendung potentieller Schadensfolgen. Als wären sie gut geölte Maschinen oder eine Ansammlung innerer Motoren werden die Kindskörper früh darauf trainiert, nach statischen oder dynamischen Kraftakten möglichst alle Kompensationsbewegungen zu unterbinden, um den Eindruck einer aufwandslosen, äußerlich perfekten Übung zu erzeugen. Ausweichsschritte, Übertritte oder sonstige Abweichungen von der (geometrischen) Norm werden vom Kampfgericht mit Punktabzug bestraft. Was den Wettkampfrichtern bei der Leistungs- und Leibesvisitation an Fehlbarem entgeht, wird unter den argwöhnischen Blicken von Zuschauern und Medienvertretern, die als Laienrichter an jeder Stelle Betrug wittern, wo der Verdacht auf irreguläre Körper(de)formation besteht, einer weiteren kritischen Musterung unterzogen. Minderjährigen, denen die Tränen kommen, weil sie ein Turnelement nicht idealgerecht ausgeführt haben, wird damals wie heute mit auf den Weg gegeben, was der Kommentator des DDR-Fernsehens so formulierte: "Sie, die Dörte, will immer alles. Ärgert sich dann über kleine Dinge, die geschehen und die man sich auf dem olympischen Podest nicht leisten kann ..."

"Die Dörte", heute 30 Jahre älter, schwergeschädigt und frühverrentet, mußte für den Traum vom "olympischen Podest", den die Erwachsenen den Kindern als Motivationsschema schon früh einimpfen, einen hohen Preis zahlen. Von kaputten Knochen und Gelenken, organischen Schäden und psychischen Erkrankungen bis hin zu sexualisierter und disziplinierender Gewalt durch Betreuer, Trainer, Ärzte und Funktionäre reicht das Spektrum leidvoller Erfahrungen, denen die in größter Abhängigkeit von den Vertrauens- und Respektspersonen stehenden Sportlerinnen - sicherlich nicht nur in der ehemaligen DDR - ausgesetzt waren.

"Es flog ein Schrei durch die Halle", erzählt die Sportgymnastin Esther Nicklas, der abwechselnd hervorbrach und wieder verstummte, weil ein Trainer einer Turnerin, die unter dem Stufenbarren Schmerzen litt, nicht vollständig den Mund zuhalten konnte. "Gewalt pur", resümiert die Sportgymnastin heute, die mehrfach Zeugin solcher Vorfälle geworden sei.

Die durch eine hochleistungsorientierte Sportwissenschaft und traumaregulierende Medizin geförderte Zurichtung der Turnerinnen und Gymnastinnen beginnt sicherlich nicht erst dort, wo den Körpern der Kinder und Jugendlichen Übungen abverlangt werden, die sie aufgrund der dabei auftretenden Schmerzen, individuellen Körpereinschränkungen und instinktiven Abwehrreaktionen niemals aus eigenem Antrieb anstreben würden. Das Prinzip des Forderns und Förderns, die Einverleibung von Zuckerbrot und Peitsche, wird in seiner instrumentellen Gewalt besonders dort deutlich, wo das Kind in die Apparate maschineller Disziplinierung eingespannt wird, gleichsam einem Froschschenkel, der zu wissenschaftlichen Experimentier- und Veranschaulichungszwecken unter Strom gesetzt wird, um den hypothetischen Zusammenhang von Elektrizität und Muskelkontraktion zu demonstrieren.

So greift der Dokumentarfilm auch auf Archivmaterial zurück, das Ausschnitte aus dem Trainingsalltag von Turnkindern zeigt, wie er so oder ähnlich auch heute noch in unzähligen Sporthallen gang und gäbe ist. Beispielhaft sei hier eine Szene erwähnt, die nach dem Stand heutiger Leistungslabore und moderner Gerätestandards antiquiert erscheint, aber nicht deutlicher aufzeigen könnte, worum es bei der funktionalen Abrichtung der Körper zu Automaten exakter Bewegungsabfolgen die ganze Zeit geht: Unter einem Barrenholm wird ein Mädchen so in ein Seil- und Rollensystem eingehängt, daß dem waagerecht pendelndem Körper nurmehr die Möglichkeit bleibt, spezifische Spannungs- und Schwungbewegungen auszuführen. Ein Trainer leistet dabei dem wie der Kolben einer Dampfmaschine auf und ab gehenden Körper der Turnerin Hilfestellung. Ähnliche Spannungszustände werden den Probandinnen später auch am Turngerät abgefordert, damit der Eindruck einer flüssigen Bewegung und stimmigen Gesamtkomposition entsteht.

Trainiert darauf, Gleichgültigkeit gegenüber den äußeren Umständen ihrer Zweckbestimmung herzustellen, allein darauf geeicht, dem Körper sportartenspezifische Höchstleistungen abzuringen, die sozial belohnt und später auch ökonomisch honoriert werden, durchlaufen Kinder und Jugendliche einen Initiationsprozeß, dessen Fesselgewalt selbst SportlerInnen im Erwachsenenalter kaum noch zu entrinnen vermögen. Selbstzweifel, unbequeme Fragen und Anfechtungen kommen meist erst dann ins Spiel, wenn die politisch zu Vorbildern und volkstümlich zu Helden stilisierten ElitesportlerInnen den Maßgaben des Systems nicht mehr genügen und das gesellschaftlich favorisierte Modell vom athletischen Sklavenkörper seine destruktiven Spuren hinterläßt.

Die im Film zu Wort kommenden Kadersportlerinnen der DDR schildern allesamt, daß sie einem allgegenwärtigen, sozial demütigenden Regime der Gewichtskontrolle unterworfen waren. "Ich hatte immer zuviel Körperfett. Das war der Horror", berichtet die Sportgymnastin Susann Scheller über Fettmessungen durch Ärzte sowie den sozialen Druck, wenn das Sollgewicht nicht erreicht wurde. Ohne es anderen zu erzählen, war es ihr gelungen, sich aus einer mehrjährigen Bulimie wieder heraus zu kämpfen. "Wir haben irgendwann angefangen, freiwillig nach dem Training noch Krafttraining zu machen", beschreibt Scheller einen Konditionierungsprozeß, wie er sich auch heute noch in unzähligen Körpern von Spitzensportlerinnen und -sportlern materialisiert, die "freiwillig" Gewicht reduzieren, um den sportästhetischen wie maschinenhaften Vorgaben ihrer Sportart gerecht zu werden. "Irgendwann haben wir auch angefangen, selbständig uns ins Stadion zu stellen und sind Runden gelaufen aus Angst zuzunehmen, übers Wochenende."

Nicht zufällig haben Sport und Turnen ihre Wurzeln im Zeitalter der Industrialisierung, ging es doch insbesondere im zunächst auf Erziehung und Gesundheitsförderung ausgerichteten Turnen darum, ein Menschenbild zu etablieren, das "körperliche Tüchtigkeit", "Schönheit der Gestalt" oder die "Heiterkeit des Gemütes" dem bürgerlichen Leistungsprinzip unterwarf. In seiner bahnbrechenden Schrift "Gymnastik für die Jugend" (1793) hatte der Turnpädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths Ideale für die "Arbeit am Körper" formuliert, das dem von René Descartes (1648) eingeführten Maschinenmodell vom Menschen in leibeserzieherischer Hinsicht neue Horizonte eröffnete. Um die Knechtschaft an der Fabrikmaschine und den Drill beim Militär besser ertragen zu können, war es schon hilfreich, wenn sich die lohnarbeitende Klasse mit freiem "Anstand der Haltung und Gebärde", so ein weiteres Ideal GutsMuths, das Primat kontrollierter Leistungssteigerung zueigen machte, statt sich ihrer Einspeisung in die große Maschine körperdeformierender Produktion von Grund auf zu erwehren. 1842, nach der Aufhebung der "Turnsperre", wurde Turnen mit GutsMuths Leitbildern, die auf einen funktionstüchtigen, effizienten und mechanisch durchrationalisierten Körper abzielten, in deutschen Schulen eingeführt. Bezeichnenderweise wurde die höchste staatliche Auszeichnung der DDR für wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Sportwissenschaft und Sportmedizin, der GutsMuths-Preis, nach dem Mitbegründer des Turnens benannt.

Als Kind wollte sie immer etwas anderes machen, Geschichten schreiben, Höhlen bauen. Doch als Internatszögling, dessen Kindheit sich größtenteils in der Turnhalle und bei Wettkämpfen abspielte, habe sie keine Möglichkeit dazu gehabt, erzählt die Turnweltmeisterin Dörte Thümmler. Die KJS (Kinder- und Jugendsportschulen) der DDR, in denen der Nachwuchs auf sportliche Höchstleistungen getrimmt wurde, sind in der BRD rückstandslos in ein flächendeckendes System von "Eliteschulen des Sports" übergegangen. Die heutigen "Diplomaten im Trainingsanzug" stehen nicht minder unter Erfolgsdruck, denn unverändert macht der Staat seine Förderzuwendungen von Medaillenerträgen und Erfolgsprognosen abhängig. Um das "Ansehen Deutschlands in der Welt" zu mehren und Standortpolitik betreiben zu können, werden nach wie vor Kinder und Jugendliche in Deutschland verheizt, da sich niemand der verantwortlichen Funktionäre, Politiker oder Wissenschaftler traut, diesem "Irrsinns-Karussell" die eigene Beteiligung zu entsagen, denn dies hätte unangenehme Konsequenzen. Es bleibt den Athletinnen und Athleten selbst überlassen, sich über ihre instrumentale Rolle in diesem makaberen Spiel klar zu werden und sich streitbar zu organisieren. Zum Beispiel so, wie es die vier Damen im Dokumentarfilm tun: Dort, wo Platz ist, im Treppenhaus, Zigarette rauchend - ganz unsportlich und eher leistungsmindernd.

Fußnoten:

[1] https://no-doping.org/wp-content/uploads/2018/09/Gerbergasse18-Heft87_Interview-Geipel.pdf

[2] https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Der-Kraftakt-Folgen-des-DDR-Leistungssportsystems,kraftakt100.html. 30.10.2018.

30. November 2018


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