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KOMMENTAR/279: Olympia Tokio - Orwell lässt grüßen ... (SB)



Die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio könnten nicht nur als die unpopulärsten Sommerspiele in die Annalen eingehen, wenn man sich die breite Ablehnung in der japanischen Bevölkerung anschaut, sondern auch als die größten "Big Brother-Spiele", die es jemals gab.

Hatte es vor gut drei Jahren schon geheißen, dass bei den Spielen im "Hightechland Japan" die Wettkampfstätten erstmals in der Olympia-Geschichte mit automatisierter Gesichtserkennungs-Technologie ausgestattet würden, obwohl der Einsatz der biometrischen Gesichtserkennung und daran gekoppelten Zugangskontrollen ein Schritt zur omnipräsenten Alltagsüberwachung darstellt, so könnte die aktuelle COVID-19-Pandemie keine besseren Vorwände liefern, um die Akzeptanz weiterer innovativer Überwachungstechnologien voranzutreiben.

Vor dem Hintergrund, dass in Japan bislang nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mit mindestens einer Dosis gegen das Coronavirus geimpft wurde sowie von Befürchtungen, dass sich eine vierte Corona-Welle im Anmarsch befindet, sollen nun alle ausländischen Journalisten per GPS, sprich Handy-Ortung, überwacht werden. Die rund 6000 akkreditierten Medienleute, die wie alle Olympia-Gäste von der Quarantänepflicht freigestellt sind, müssen den Behörden schon vor der Anreise eine detaillierte Liste derjenigen Orte vorlegen, die sie während der ersten zwei Wochen ihres Aufenthaltes in Japan besuchen wollen. Sie kommen damit den "Whereabout"-Regeln für Topathleten, die im Rahmen des Anti-Doping-Regimes sogar drei Monate im Voraus Angaben über ihren Aufenthaltsort machen müssen, schon recht nahe. Eine flächendeckende Geolokalisierung per GPS konnte für internationale Spitzenathleten allerdings (noch) nicht durchgesetzt werden, so dass Journalistinnen und Journalisten in diesem Punkt eine Vorreiterrolle einnehmen. Während sich manche Medienschaffende über die Bewegungseinschränkungen mokieren, wird geflissentlich darüber geschwiegen oder es als normal betrachtet, dass für Kaderathleten sogar noch viel schärfere Einschränkungen der persönlichen Freiheiten zum Berufs- und Alltagsleben gehören. Die Sorge der Sportjournalisten ist vielmehr, dass die OlympiateilnehmerInnen nicht oft genug auf Doping getestet werden konnten und dass Quarantänemaßnahmen dazu genutzt wurden, die vermeintliche "Chancengleichheit" im Sport zu unterminieren. Stimmen wie von Mitsuru Fukuda, Professor am College of Risk Management der Nihon University, der zu bedenken gab, dass die Überwachung von Ausländern per GPS im Interesse einer sicheren Durchführung der Olympischen Spiele zu einer Einschränkung der Freiheit und der Menschenrechte führen könnte, sind allenfalls Marginalien und dienen eher der Alibiberichterstattung. [1]

Abweichungen vom "personal playbook", vom Regelbuch, das einem persönlichen Laufplan gleichkommt, sind Journalisten in Japan strengstens untersagt. Um sicherzugehen, dass sie tatsächlich nur an die erlaubten Orte gehen, "werden wir GPS nutzen, um ihr Benehmen streng zu regeln", kündigte Cheforganisatorin Seiko Hashimoto an. [2] Die ständige Überwachung der Handy-Daten von Journalisten solle zum einen der Kontakt-Nachverfolgung dienen, zum anderen sicherstellen, dass die ausländischen Besucher sich an die Regeln hielten, betonte auch der geschäftsführende Direktor des lokalen Vorbereitungskomitees, Toshiro Muto. [3]

Bei Verstößen droht den Gäste-Reportern der Entzug ihrer Akkreditierung. Journalisten haben außerdem zur Auflage, sich nur in einem der rund 150 dafür vorgesehenen Hotels und nicht in Privatunterkünften einzumieten. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder der Einkauf in Supermärkten oder Geschäften ist den Besuchern während der 14 Tage verboten. Die Maßnahmen gelten nicht nur für Journalisten, sondern auch für Athleten, Betreuer und Offizielle. Von der GPS-Ortung sind sowohl Japaner als auch im Land ansässige Ausländer betroffen, die sich sofort nach ihrer Einreise in eine 14tägige Quarantäne begeben müssen. Solche Tracing-Funktionen per GPS sind in Deutschland noch kein Standard, stehen aber auf der Wunschliste nicht nur der Pandemiebekämpfer.

Da das Großevent siebzehn Tage dauert, können Journalisten allenfalls an den letzten Tagen unabhängig entscheiden, worüber sie berichten möchten. Damit ist eine freie Berichterstattung, die sich auch (problematischen) Themen außerhalb des Sports widmet und Leute, Land und Leben in Japan in den Fokus nimmt, zumal vor dem Hintergrund der Reaktorkatastrophe von Fukushima, kaum noch möglich. Lediglich in den letzten drei Tagen, wenn das Event quasi schon gelaufen ist, dürfen sich die Journalisten nach eigenem Gusto bewegen. Aufgrund der Gefahr, abgehört oder per GPS lokalisiert zu werden, sind investigative Journalisten zudem gehalten, entweder auf eine kritische Berichterstattung zu verzichten oder bei Treffen mit sensiblen Quellen das Handy zu Hause zu lassen oder abhörsicher zu verstauen.

Das kommt wiederum dem Internationalen Olympischen und Paralympischen Komitees zugute, die am liebsten nur über Sport im engeren Sinne berichten möchten und auf eine möglichst unterhaltsame Inszenierung des Massenspektakels beharren, welche die Politik, jedenfalls nach Definition der maßgeblichen Stakeholder, weitgehend ausblendet. So ist kaum damit zu rechnen, dass es während der Spiele zu massenmedial begleiteten Protestaktionen auf der Insel kommt, die beispielsweise den Plan der japanischen Regierung, in etwa zwei Jahren damit zu beginnen, rund 1,25 Millionen Tonnen nur unzureichend gereinigtes Wasser auf dem Gelände der Atomanlage von Fukushima ins Meer einzuleiten, aufs Tapet bringen.

Dass die Bewegungen der MedienvertreterInnen nun per GPS kontrolliert und nachverfolgt werden sollen, wird zwar als Ärgernis wahrgenommen, doch ebenso als wohl unvermeidliche Einschränkung bei der Coronabekämpfung akzeptiert. Tatsächlich sind die wohlfeilen Vorwände umfassender Geolokalisierung fast beliebig austauschbar. Es bedarf nicht der COVID-19-Pandemie, um die eigentliche Zielrichtung der Maßnahmen auszumachen. Ausgerechnet in Griechenland, der Wiege Olympias, hat nun die Regierung ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das alle Bürgerinnen und Bürger zwecks zentralisierter Arbeitsüberwachung der Kontakt- und Lokalisierungskontrolle unterwerfen soll. "Mit einer GPS-Erfassung der Standortdaten der Arbeitnehmer soll die Anwesenheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz, samt deren Bewegungsprofil registriert werden. Die Daten landen auf dem zentralen staatlichen Server. Dort sollen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Staat Zugriff darauf haben", berichtete heise.de kürzlich über das in Europa einzigartige Vorhaben [4].

In Deutschland ist eine anlasslose Totalüberwachung von Beschäftigten mittels GPS - etwa im Homeoffice zur Überprüfung von Arbeitsleistungen oder -verhalten - noch nicht erlaubt. Es könnten aber Umstände eintreten oder künstlich herbeigeführt werden, die die arbeits- und datenschutzrechtlichen Schranken überwinden helfen. Spitzen- und Nachwuchsathleten, die Schwerstarbeit vergleichbare Tätigkeiten verrichten und gewöhnlich nicht gegen körperliche Ausbeutungsformen sowie verbesserte Arbeits-, Sport- oder Freizeitüberwachung aufbegehren, da sie integraler Bestandteil von Leistungsprinzip und -kultur sind, wurden von der Deutschen Sporthilfe längst dazu auserkoren, die "digitale Transformation im Sportsektor" voranzubringen. So hat die Elitenstiftung mit der Unterstützung ihrer Nationalen Förderer und Partner Ende letzten Jahres einen Digitalen Beirat ins Leben gerufen, "dem hochrangige Führungskräfte sowie IT- und Digitalexperten der wichtigsten Wirtschaftspartner und Stakeholder angehören. Sie werden die Sporthilfe ab sofort mit Vorschlägen, Impulsen und Beratung bei den Herausforderungen der digitalen Transformation unterstützen und ihr Know-how bei IT- und Digitalisierungsfragen einbringen". [5]

Was von der Sporthilfe und ihren Partnern aus der IT-Industrie - übrigens auch und gerade von der Sportwissenschaft - als "neue Chancen für Athleten, Fans und Unternehmen" verkauft wird, ist die geschichtlich beispiellose Vermessung, Überwachung und Verwertung der Athletenressource mithilfe digitaler Tracking- und Analyse-Verfahren. Im Profifußball wird bereits ein digitaler Spielerpass ausgegeben (siehe SV Werder Bremen), der sämtliche Leistungs-, Ernährungs- und sonstigen Biodaten jedes einzelnen Spielers fortlaufend und zentral erfasst, um letztlich noch mehr Leistung aus dem häufig angeschlagenen oder verletzten Spielermaterial herauszukitzeln. Das wird aber nicht als digitalisierte Ausbeutung bezeichnet, sondern als Optimierung des Verhältnisses zwischen Belastung und Regeneration - natürlich zum Vorteil aller. [6]

Fußnoten:

[1] https://news.trust.org/item/20210609143850-ybf2i. 09.06.2021.

[2] https://www.epochtimes.de/sport/auslaendische-reporter-sollen-bei-olympia-in-tokio-per-gps-ueberwacht-werden-a3531140.html. 08.06.2021.

[3] https://www.faz.net/aktuell/sport/olympia/olympia-gaeste-in-tokio-werden-per-gps-daten-verfolgt-17382636.html. 10.06.2021.

[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-glaeserne-Grieche-6067384.html?seite=all. 10.06.2021.

[5] https://www.sporthilfe.de/ueber-uns/medien/pressemitteilungen/digitale-transformation-deutsche-sporthilfe-ruft-prominent-besetzten-digitalen-beirat-ins-leben. 17.12.2020.

[6] https://www.butenunbinnen.de/sport/werder-verletzungen-ki-digitale-spielerpaesse-100.html. 06.08.2020.

15. Juni 2021

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 22. Juni 2021


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