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MELDUNG/096: Musicaldarsteller als Paradebeispiel für Vulnerabilitätsforschung (idw)


Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) - 27.09.2012

Spiel auf vielen Bühnen - Musicaldarsteller als Paradebeispiel für Vulnerabilitätsforschung



Sie müssen flexibel, talentiert und hart in Nehmen sein: Für Musicaldarsteller ist die Unsicherheit in Bezug auf Beruf und Gesundheit sehr groß. Wie sie diese Unsicherheiten wahrnehmen und mit welchen Strategien sie in ihrem Arbeitsumfeld zurechtkommen, haben Sozialwissenschaftler des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in einer Fallstudie in Berlin untersucht.

Die Studie ist Teil eines dreijährigen Forschungsprojekts des IRS, in dem die Wahrnehmung und Verarbeitung von Gefahren, Unsicherheiten und Risiken untersucht werden. Dabei stehen weniger die Auslöser von Gefahrensituationen, wie etwa Naturkatastrophen, Finanzkrisen oder Terroranschläge im Mittelpunkt, sondern wie diese in sozialen, räumlichen oder individuellen Kontexten wahrgenommen und bewertet werden. Diese sogenannten "Vulnerabilitäten" (Verwundbarkeiten) können nicht nur Menschen zugeschrieben werden, sondern auch Gebäuden, Infrastrukturen oder sogar ganzen ökologischen, sozialen oder ökonomischen Systemen. "Mit der Studie der turbulenten Arbeitsmärkte der Musicaldarsteller haben wir exemplarisch ein Labor der modernen Arbeitswelt untersucht, in dem viele aktuelle Entwicklungen zusammenlaufen", sagt Studienleiter Prof. Dr. Oliver Ibert. "Dies erlaubt uns Rückschlüsse auf andere Vulnerabilitätskontexte, beispielsweise andere Berufsfelder mit teilweise vergleichbaren Anforderungen und Unsicherheiten."

Neben den körperlichen Belastungen durch Tanz und Gesang und damit verbundenen Gesundheitsrisiken sind es vor allem organisatorische Unwägbarkeiten, welche die Arbeitssituation der Musicaldarsteller besonders unsicher machen. "Die Rollenbesetzung durch Auditions ist sehr kompetitiv, es gibt fast immer mehrstufige Ausscheide. Zudem sind Jobs befristet, an wechselnden Orten und mit unterschiedlichem Status - von angestellt bis freiberuflich", erklärt Ibert. "Die Darsteller müssen ein sehr hohes Maß an Flexibilität zeigen, mehrere Jobs jonglieren und darüber hinaus die Rahmenbedingungen wie An- und Abmeldungen beim Arbeitsamt und Versicherungen managen." Die Studie identifiziert daher neben hohen Mobilitätszumutungen auch einen "institutionellen mismatch". So müsste sich beispielsweise ein Darsteller mit einem Auftritt fern seines Wohnorts am Montag und am Donnerstag für Dienstag und Mittwoch im heimischen Arbeitsamt arbeitslos melden, um Unterstützung zu bekommen - häufig ist dies organisatorisch und finanziell nicht möglich.

Von besonderem Interesse sind die Strategien der Darsteller, sich mit diesem Arbeitsumfeld zu arrangieren. Viele Personen flexibilisieren ihr gesamtes Leben für einen begrenzten Zeitraum und investieren Freizeit und eigenes Geld für Weiterbildungen, Training oder Fitness. Dazu gehöre auch, ständig am Repertoire für die Auditions zu arbeiten, so Ibert. "Wir konnten feststellen, dass viele Darsteller verschiedene Lebensläufe pflegen, die mehr den Sänger, den Tänzer oder den Schauspieler betonen. Diese prismenartige Vervielfältigung der eigenen Identität steigert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Darsteller können dadurch mehrere Nischen gleichzeitig abdecken."

Von großer Bedeutung ist zudem die Pflege von Netzwerken in der Branche. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, früh von neuen Auditions zu erfahren oder Schlüsselfiguren persönlich kennen zu lernen. Gleichwohl können persönliche Netzwerke nicht alle Unsicherheiten kompensieren, außerdem verursachen Netzwerke auch Kosten wie Zeit, Geld und Aufmerksamkeit, die selten in der Gesamtbilanz veranschlagt werden. Die Netzwerke seien aber auch nützlich, um mit dem Konkurrenzdruck besser zu Recht zu kommen. "Nicht jede Strategie zum Umgang mit Gefährdungen will oder kann diese tatsächlich bekämpfen. Häufig geht es auch darum, die Situation mit Gleichgesinnten umzudeuten in eine selbstbestimmte, durch Ruhm und Beifall belohnte und von vielen Zwängen befreite Arbeitssituation, um so die problematischen Folgen zu relativieren. Dies zeigt, dass das tatsächliche Ausmaß einer Gefahr nicht objektiv bestimmbar ist, sondern individuell und sozial variiert und verändert werden kann", sagt Ibert.

Schließlich untersuchten Ibert und sein Forscherteam die räumlichen Strukturen der Arbeitsmärkte der Musicaldarsteller. Dabei hat sich ergeben, dass Berlin zwar ein Zentrum für Musicaldarbietungen und Ausbildung darstellt, aber der Arbeitsmarkt alles andere als regional organisiert ist. Auch die vielbeschworene Formel für die Kreativökonomie "Not people follow the jobs, but jobs follow the people" bestätigt sich zumindest in der Musicalbranche keineswegs. Es sei aber anzunehmen, dass Berlin aufgrund seiner Diversität an Aus- und Weiterbildungsangeboten, an alternativen Subsistenzmöglichkeiten, Vernetzungsgelegenheiten und unternehmerischen Nischen ein guter Wohnstandort ist, um von dort aus als Musicaldarsteller überörtlich zu agieren, so Ibert.


Vulnerabilitätsforschung am IRS

Von 2010 bis Ende 2012 arbeiten mehrere Abteilungen des IRS am Brückenprojekt "Vulnerabilität und Resilienz in sozio-räumlicher Perspektive". Ziel des Forschungsprojekts ist es, die Wahrnehmung und Verarbeitung von Gefahren sowie die Strategien zum Umgang mit diesen Gefahren aus sozial- und raumwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen. Dabei werden die vor allem aus der Ökologie und Entwicklungsländerforschung stammenden Begriffe "Vulnerabilität" (Verwundbarkeit) und "Resilienz" (Handeln zur Verringerung der Verwundbarkeit) mittels theoretischer und empirischer Forschung neu gefasst. Die untersuchten Kontexte umfassen neben der Arbeitswelt von Musicaldarstellern auch Images von Städten und Regionen (No-Go-Areas, Armutsviertel) und den Klimawandel.

Weitere Informationen zum Brückenprojekt unter folgender Webadresse:
http://www.irs-net.de/forschung/abteilungsuebergreifend/index.php


Über das IRS

Das Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) forscht am Schnittpunkt von Raum- und Sozialwissenschaften. Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung von Städten und Regionen. In fünf Abteilungen untersuchen Wissenschaftler die Dynamiken von Wirtschaftsräumen, institutionelle Arrangements und Governance-Formen für kollektiv genutzte Güter, die Rolle von Kommunikation und Wissen bei Raumentwicklungsprozessen sowie den Strukturwandel und die Regenerierung von Städten. Die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS bilden die einzige auf die Bau- und Planungsgeschichte der DDR spezialisierte Sammlung in der Bundesrepublik Deutschland.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1729

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS),
Jan Zwilling, 27.09.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2012