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SCHAUSPIEL/004: Thomas Manns "Joseph und seine Brüder" auf der Oberammergauer Passionsbühne (Ingolf Bossenz)


Von Oberbayern nach Unterägypten

Christian Stückl inszenierte auf der Oberammergauer Passionsbühne Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«

Von Ingolf Bossenz, August 2011


Beim regionalen Verkehrsunternehmen Oberbayernbus überdauert der Wunsch die Wirklichkeit. »Wir unterstützen München 2018 - Die freundlichen Spiele« ist auf Fahrzeugen zu lesen, die durch Oberammergau fahren.

Zwar ist dieser Bus - respektive Zug - inzwischen längst abgefahren. Freundliche Spiele indes gibt es in Oberammergau seit über 370 Jahren. Das Dorf am Fuße von Kofel und Laber ist schließlich berühmt für seine alle zehn Jahre veranstalteten Passionsspiele. Zu deren 41. Auflage im vergangenen Jahr kamen mehr als eine halbe Million Besucher in die Gemeinde im Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Rund die Hälfte der gut 5000 Einwohner bekundete auf und hinter der 45-Meter-Mammutbühne des Passionsspielhauses als Mitwirkende ihre Theaterbesessenheit. Und das mit wahrhaft olympischer Passion: Dabei sein als das Entscheidende. Wobei darstellerische Spitzenleistungen inzwischen durchaus zur Regel gehören. Was maßgeblich der innovativen und intensiven Regie des Oberammergauers Christian Stückl zu verdanken ist, der neben seiner Arbeit als Intendant des Münchner Volkstheaters und diversen anderen Verpflichtungen im In- und Ausland seit der Passion 1990 als gewählter Spielleiter fungiert.

Stückl war es denn auch, der der Spielleidenschaft der Oberammergauer in der traditionellen neunjährigen Passionspause neue Räume eröffnete. »König David« (2005), Stefan Zweigs »Jeremias« (2007) und »Die Pest« (2009) kann man indes fast als Aufwärmübungen betrachten angesichts des gigantischen Projekts, das der 49-Jährige gemeinsam mit seinen Mitstreitern aus dem Ammertal in diesem Jahr stemmt: die Inszenierung von Thomas Manns Tetralogie »Joseph und seine Brüder«.

Das Wagnis, die Bühnentauglichkeit des wichtigsten und zugleich gewichtigsten (in der Erstausgabe insgesamt über 2100 Buchseiten) Romanwerks des Literaturnobelpreisträgers von 1929 zu erproben, war erstmals vor zwei Jahren das Düsseldorfer Schauspielhaus eingegangen, in der Inszenierung der Textfassung von John von Düffel durch Wolfgang Engel. Der Düsseldorfer Erfolg bestärkte Christian Stückl in seinem Plan, Manns belletristische Ausformung des alttestamentarischen Stoffes in einer eigenen Bearbeitung auf die Oberammergauer Passionsbühne zu bringen.

Ein ehrgeiziges Unterfangen. Warnt doch Thomas Mann im Roman selbst als Erzähler »vor der abkürzenden Kargheit einer Berichterstattung, welche der bitteren Minuziosität des Lebens so wenig gerecht wird«. Nun, »abkürzen« musste Stückl zweifellos reichlich. Von »Kargheit« kann indes keine Rede sein. Was der renommierte Regisseur mit rund 150 Darstellern und Chorsängern (plus Orchester) erarbeitet hat, kann sich sehen lassen und hören.

Die Geschichte von Joseph, dem Lieblingssohn des Patriarchen Jaakob, gehört zu den menschlichsten im Alten Testament. Geht es doch darin weder gottesfürchtig-grausam zu wie bei Abraham, der bereit ist, seinen Sohn Isaak auf Geheiß des HERRN zu töten, noch masochistisch-fromm wie bei dem gepeinigten Hiob.

Joseph, liebenswert und zugleich von narzisstischer Selbstverliebtheit, verkündet den Brüdern in naiver Arglosigkeit seine Träume, in denen sich sein Wunsch nach Vorrang und Überlegenheit spiegelt. Ein Wunsch, in dem er sich mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung sieht und der auch seinem intellektuellen Potenzial entspricht, aber dennoch immer wieder zu Konflikten und Katastrophen führt. Die neidischen Brüder werfen ihn in einen Brunnen und verkaufen ihn dann an Sklavenhändler nach Ägypten, wo er eine vielversprechende Karriere als Hausverwalter des hohen pharaonischen Beamten Potiphar beginnt. Die allerdings jäh endet, als ihn Potiphars Ehefrau, deren Verführungskünsten er aus Treue zu seinem Dienstherrn widersteht, der Vergewaltigung bezichtigt.

Doch auch im Kerker schafft es Joseph, mit seinen Qualitäten als Manager und Traumdeuter zu reüssieren und die Kunde davon bis zum Pharao dringen zu lassen. Der von kryptischen Träumen geplagte Nil-Herrscher lässt sich von Joseph beraten und erhebt ihn schließlich zu seinem Stellvertreter, um die Abfolge der je sieben fetten und mageren Jahre in den Griff zu bekommen. Aus Joseph, dem Träumer, wird »Joseph, der Ernährer«, so auch der Titel des vierten Bandes des Mannschen Romanwerks. Ernährer auch seiner Brüder, seiner Familie, die die Dürre nach Ägypten treibt. Am Ende steht die Versöhnung, des Vaters Segen.

Die Joseph-Geschichte lebt weniger von ihren dramatischen Höhepunkten als vielmehr von dem auf diese hinführenden Erzählstrom. Was Joseph anfangs im Traum schicksalhaft empfindet, vollendet sich im Wirken für die Menschen. »Wie man wird, was man ist« - dieser Untertitel der autobiografischen Schrift »Ecce homo« des Philosophen Friedrich Nietzsche, dessen Einflüsse Thomas Manns Werk durchziehen, entspricht auch dem Werden Josephs. Zugleich steht Letzteres für die Umwendung vom Mythos zum Humanen. Das war für Mann besonders wichtig in einer Zeit (die Joseph-Romane erschienen zwischen 1933 und 1943), die den Mythos gegen das Humane wendete, insbesondere gegen jenes Humane, dessen Begründung - wie in der Joseph-Geschichte - aus dem Geist des Judentums erwächst.

Christian Stückl gelingt es, den Erzählstrom so zu choreografieren, dass sich aus dem Wechselspiel von Chor (der zugleich das »Volk« darstellt) und Protagonisten die szenische Abfolge in harmonischen Übergängen entfaltet. Ein gelungenes Zusammenspiel vor dem Panorama-Halbrund des Bühnenbildes. Mit dessen blautöniger Exotik machte Stefan Hageneier (der auch die Kostüme entwarf) die Weite der Passionsbühne für die wechselnden Handlungsorte kompatibel - von Wüste über karge Vegetation und Wasser bis zu Elementen ägyptisch-antiker Architektur. Dekor wie Kleidung sind stilsicher und optisch gefällig, zugleich den Erwartungen an ein Volkstheater angemessen. Oberammergau ist nicht Bayreuth. Hier setzt man nicht auf Experiment und Provokation, sondern auf Tradition und Kontinuität.

Zu dieser Kontinuität passt, dass Joseph-Darsteller Frederik Mayet 2010 als Jesus auf der Passionsbühne agierte. Eine assoziative Besetzung, die immer wieder zu Vergleichen anregt zwischen dem das weltliche Anspruchsdenken verweigernden Gottessohn und dem mit Gottes Hilfe auf seine Karriere setzenden Patriarchensohn. Mayet, der ein glaubwürdiger Jesus war, bringt auch das innere Ringen und Reifen Josephs überzeugend nach außen. Wobei die Zäsuren in Josephs Leben dramaturgisch eingängig als Gewänder-Wechsel sichtbar gemacht werden. Da ist zunächst das prächtige Hochzeitsgewand der bei seiner Geburt verstorbenen Mutter Rahel, das er dem Vater abschwatzt und in dem er seine Erhöhung gegenüber den Brüdern sieht. Die Brüder reißen es ihm weg, bevor sie ihn in den Brunnen stoßen und dann nach Ägypten verkaufen. Auch Mut-em-enet, Potiphars Weib, reißt ihm sein Kleid herunter - als Indiz angeblicher Notzucht. Rettung, Wende und Aufstieg dokumentiert dann die Amtstracht, die er als Stellvertreter des Pharaos anlegt. Der Kreis schließt sich, als Jaakob unter seinen Söhnen endgültig Juda als patriarchalen Nachfolger erwählt und dieser das einst von Joseph nur kurzzeitig getragene Kleid Rahels erhält.

Bei Joseph hingegen paart sich die äußere Erhöhung mit einer inneren Bescheidung. »Denn«, so resümiert er, »euer Bruder ist kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils, sondern er ist nur ein Volkswirt, und dass sich eure Garben neigten vor meiner im Traum, wovon ich euch schwatzte, und sich die Sterne verbeugten, das wollte so übertrieben Großes nicht heißen, sondern nur, dass Vater und Brüder mir Dank wissen würden für leibliche Wohltat.«

Thomas Manns Sprache ist auch auf der Bühne (und in oberbayerischer Färbung) ein Ereignis. Das zeigen die Oberammergauer. In abgestufter Qualität, wie es bei jedem Ensemble, erst recht bei einem aus Laien bestehenden, zu erwarten ist. Zudem lassen Figuren im »Joseph« Raum für eine dem Volkstheater eigene derb-fröhliche Interpretation, auch wenn diese mitunter doch etwas zu klamottig gerät.

Die kongeniale Musik von Markus Zwink und der Auftritt echter Kamele tun ein Übriges, den Zuschauer von Oberbayern nach Unterägypten zu versetzen.

Dort, in Ägypten, soll es im nächsten Jahr weitergehen. Vor dem Spielhaus verkünden Plakate bereits das nächste Projekt von Christian Stückl: William Shakespeares »Antonius und Cleopatra«. Die freundlichen Spiele 2012.

Weitere Aufführungen: 13. und 14. August


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Stütze und Stab beim Weg durch dunkle Täler

Wie die Joseph-Tetralogie den Dichter in den Jahren des Exils begleitete - eine Ausstellung

Von Ingolf Bossenz


Wenn Eckhard Zimmermann von den »Thomas-Mann-Festspielen in Oberammergau« spricht, ist das zwar ironisch gemeint, aber nicht übertrieben. Der Germanist ist Kurator der Ausstellung »Leiden und Größe im Exil - Der Josephs-Roman und Thomas Mann« im Museum von Oberammergau. Sie begleitet, ergänzt und vertieft, was noch bis Mitte August ein paar hundert Meter weiter im Passionstheater zu sehen ist: Christian Stückls Inszenierung des Romanwerks »Joseph und seine Brüder«. Aufführung, Ausstellung und eine (leider bereits beendete) Vortragsreihe fügen sich zu einem Kunst-Bildungs-Ensemble.

Ein Impuls aus dem Alpenvorland, der kaum zu überschätzen ist. Denn: »Die Erkenntnis«, so der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke, »dass der Joseph-Roman Thomas Manns eigentliches Hauptwerk ist, hat sich bis heute noch nicht durchgesetzt.«

Diese Erkenntnis macht die Oberammergauer Schau bereits in dem als Leitmotiv gewählten Thomas-Mann-Zitat von 1948 deutlich: »Ich bin diesem Werke dankbar, das mir Stütze und Stab war auf einem Wege, der oft durch so dunkle Täler führte - Zuflucht, Trost, Heimat, Symbol der Beständigkeit war es mir, Gewähr meines eigenen Beharrens im stürmischen Wechsel der Dinge.« Von 1926 bis Anfang 1943 arbeitete Mann am Manuskript, davon rund 10 Jahre im Schweizer und US-amerikanischen Exil. Diese Jahre und das politische Geschehen prägten die literarische Ausformung des biblischen Stoffes. Das betrifft sowohl die Vision strikter Humanisierung der Gesellschaft wie die Zeichnung konkreter Figuren. So finden sich bei Josephs planwirtschaftlichem Wirken in Ägypten Züge des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, dessen »New Deal«-Kurs Thomas Mann stark beeindruckte.

Materialsammlungen Manns, Zeitdokumente, Buchausgaben und andere Publikationen verdeutlichen, wie der Joseph-Zyklus entstand und wie sehr er mit dem politischen Engagement des Dichters verwoben ist. Ein Engagement, dass im Exil vor allem darauf setzte, eine Botschaft zu vermitteln, die vom deutschen Volk empfangen wird. Was - Ironie der Geschichte - in der braunen Zeit nur mittels »Volksempfänger« möglich war, wenn man diesen unter Gefahr schwerer Strafe auf den deutschsprachigen Dienst der BBC justierte. Aus einem solchen Gerät im Zentrum der Ausstellung ertönt Manns Stimme mit BBC-Reden 1941-1945, die stets mit den Worten »Deutsche Hörer!« begannen.

Das war lange nach jener Zeit, in der sich Thomas Mann »dankbar für friedliche Tage« zeigte. So schrieb er auf einer Porträtkarte an die Familie Böld, Inhaber einer Pension in Oberammergau (heute: Landhotel Böld). Dort hatte sich Mann mit Frau Katia und Tochter Elisabeth im November 1929 eingemietet, um dem Presserummel in München zu entfliehen, den er nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises erwartete. Über 80 Jahre später ist Thomas Mann wieder in Oberammergau. Eine Rückkehr, die man durchaus spektakulär nennen kann.

Ausstellung bis 6. November 2011


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Quelle:
Ingolf Bossenz, August 2011
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 06.08.2011
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/203782.von-oberbayern-nach-unteraegypten.html

URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/203781.stuetze-und-stab-beim-weg-durch-dunkle-taeler.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2011