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NACHGEFRAGT/001: Am Teig der Welt oder das Los der Satten (SB)


Gólgota Picnic


Eine opulente Bühnenausstattung mit Unmengen bester und eigens dafür erworbener Lebensmittel war am 23.01.2012 im Thalia-Theater in Hamburg Kulisse, Werk- und Verbrauchsstoff sowie essentielles Ausdrucksmittel der sechs professionellen Akteure, dem Zuschauer in einem etwas über zwei Stunden währenden Schauspiel die Dialektik und den Widerspruchsgehalt der Religion im allgemeinen und des christlichen Abendmahls im besonderen vor die zu schockierenden Augen zu tragen.

Offensichtlich unverzichtbar für die Boten und die Botschaften dieser alles andere als neuen Erörterungen christlich-religiöser und moralischer Inhalte war, mit verurteilungs- und bezichtigungsbefrachteten Textfragmenten und Scheindialogen, die ausgiebige Konzentration auf eine alles dominierende Freß-, Furz-, Kotz-, Spuck-, Schmier- und Schmatzorgie. Dem Titel "Gólgota Picnic" wurde auf Campingstühlen nackt, in Kreuzigungen simulierenden Posen und dem Verderben raumfüllender Mengen an Grundnahrungsmitteln und Nährwerten aufs Ausführlichste Rechnung getragen. Mit Hackfleisch sich einreibende, Brot auf Brot erbrechende und sich in Aufstrich mit nackten Körpern windende Akteure machten der entfesselten Picnic-Provokation alle Ehre, und nicht konterkarrierend schloß das Spektakel mit der 40 Minuten währenden Lästigkeit eines nackten Pianisten, der mit dem als besinnlich und meditativ reklamierten Spiel des Klavierstücks "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" von Joseph Haydn das Publikum und den Rest der Welt wieder in ihren eigenen Abgrund entließ.

Der voyeuristische Reigen verschiedenster Medien um die in der großen Öffentlichkeit sonst wenig beachtete Aufführung der provokativen Inszenierung des nach Kenntnis der Redaktion bis dato in Spanien, Holland, Österreich und Frankreich auf die Bühne gebrachten Stücks "Gólgota Picnic" (von Rodrigo García unter eigener Regie am 23.01.2012 im Hamburger Thalia-Theater) in der Gewogenheit publikumstranspiraler heimlicher Gier und anonymer Beteiligung, die nur noch durch die sie begleitende Insuffizienz überschnappender kulturpseudologischer Kommentare überboten wurde, beweist zunächst einmal, daß es für derart gegenstands- und inhaltlose Darbietungen in der sattsam bekannten und dafür ausgenommen patinavergorenen reinen Mikrogesellschaft einen Ort und die ersehnte Gelegenheit zur Präsentation der überirdischen Lust am Verfall gibt. Gab es doch kaum einen anderen Scheindissens zwischen den beiden gesellschaftlichen Polen feudalantiquierter Wirklichkeitsverschleierung, als die ach so kontroverse Frage an das gemeinsame Orakel dieser Veranstaltung nach der Gottesblasphemie oder der Freiheit der Kunst zu stellen und damit, offenkundig allzu gemeinsamen Interessen folgend, der Armut und Not, insbesondere aber dem Hunger auf diese Weise zusammen mit beiläufiger Arroganz und zielloser Verachtung zu begegnen.

Zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Brötchen, große Mengen Fleisch und große Mengen Honig mußten für die verdorbene Mahlzeit dieses obszönen Bühnenspektakels herhalten, mit mächtigem Aufwand nicht zu zeigen, worum es tatsächlich auch nicht ging. Eher wurde mit diesem bis dato in sechs Städten aufgeführten Stück die Zurschaustellung größenwahnsinniger Zerstörungs- und Verschwendungslust vor einem passend gelangweilt übersättigten Publikum und seinen medialschranzenden Berichterstattern zelebriert. Zum unendlichsten Male wurden auch im medialen Echo der Hamburger Veranstaltung die Religion und die Freiheit der Kunst zum Gegenstand eines Scheinkonfliktes überspannt, der sich auf dem Boden kulturbeflissenen Strebens zur Schirmherrschaft gegen die wirklich ins Spiel gebrachten Probleme aufrufen läßt, nämlich die Tatsache des überbordenden Hungers in der Welt, auf unserem Kontinent und vor unserer Tür.

Nicht einmal ein halbherziger Versuch ließ sich in allem, was über Mikrophone und Zeitungspressen zu verbreiten war, dazu aufspüren, die denkbar substanziellste und naheliegendste Frage an den Anfang jeder Erörterung über das Stück zu stellen: Wem wurden die rund fünfundzwanzigtausend Brötchen, das viele Fleisch und der viele Honig, die sprichwörtlich zum Boden und Objekt der Verschwendung und so zum hohnlachenden Inhalt jeder Nahrungsmittelnot gemacht wurden, vom Munde geraubt?

© 2012 by Schattenblick

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3. Februar 2012