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BERICHT/098: Freie Szene - Kultur auf unseren Schultern ... (SB)



Am 8. Juni flimmerte der Newsletter des diesjährigen Hamburger Theaterfestivals auf die Bildschirme der Redaktion. Darin angekündigt zehn Inszenierungen an etablierten Spielstätten Hamburgs, getragen und finanziert von Spenden großzügiger Sponsoren, Stiftungen und Unternehmen. Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt und Schirmherr des Festivals, dankte allen, die "sich damit für die Kulturmetropole Hamburg engagieren!« [1]

Wenige Tage später, am 12. Juni, hatte die Freie Szene darstellender Künste Hamburg, auch sie "für die Vielfalt und Weiterentwicklung der Kultur in Hamburg von großer Bedeutung" [2] und für Kultursenator Carsten Brosda "gesellschaftlicher Impulsgeber" [3] zu Pressekonferenz und Release ihres Spielzeitkalenders 2018/19 ins Fleetstreettheater in der Admiralitätsstrasse geladen.


Blick auf Künstler und Publikum im gut besuchten Theaterraum - Foto: © 2018 by Schattenblick

Release im Fleetstreettheater
Foto: © 2018 by Schattenblick

Darin eine Vielzahl neuer Produktionen und Wiederaufnahmen aus den Bereichen Tanz und Performance, Sprech- und Musiktheater, Kinder- und Jugendtheater sowie Puppentheater, die an verschiedensten Spielorten der Stadt, in den bekannten Theatern der Szene (Kampnagel, Lichthof, Monsun Theater, Fundus Theater oder Sprechwerk), aber auch in Parks, Museen, Cafés, Clubs und Bars wie dem Molotow und dem Grünspan auf St. Pauli oder in selbstorganisierten Spielstätten wie dem Gängeviertel, dem Kraftwerk Bille oder der MS Stubnitz NICHT STATTFINDEN werden.

Eine Weltpremiere nannte Regisseur und Mitverfasser Matthias Mühlschlegel den neuen Kalender, war es den Machern doch um mehr gegangen als zu konstatieren, daß die fünf den verschiedenen Sparten zugeordneten ehrenamtlichen Jurys aus 149 Anträgen gerade einmal 31 für eine Förderung durch die Stadt Hamburg in der Spielzeit 2018/19 ausgewählt hatten; damit war das Budget von 675.000 Euro erschöpft.[4] Vielmehr wollte man sichtbar machen, was der Öffentlichkeit entgeht, wenn sie die 57 Uraufführungen, 18 Wiederaufnahmen aus der Spielzeit 17/18 und 2 Festivals nicht zu sehen bekommt. "In diesem Kalender geht es nicht um die einzelnen Förderentscheidungen, nicht um die Verteilung des Fisches, sondern um den Fisch selbst", betonte Barbara Schmidt-Rohr vom Vorstand des Dachverbandes der Freien darstellenden Künste Hamburg e.V. (DfdK).


Fischkopf auf dem Spielzeitkalender der Freien Szene - Foto: © 2018 by Schattenblick

Symbolträchtiges Motiv
Foto: © 2018 by Schattenblick

Die Landschaft der Freien habe sich enorm entwickelt, qualitativ wie quantitativ, sei vielfältiger und internationaler geworden. "Sie bringt neue Narrative hervor, die von der Komplexität des Zusammenlebens erzählen und auf ein breites, kulturell und sozial divergierendes Publikum hin orientiert sind. Themenstellungen wie Inklusion, kulturelle Bildung, Integration und soziale Teilhabe sind seit jeher Teil der theatralen Situation." [5]

Statt also die Finanznot nur zu beklagen, präsentierte die Szene einem interessierten Publikum, stellvertretend für alle nicht geförderten, sechs Projekte, die von den jeweiligen Künstlern selbst vorgestellt wurden.

Darunter Meyer&Kowski (Susanne Reifenrath und Marc von Henning) mit der Performance-Umsetzung eines Buches von Vater Hans Joachim Reifenrath "Der manipulierte Sex" aus dem Jahr 1968 um die Kommerzialisierung eines tabuisierten wie omnipräsenten Sujets. Per Video zugeschaltet waren Nora Elberfeld und Jonas Woltemate, die mit ihrer Choreografie "Golden" dem Minimalismus und der Fokussierung auf Reduktion ihre Visionen zum Thema Opulenz entgegensetzen. Geheimagentur plant mit "Die Marina Abramovic" einen dreitägigen Performanceparcours auf einem Anleger an der Bille über das Feste und das Flüssige und seine Übergänge. Meine Damen und Herren, eine Gruppe von professionellen Schauspieler*innen mit sogenannter geistiger Behinderung präsentiert mit "Auf Platz zwei" als Zweikampf organisierte Performances zwischen Behinderten und Nichtbehinderten als Gegenentwurf zur normativen Leistungsgesellschaft und liebevollen, nachhaltigen Blick auf das Gemeinschaftsleben.

Abgelehnt im Bereich struktureller Förderung wurde auch Hajusom, ein Ensemble aus geflüchteten Jugendlichen, die seit 1999 sich und ihre Geschichten in Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern mit großem Erfolg deutschlandweit und inzwischen auch im Ausland auf die Bühne bringen und unterdessen zu einem Arbeits- und Lebenszusammenhang gewachsen sind. Last not least präsentierten BauchladenMonopol unter lautstarker Anteilnahme des Publikums Szenen aus ihrer begehbaren Bühnenperformance "Ohjemine". In bemerkenswerter Synchronizität von Sprache und Bewegung räsonierten Carolin Christa und Sophia Guttenhöfer über "den ersten und letzten Atemzug im Leben", das Jammern, und über die verhängnisvolle Affäre von Arbeit und Geld.

Womit wir wieder beim Thema wären. Denn jenseits aller präsentierten und präsentablen künstlerischen Ergebnisse landete der Vormittag doch und vorrangig bei der Finanznot, die sich als der stabilste aller Fäden durch die Geschichte der Arbeit der Freien zieht.


Die Vertreterin des Redaktionsteams mit Mikrofon - Foto: © 2018 by Schattenblick

Autorin und Theatermacherin Greta Granderath berichtet von der Entstehung des Spielzeitkalenders
Foto: © 2018 by Schattenblick

In einem in Gesprächen mit Künstlern und Spielstätten entstandenen Konzeptionspapier fordern die Freien eine Aufstockung der Mittel von einer auf 3,2 Millionen Euro im Haushalt der Hansestadt 2019/20, zur Projektförderung, zur Förderung von Gastspielen und Wiederaufnahmen bereits gelungener Produktionen, aber auch zur Stärkung von Strukturen und Netzwerken in der Szene, wozu u.a. die Bereitstellung günstiger Arbeitsräume, eine bessere technische und personelle Ausstattung und eine zentrale Online Plattform gehören. Das sei, so Choreografin und Dramaturgin Schmidt-Rohr, verglichen mit anderen Ländern, Städten und Kommunen, eine vergleichsweise geringe Summe, zumal inzwischen rund ein Viertel aller Produktionen im Bereich der darstellenden Künste in Deutschland frei produziert werden. Außerhalb Hamburgs sei besser verstanden worden, daß die Freien neben staatlichen und privaten Spielstätten die "real existierende" dritte Säule der Theaterlandschaft sind und keine kleinen "projektbasierten Zuwendungsempfänger". [5]

Daß sich das Konzeptionspapier eher wie ein gut abgewogener Businessplan denn wie ein Forderungskatalog liest, verdeutlicht, wieviel diplomatisches Geschick es braucht in dieser Arena von Mittelvergabe und Bedürftigkeit. Allein der Vergleich mit den etablierten Institutionen, die Jahr für Jahr mehr Geld bekommen, kann schon für Unmut bei den Verantwortlichen sorgen.

In einem Kommentar zur Spielzeit 18/19 stellte die Jury fest: "Die freien darstellenden Künste haben in Hamburg ein großes Potential: Das ist der Eindruck der Jury, von der die Behörde für Kultur und Medien bei der Förderung der Szene für die Spielzeit 2018/19 beraten wird. So froh diese Botschaft erst einmal ist, hat sie doch eine Kehrseite, denn aus Sicht der Jury übersteigen die förderungswürdigen Anträge bei weitem das zur Verfügung stehende Budget. [...] Um das Bestehende nicht weiter einzuschränken und im nationalen wie internationalen Vergleich nicht noch weiter zurückzufallen, bedarf es dringend einer Aufstockung der Förderungsgesamtsumme. [6]


Fischschwanzflosse auf dem Spielzeitkalender mit rotem Button JETZT! - Foto: © 2018 by Schattenblick

Mit der Kampagne #JETZT! rufen die Freien dazu auf, den Spielplan massenhaft an den Kultursenator zu schicken
Foto: © 2018 by Schattenblick

Die Abhängigkeit der Kunst vom Mäzenatentum, ob paternalistischer Natur oder demokratisch gewählt, aus privater oder öffentlicher Hand, hat eine lange Tradition. Die Freiheit der Kunst ist eine fiktive, machte auch Anja Kerschkewicz vom DfdK in einem Gespräch mit dem Schattenblick deutlich. "Ich bin ja erstmal in einer Fiktion frei, aber in der Sachwelt draußen bin ich das nicht. Deswegen macht man Kulturpolitik, um sich diese Freiheit zu erkämpfen. Vor allem die performativen Künste sind eine sehr kostenaufwendige Kunstform, weil wir mit Menschen arbeiten." Deshalb müsse, anders als bei Einzelkünstlern, bei Performern, Tänzern oder Theaterleuten immer mit bedacht werden, daß ein ganzes Team bezahlt sein will, dazu Probenräume etc. "An meinen Projekten hängen bis zu zehn Personen, die ich als Regisseurin über meinen Projektantrag mitfinanzieren muß. Es ist wahnsinnig frustrierend, diesen Leuten zum Beispiel zu sagen, daß das Geld nicht gekommen ist. Da hängt sehr, sehr viel dran. Deswegen ist man automatisch in einer anderen Arbeitsstruktur, weil man Verantwortung für andere übernimmt, weil wir miteinander arbeiten. Da sind größere Strukturen zu finanzieren."

Wie prekär die Lage der Freien ist, veranschaulichte zum Schluß der Veranstaltung auch Juliana Oliveira in ihrer Aufstellung unsichtbarer Zahlen. Die Theatermacherin und Performerin machte eine Rechnung auf, nach der von ca. 30.000 anfallenden Arbeitsstunden vor Produktion eines Projektes für Idee, Recherche und Konzeptionierung, Antragstellung, Künstlersuche, Klärung von Spielstätte und Proberäumen etc. lediglich ca. 20.000 gefördert würden, aber nur dann, wenn der Antrag bewilligt wird. Sonst war im Sinne des Wortes alles umsonst.


Markenzeichen 6-fingrige Hand an der Außenfassade des Fleetstreettheaters - Foto: © 2018 by Schattenblick

Sechs Finger sind eine Kunst
Foto: © 2018 by Schattenblick

Immer noch müssen die meisten Freien neben ihrer eigentlichen Profession sogenannten Brotberufen nachgehen. "Das ist wirklich hart", sagt eine Betroffene, die seit vielen Jahren als ausgebildete Regisseurin in der Szene aktiv ist und eine zunehmende Deprofessionalisierung beklagt, wenn Künstler kellnern oder putzen gehen müssen, um sich und ihre Familien über Wasser zu halten. Und die Schere, ergänzt Barbara Schmidt-Rohr, zwischen etablierten Theatern und freier Szene geht immer weiter auseinander.

Wie die zwischen arm und reich auch anderswo. Vielleicht wäre eine Utopie, die die Not, "bitte" und "danke" zu sagen, abgeschafft hat, weil herrschaftsbasierte Zuteilung kein Thema mehr ist, ein möglicher Gegenstand für ein neues, visionäres, genreübergreifendes (nichtgespieltes?) Stück.


Anmerkungen:

[1] www.hamburgertheaterfestival.de
[2] https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=15286:freie-szene-hamburg-hamburg-leistet-sich-hochglanzprojekte-die-schere-zur-off-szene-ist-gross-gekaempft-wird-nicht-nur-ums-geld&catid=53:portraet-a-profil&Itemid=83
[3] http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/8602922/elbkulturfonds-2018/
[4] http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/10374410/foerderung-freie-darstellende-kuenste-2018-19/
[5] https://dfdk.de/dfdk-aktuell/320-konzeptionspapier-zum-auf-und-ausbau-der-foerderstrukturen-der-freien-szene-darstellender-kuenste-in-der-freien-und-hansestadt-hamburg.html
[6] https://dfdk.de/dfdk-aktuell/20-kulturfoerderung/319-hamburg-jurykommentar-spz-18-19.html


18. Juni 2018


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