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INTERVIEW/007: Ein Gespräch mit Gerda König über den Wandel zeitgenössischer Bewegungsästhetik (SB)


"Kunst sollte Fragen stellen und zum Dialog auffordern."


Die Choreographin und Tänzerin Gerda König gründete 1995 ihre professionelle mixed-abled Tanzkompanie DIN A 13 in Köln als eine der ersten in Deutschland und Europa. Inspiriert durch mixed-ability-Pioniere wie Alito Alessi, der bereits 1987 einen ersten Workshop für mixed-abled dance in den USA gab und 1991 begann international zu arbeiten, ließ sie die Frage nach einer durch die Körperlichkeit jedes einzelnen bestimmten Weiterentwicklung des Tanzes und die Idee dieser von Grund auf neuen tänzerischen Bewegungsästhetik nicht mehr los. Mit schier unermüdlichem Engagement initiierte Gerda König seit 2005 mixed-abled dance-Projekte in São Paulo, Brasilien, in Nairobi, Kenia und in Accra, der Hauptstadt von Ghana. Ab Ende Dezember diesen Jahres wird sie zusammen mit DIN A 13-Projektleiter Gustavo Fijalkow und unterstützt vom Goetheinstitut eine neue Tanzkompanie körperlich eingeschränkter Laientänzer und Tanzprofis im Senegal aufbauen. Der Schattenblick hatte im Zuge des Simple Life Festivals 2010, das im November in Hamburg auf Kampnagel stattgefunden hat, die Gelegenheit, kurz vor der Aufführung des von Gerda König und der Dance Factory Accra choreographierten Stückes "Patterns Beyond Traces" mit der Künstlerin zusammenzutreffen und ein Telefoninterview mit ihr zu verabreden.


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Schattenblick: Frau König, welche Rolle hat Tanz in Ihrer eigenen Lebensgeschichte gespielt? Hat es ein besonderes Erlebnis gegeben oder eine besondere Begegnung, womit alles begonnen hat?

Gerda König: Tanz war für mich immer spannend, das fand ich schon als Kind. Ich habe aber nie darüber nachgedacht, dass ich es selbst mal machen oder choreographisch arbeiten würde. Durch eine Freundin von mir, die in Amsterdam Tanz studierte - ich bin oft dort gewesen und habe mir Performances angeguckt - habe ich in Köln durch Zufall ein Show von einer Improvisationsgruppe gesehen, die unter anderem von Alito Alessi geleitet wurde, und habe ihn dann kennen gelernt. Alito Alessi war damals der Pionier von mixed-ability in Amerika, in Eugene, Oregon. Zwei Wochen später bin ich dann zu einem Workshop nach Österreich gefahren. Es ging um Kontaktimprovisation und war der erste Workshop, an dem ich teilgenommen habe. Dort war eine Frau, die eine ganz schwere Spastik hatte und deren Hand sich immer in einem besonderen Rhythmus drehte, in einer besonderen Qualität. Ich habe gesehen, dass Alito sich mit ihr unterhielt und irgendwann beiläufig zu ihr sagte: "Nice movement." Das war so der erste Moment, wo ich sehr bewusst eine Bewegung gesehen habe. Später war diese Frau auf dem Boden und sie hat sich einfach unglaublich bewegt. Alle Profitänzer wollten eigentlich nur mit ihr zusammenarbeiten. Irgendwann hat Alito dann noch mal gefragt, ob irgendjemand im Raum sich so bewegen könnte wie sie. Das hat damals so ziemlich alles umgedreht, was Tanz ist, was Perfektion ist, was Ästhetik ist und es auf den Punkt gebracht.

Gerda König kurz vor der Vorstellung Patterns Beyond Traces in Hamburg auf Kampnagel - © 2010 by Schattenblick

Gerda König kurz vor der Vorstellung "Patterns Beyond Traces" in Hamburg auf Kampnagel
© 2010 by Schattenblick

Ich habe damals auch noch eine Performance von Alito und seinem damaligen Mitarbeiter Emery Blackwell gesehen. Das war die erste Bühnenperformance, wo ich beide als gleichwertige Tänzer und Performer auf der Bühne erlebt habe, so dass es keinen Unterschied machte, wer jetzt eine Behinderung hatte und wer nicht. So fing es an. Damals hatte ich noch das große Glück, dass in Köln an der Sporthochschule eine mixed-abled Gruppe existierte, die sich Mobiaki nannte und semi-professionell war. Mit denen habe ich angefangen zu arbeiten und nach ungefähr drei Jahren habe ich dann meine eigene Company gegründet.

SB: Ihre Tanzkompanie DIN A 13 ist ja bekannt dafür, dass Sie eine eigene Ausdrucks- und Bewegungssprache entwickelt hat. Können Sie die Eigenheiten dieser anderen Tanzform einmal für uns in Worte fassen?

GK: Ja, ich arbeite mit Tänzern mit und ohne körperliche Besonderheiten, das heißt, in jedem Stück, das ich choreographiere, bin ich immer wieder mit neuen und anderen Körpern konfrontiert, die eine andere Bewegungsqualität haben und immer wieder ein neues Spektrum an Bewegungen liefern. Mit eben diesen Bewegungsqualitäten arbeite ich choreographisch. Mir geht es nicht darum sie zu verstecken, sondern sie zu inszenieren, ihr Potential und ihre Ästhetik. Das ist das Besondere an der Tanzsprache, die wir entwickelt haben, denn eigentlich sind das Bewegungen, die ein professioneller, noch so gut ausgebildeter Tänzer im Grunde nicht produzieren würde.

SB: Heißt das, im Unterschied zu Contemporary Dance im gewohnten Sinne, dass eben die Perfektion nicht dadurch hergestellt wird, dass Unzulänglichkeiten verschleiert werden? Denn es ist ja auch im Tanz von normalen Menschen oder Menschen ohne Einschränkung so, dass sie möglichst etwas, was nicht perfekt ist, also den menschlichen Körper, perfekt aussehen lassen wollen.

GK: Nein, ich würde schon sagen, dass wir sehr perfekt arbeiten. Das, was wir machen, hat höchste Perfektion, aber Perfektion heißt nicht, dass ich dazu einen normalen Körper brauche, sondern Perfektion heißt, dass all das, was auf der Bühne passiert, genau abgestimmt ist und dass die Bewegungen genau durchgeführt werden, mit Inhalt, mit einer Intention. Und da müssen die Leute, die Tänzer mit Behinderung, genauso gut sein wie die anderen auch; da sehe ich überhaupt keinen Unterschied. Und es ist auch zeitgenössischer Tanz. Darüber hinaus ist es nichts anderes, es ist ein Teil des zeitgenössischen Tanzes.

SB: Sie haben sich in Ihren Tanzprojekten in São Paulo, Nairobi und Accra mit der Entstehung von gesellschaftlichen Tabus auseinandergesetzt.

GK: In Accra nicht, aber in Kenia und Brasilien.

SB: An welche Grenzen sind Sie dort mit Ihrer Arbeit gestoßen, was haben Sie über diese Grenzen gelernt?

GK: Wir haben in beiden Ländern über Tabus gearbeitet, die es in jeder Kultur gibt. Wir haben mit denselben Aufgaben gearbeitet und dabei sind zwei extrem unterschiedliche Stücke entstanden, weil beide Kulturen auch sehr unterschiedlich sind und weil die Tabus in jedem Land ganz andere sind. Ich würde jetzt nicht sagen, dass wir im Rahmen des Stückes an Grenzen gestoßen sind, denn wir haben einfach mit der Thematik gearbeitet und haben sie inszeniert. Wenn Sie jetzt aber meinen, dass man im Rahmen der kulturellen Auseinandersetzung an Grenzen gestoßen ist, dann war das sicherlich in Kenia eine größere Herausforderung als in São Paulo, weil São Paulo sehr viel westlicher ist als ein afrikanisches Land. Und zumal Nairobi, wo es kulturell wirklich noch sehr große Unterschiede gibt, im Gegensatz zu Europa.

Natürlich ist Behinderung in dem Sinne ein Thema in Kenia, das generell gesellschaftlich extrem stigmatisiert ist. Speziell in den Dörfern, in Nairobi selber nicht, aber in den Dörfern werden oft Kinder, die eine Behinderung haben, von ihren Familien versteckt, so dass die Nachbarn oft gar nicht wissen, dass da ein solches Kind existiert. Das sind natürlich andere Gegebenheiten, als wir es gewohnt sind. Und natürlich sind die Erwartungen oder die Vorurteile, die am Anfang da waren, auf beiden Seiten und es ist erstmal auch eine Annäherung auf beiden Seiten gewesen. Manche Tänzer, die zwar nicht so eine hohe Bildung hatten, aber irgendwie vom Nationalsozialismus wussten, haben uns gegenüber schon Vorurteile gehabt oder Angst, dass wir in irgendeiner Form doch irgendwann mal ganz hart und scharf werden könnten, was mich im Nachhinein sehr erschreckt hat. Denn wir versuchen, die Projekte und die Gruppen von Anfang an sehr familiär und persönlich aufzubauen, und das sind dann schon Momente, in denen man mit kulturellen Unterschieden konfrontiert ist.

SB: Und in Accra, also bei dem Stück "Patterns Beyond Traces", stand dann die Tradition im Mittelpunkt und nicht die Tabus?

GK: Ja, die Rituale. Wir haben über Rituale gearbeitet, die in Ghana immer noch sehr starke Wurzeln haben, die aber auch mit alltäglichen Ritualen gekoppelt sind, wie wir sie auch in unserem Land kennen. In diesen Auseinandersetzungen arbeite ich immer, mit allen Tänzern in jedem Land, so, dass wir im Dialog die einzelnen Sachen entwickeln und ich mir viele, viele Geschichten erzählen lasse, um erstmal einen Einblick zu bekommen. Literatur kann man sich anlesen, aber es ist etwas anderes, wenn man im Land selber ist. Und daraus entwickeln sich dann die einzelnen Szenen, wie sie auch für "Patterns Beyond Traces" entstanden sind.

SB: Gibt es ein Beispiel, mit dem Sie gearbeitet haben, ein Ritual, das Sie erst dort kennen gelernt haben und das wir hier vielleicht gar nicht kennen?

GK: Es gab verschiedene Szenen, die aufgrund dieser Informationen, die ich bekommen habe, entstanden sind. Da gab es einmal dieses Duett von den beiden Männern, das sehr kämpferisch war, aber ohne, dass sie sich berührten. Diese Szene ist entstanden, als sie mir erzählten, dass es ein Ritual gibt, mit dem man sich unberührbar macht. Wenn man in den Kampf zog, dann haben die Leute damals - und heute gibt es das wohl immer noch - dieses Ritual durchgeführt, um sich unantastbar im Sinne von unverwundbar zu machen. Wir haben dann mit Fragen gearbeitet wie: Was ist Unantastbarkeit und wie wird jemand unantastbar? Wie kann man das ins Bild setzen? Und wir haben ganz viel dazu improvisiert. So kam dann diese Szene von den beiden Männern zustande, die mit sehr viel Energie einen Kampf miteinander führen, quasi mit einem unsichtbaren Raum um sich herum, den man versucht anzugreifen und den man nicht durchbrechen kann.

In die Szene mit der Frau, die vorne am Rand der Bühne eine Haarwaschung macht, ist viel aus Reinigungsritualen eingeflossen. Dann gab es noch eine Szene, wo alle gesungen haben, mit einer sehr kämpferischen Musik dazu, ein Gesang von Kriegern, die früher in den Kampf gezogen sind. Das sind ganz alte traditionelle Lieder, die heute immer noch auf Festivals laufen. Daraus haben wir Szenen entwickelt, genauso wie die Spirale, die Sie am Anfang und auch am Ende wieder auf dem Bühnenboden gesehen haben. Es gibt viele patterns, Muster, eine reiche Symbolsprache, die überall in Kleidung und an Häuserwänden zu finden ist, eine bestimmte Symbolik, die verwendet wird, und die haben wir dann einfach mit ins Stück aufgenommen.

Das DIN A 13-Team und das Patterns Beyond Traces-Ensemble im Publikumsgespräch - © 2010 by Schattenblick

Das DIN A 13-Team und das "Patterns Beyond Traces"-Ensemble im Publikumsgespräch
© 2010 by Schattenblick

SB: Haben die Erfahrungen, die Sie in den unterschiedlichen Ländern gesammelt haben, auch Ihre Sichtweise auf die deutsche Gesellschaft und den Umgang mit körperlich eingeschränkten Menschen verändert?

GK: Natürlich ist, wenn ich in Afrika bin, die Situation für Menschen mit Behinderung sehr viel drastischer und schwieriger. Denn es gibt dort keinen speziellen Transport, es gibt keinen Assistenten für Menschen mit Behinderung, das läuft alles über die Familien. Allerdings gibt es verstärkt Gemeinschaften, also Gruppierungen von Organisationen, die für politische Belange arbeiten. Die Tänzer von Accra haben wir auch über eine Organisation gefunden. Die haben eine kleine Kreidefabrik und stellen Kreide her, sie haben Rollstuhlsport und stellen auch andere Dinge her, also das gibt es schon in den unterschiedlichen Ländern.

In Brasilien zum Beispiel, wo es eigentlich sehr viel gibt, noch nicht so viel, wie bei uns hier, aber trotzdem schon eine annähernd normale Situation vorhanden ist, ergab sich ein interessanter Aspekt, als ich mit den Brasilianern darüber gesprochen habe. Sie sagten, in Brasilien sei ja alles so schlecht und es wäre so schwierig, dort zu leben. Ich bin nun sehr viel in Brasilien gereist und war überhaupt oft im Ausland und eigentlich habe ich immer erlebt, dass dadurch, dass es keine feste, organisierte Struktur gibt und die Leute viel mehr gewöhnt sind, improvisieren zu müssen, viele Dinge einfach viel, viel unkomplizierter und viel leichter gingen, auch mit dem Rollstuhl. Das war immer meine Erfahrung. Dass ich also, obwohl die Situation vielleicht von den Umständen her schwieriger war, auf anderer Ebene viel mehr Vorteile hatte und ganz simple Sachen, wie in den Bus hineinzukommen oder irgendwo eine Rampe zu bauen, viel leichter waren. Das ging alles immer relativ schnell und unproblematisch, während man hier lange, lange dafür braucht, um so etwas durchzuführen.

Also das sind Unterschiedlichkeiten, die auch kulturell bedingt sind. Hier in Deutschland ist man gewöhnt, dass alles geregelt ist und dass alles seine Struktur hat. Wenn dann die Leute einfach damit konfrontiert werden, dass da auf einmal ein Rollstuhl ist, der vielleicht auch in den Bus rein will, dann sind alle verunsichert, weil man irgendwie nicht weiß, "Okay, wie gehe ich jetzt damit um?" Insofern würde ich sagen, gibt es Vor- und Nachteile in jedem Land.

SB: Es ist ja dann scheinbar auch eine Sache der Kommunikation.

GK: Ja, genau.

SB: Um jetzt die Tänzer mit den besonderen Körpergegebenheiten für diese Projekte zu finden, halten Sie auch Auditions ab.

GK: Ja, richtig.

SB: Nach welchen Kriterien wählen Sie die Teilnehmer aus?

GK: In den Auditions fordern wir bereits sehr viel von den Leuten, sowohl bewegungsmäßig und theatral als auch persönlich, um zu wissen, wie weit wollen sie gehen, wieviel wollen sie zeigen? In meiner Arbeit ist es so, dass ich mit den Tänzern sehr persönlich arbeite und da geht es auch schon mal in die Tiefe und es ist auch keine leichte Arbeit. Wir arbeiten sechs, sieben Stunden am Tag, fünf, sechs Tage die Woche, und das muss jemand auch durchhalten können. Vor allen Dingen suche ich aber immer nach Persönlichkeiten. Ich kann nicht mit jemandem arbeiten, der extrem schüchtern ist und sich überhaupt nicht traut, das geht einfach nicht. Ich brauche Leute, die den Willen haben, die Kraft aufbringen und die Persönlichkeit haben, zwei Monate mit uns zusammenzuarbeiten. Man kann das gar nicht so genau sagen, manchmal ist das irgendwie jemand, der einem besonders ins Auge fällt und der einfach spannend ist in dem, was er an Möglichkeiten bietet oder an Ideen einbringt, an Kreativität, das ist natürlich auch ein ganz wichtiger Faktor. Aber es geht nicht um eine Vorerfahrung im Tanz. Denn die Leute mit Behinderung haben ja, im Gegensatz zu den Profitänzern, die wir auswählen, alle gar keine Erfahrung in dem Bereich, vielleicht schon im traditionellen, aber nicht im zeitgenössischen Tanz. Unsere Aufgabe ist es wiederum damit dann umzugehen.

SB: Gibt des denn Behinderungen oder Einschränkungen, die eine Teilnahme an Ihrem Projekt unmöglich machen?

GK: Nein. Grundsätzlich würde ich sagen, nein. Ich arbeite speziell mit körperlichen Behinderungen, darauf liegt mein Schwerpunkt. Wir haben bis jetzt noch kein Projekt mit Menschen mit geistiger Behinderung durchgeführt, haben aber natürlich schon mehrfach Workshops gemacht, nur eben noch nicht in choreographischer Arbeit. Mein Schwerpunkt liegt auf der Bewegungsebene.

SB: Jeder kennt ja den üblichen Appell, dass man versuchen sollte für die besonderen körperlichen Gegebenheiten von Behinderten und ihre spezielle Situation Verständnis aufzubringen. Meistens ist diese Art von Verständnis aber dann doch nur eine andere Form die Distanz aufrecht zu erhalten. Mit welchen Mitteln brechen Sie in Ihrer Arbeit diese oberflächliche Toleranz der "Normalen" auf?

GK: Ich weiß jetzt nicht genau, ob ich Ihre Frage richtig verstanden habe. Ich arbeite choreographisch so, dass ich nicht das liefere, was man von Leuten mit Behinderung erwartet, sondern ich versuche immer an andere Grenzen zu gehen und mich bei den Produktionen inhaltlich an der Thematik zu orientieren. Choreographie ist immer inhaltlich und die Themen, mit denen wir arbeiten, die sind eigentlich immer sehr gesellschaftsorientiert, sehr gesellschaftsbezogen und kulturell bezogen. Das ist mir in erster Linie wichtig. Natürlich entstehen dabei provokante Szenen, denn ich möchte Dinge in Frage stellen, gesellschaftliche Fragen aufwerfen und damit wieder mit dem Publikum in einen Dialog kommen. Ich würde aber niemals das Thema "Behinderung" auf die Bühne bringen, denn das brauchen wir nicht. Das ist unnötig, weil ich in dem Moment, in dem ich das mache, ja schon wieder im Sinne des Publikums arbeite. Ich arbeite mit einem Thema und meine Tänzer haben unterschiedliche Fähigkeiten, Potentiale und Möglichkeiten und damit beschäftigen wir uns dann für das Stück. Dabei ist es mir nicht wichtig, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht, sondern da geht es mir einfach um den Tanz und um die Performance.

SB: Dann kann es sehr wohl eine Performance geben, die sich sozusagen mit "Ausgrenzung" befasst, in der es im Allgemeinen um das Thema geht und nicht darum, dass Behinderte ausgegrenzt werden?

GK: Nein, auf gar keinen Fall, das würde ich mir auch gar nicht anmaßen. Nein. Das finde ich auch nicht wichtig. Diese Frage ist ja schon da, wenn Sie einen Tänzer auf der Bühne haben, der einen anderen Körper hat. Ich meine, das verschwindet ja erst dann, wenn ich es nicht thematisiere, sondern irgendwie andere gesellschaftliche Themen inszeniere. Und indem ich choreographiere und damit arbeite, verschwindet ja auch gerade dieser Aspekt von "Behinderung".

Choreographin Gerda König - © 2010 by Schattenblick

Choreographin Gerda König
© 2010 by Schattenblick

SB: Auf welche Resonanz stoßen Sie bei Ihren körperlich
eingeschränkten Zuschauern?

GK: Ja, also erstmal finden das eigentlich alle sehr spannend und toll. Leider bekommt man aber in Deutschland wenige Leute ins Publikum, die eine Behinderung haben.

SB: Ja, das ist mir auch aufgefallen.

GK: Trotz guter Werbung sind das jedes Mal eigentlich wenige Zuschauer. Im Ausland haben wir mehr Publikum in der Richtung. Grundsätzlich ist es aber so, dass es, egal welches Publikum es ist, eigentlich immer einen Redebedarf gibt. Die Leute wollen einfach gerne Fragen über das Stück und über die Arbeitsmethoden stellen, über die Tänzer, und ihren kulturellen Hintergrund. Es ist einfach immer eine sehr große Neugierde da.

"Patterns Beyond Traces" war nicht besonders provokant, weil wir hauptsächlich an der Thematik gearbeitet haben. Bei anderen Stücken ist es anders. Da sagen die Leute dann auch schon mal, "das geht so nicht, das kann man nicht machen". Wir provozieren schon ein bisschen, was ich aber nicht schlimm finde, denn so kommt es zu einer Diskussion. Es gibt sehr positive Rückmeldungen, doch manchmal können die Leute nicht so ganz nachvollziehen, was wir da gerade machen oder warum. Aber das ist Kunst und Kunst sollte Fragen stellen und zum Dialog auffordern.

SB: Können Sie sich das irgendwie erklären, warum es gerade im deutschen Publikum so wenige behinderte Leute gibt? Die Vorstellungen sind wirklich gut besucht, das haben wir auf dem Simple Life Festival auf Kampnagel mitbekommen. Bei "Patterns Beyond Traces" habe ich höchstens drei Leute gesehen, die körperlich eingeschränkt waren.

GK: Es ist schwierig, dazu etwas zu sagen. Ich denke in Deutschland ist unsere Kultur grundsätzlich nicht so, dass wir mit Tanz und Musik groß werden. Tanz hat es schwer, das ist in anderen Ländern anders. Obwohl eine große Tanztradition in Deutschland vorhanden ist, ist Tanz als solcher kulturell nicht so verinnerlicht wie in anderen Ländern. Das ist ein Faktor, denke ich. Ein anderer Aspekt ist, dass, wenn ich hier in Deutschland Auditions ausschreibe, sich drei Leute mit Behinderung melden, wenn ich Glück habe - und im Ausland habe ich da zwanzig, fünfundzwanzig. Ich glaube wirklich das liegt daran, dass man hier in unseren Breitengraden eher denkt, "Ja, tanzen? Kann ich doch nicht", und die Hemmschwelle zu groß ist. Anders kann ich mir das nicht erklären.

SB: Es gibt die Auffassung, dass die tänzerische Auseinandersetzung in mixed-abled dance companies die konsequente Weiterführung zeitgenössischer Ästhetik ist. Teilen Sie diese Auffassung?

GK: Absolut. Denn dadurch, dass ich andere Körper mit einem anderen Bewegungspotential habe, das mir ganz neue Variationen von Bewegung liefern kann, erweitere ich ja den Tanz, weil ich mit Bewegungen arbeite, die nicht üblich sind. Es ist für einen noch so professionellen Tänzer oft sehr, sehr schwer, zu adaptieren, wie jemand tanzt, der eine andere Körperlichkeit hat. Um das annähernd hinzubekommen müssen wir jedes Mal hart daran arbeiten, weil manches einfach nicht geht. Aber es soll eben so ähnlich wie möglich aussehen und das ist gerade für die nichtbehinderten Tänzer eine besondere Herausforderung.

Die Nachfrage wird immer größer. Wenn ich heute für eine neue Produktion, die wir in Deutschland machen, Auditions für Tänzer ohne Behinderung gebe, dann habe ich 150 Bewerber von sehr, sehr guten Schulen aus Holland und von überall, die diese Arbeiten einfach extrem spannend und bereichernd finden. Das ist eine unglaubliche Weiterentwicklung im Vergleich zu noch vor 15 Jahren, als ich angefangen habe. Da waren wirklich, wenn es hoch kam, fünf Tänzer in einer Audition, weil es sich noch nicht so etabliert hatte. Heute ist diese Nachfrage da, das ist einfach super aufregend - auch für den zeitgenössischen Tanz generell.

Gerda König - © 2010 by Schattenblick

Gerda König im Gespräch mit dem Schattenblick-Team
© 2010 by Schattenblick

SB: Sehen Sie vielleicht noch weitere Entwicklungen?

GK: Ja. Vor 15 Jahren gab es zwar auch schon mixed-abled Kompanien auf der Welt aber eben noch nicht so viele. Wir waren mit DIN A 13 in '98 zum aller ersten mixed-abled Tanzfestival in Boston eingeladen, in den USA. Dort waren zwar einige Gruppen aus Amerika, aber aus Europa gab es eigentlich nur Candoco aus London, die Bilderwerfer aus Wien und uns. Heute hat sich das nun viel, viel weiter entwickelt, so dass sich auch in verschiedenen Ländern Projekte entwickelt haben. Manche sind noch nicht auf so einem professionellen Niveau, aber es gibt viele Gruppen, die sich extrem entwickelt haben und die auch international arbeiten. Es gibt auch Choreographen, die auf einmal ein Interesse daran haben Tänzer mit Behinderung in ihre Produktion mit einzubeziehen. Insofern sehe ich schon eine Weiterentwicklung.

SB: Im Publikumsgespräch nach der Hamburger Aufführung von "Patterns Beyond Traces" hat einer der professionellen Tänzer beschrieben, wie schwierig es ist, die Bewegungen von Behinderten mit dem eigenen "nichtbehinderten" Körper nachzuvollziehen. Wie funktioniert dieser Austausch?

GK: Bewegung kann man nur lernen, wenn man sie vormacht. Wir arbeiten am Anfang einer Produktion immer viel mit Improvisationen, die natürlich themenorientiert sind und in denen Bewegungsmaterial entwickelt wird. Dann werden kleine Phrasen festgelegt, so nennt man im Tanz die Sätze. Und mit diesem Material arbeiten wir dann. Manchmal sind das ganz kleine Sachen, die alle erstmal lernen müssen. Wenn wir von jedem einzelnen eine Phrase haben, dann haben wir so viel Material, dass wir daraus eine ganze Szene entwickeln können. In die Anfangsszene von "Patterns Beyond Traces" zum Beispiel, sind Bewegungen und Segmente von allen Tänzern, die am Projekt beteiligt waren, eingeflossen.

SB: Was haben Sie als nächstes vor und an welchen Projekten arbeiten Sie gerade?

GK: Ich bin jetzt im Dezember noch in Lissabon und werde dort einen Workshop auf einem Festival geben. Ende des Jahres werde ich, unser Produktionsleiter ist schon dort, in den Senegal reisen, um wieder in Zusammenarbeit mit dem Goetheinstitut ein neues Projekt zu entwickeln, also eine neue Company zu initiieren, das wird bis März gehen. Und dann findet im nächsten Jahr vom 9. bis zum 13. Juni im Tanzhaus NRW in Düsseldorf das dritte Crossing Dance Festival statt, das auch von uns mit organisiert und initiiert ist. Da wird es alles geben, internationale Kompanien, Workshops, Lectures, Filmbeiträge, und Installationen, das wird auf jeden Fall auch eine spannende Sache.

SB: Und was wünschen Sie sich für Ihre Projekte und für Ihre zukünftige Arbeit?

GK: Ich hoffe, dass es weiter geht und dass wir weiter so tolle Projekte in Kooperation mit anderen Organisationen durchführen können und weiter mixed-abled Kompanien initiieren, denn ich finde es für den zeitgenössischen Tanz wichtig, dass es eine Weiterentwicklung gibt.

SB: Vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


2. Dezember 2010