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INTERVIEW/009: Das Künstlerkollektiv 'Die Azubis' über Tabuthemen im Theater und ihre nächsten Projekte (Teil 2) (SB)


'Die Azubis' über Kunst im öffentlichen Raum und sozial brisante Themen im Theater (2)

Fortsetzung von Teil 1

von Julia Barthel


SB: Ihr verarbeitet ja häufig sehr brisante soziale Themen in euren Stücken, vom Freitod im Alter bis zu Rauschzuständen bei Jugendlichen. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, diese problematischen Stoffe in Form von Theaterstücken umzusetzen?

Kai Fischer: Wir nutzen einfach das Medium, das uns zur Verfügung steht, um unsere Gedanken, unsere Wut und unsere Hilflosigkeit vielen Themen gegenüber zu äußern. Wenn wir merken, das ist ein Funken, der nicht nur uns betrifft, sondern der wirklich auch gesellschaftlich interessant ist, dann durchforsten wir daraufhin auch Statistiken oder lesen Nachrichten dazu. Da fällt es uns dann auch auf, wenn ein Thema wie Suizid im Alter viel zu wenig behandelt wird oder ein Thema wie Rausch unter Jugendlichen immer nur in negativen Darstellungen vorkommt. Rausch kann ja auch was Positives sein, zum Beispiel ein Schaffensrausch oder ein Liebesrausch. Es geht ja nicht immer nur um Alkohol und Drogen. Dann sagen wir: Das interessiert mich so sehr, dass ich mich damit zwei oder drei Monate lang auseinandersetzen kann.

Christopher Weiß: Für mich ist das Theater auch im weitesten Sinne ein Weg, mich mitzuteilen. Nicht, um eine Lösung zu finden, sondern um etwas anzustoßen. Damit sage ich: Dieses Thema ist mir gerade wichtig und es ist aktuell und wir müssen darüber reden. Wir tun das eben, indem wir ein Theaterstück daraus machen. Dabei versuchen wir, unsere Haltung zu dem Thema, wie widersprüchlich sie auch sein mag, zu kommunizieren. Wir setzen uns im Team, aber auch nach außen hin damit auseinander.

SB: Das Theater ist also euer Medium, in dem ihr euch sowieso bewegt und dann kommen noch die Themen dazu, die euch interessieren...

CW: Ja, aber das Eine ist ja nicht ohne das Andere zu denken! Das ist ja das Verrückte. Man kann nicht Theater machen um des Theaters willen. Man braucht ja ein Thema. Das ist unabhängig voneinander nicht zu denken.

Theater ist ohne ein Thema nicht zu denken! - Foto: © 2011 by Schattenblick

Theater ist ohne ein Thema nicht zu denken!
Foto: © 2011 by Schattenblick

KF: Es ist wirklich unsere Art, eine Meinung zu äußern. Es soll unterhaltend sein, aber es ist auch nicht nur Unterhaltung. Das ist unsere Art von künstlerischer Revolution, die wir betreiben. Wenn ich denke: Darüber muß ich jetzt mal meine dummen Sprüche ablassen, habe ich keinen Stammtisch, aber ich hab' eine Bühne und zwei Puppen, eine Klopapierrolle und eine Klobürste und die können mal was erzählen. Dann habe ich für mich ein Statement gefunden, das unterhaltend ist, aber auch mitschwingen läßt, dass sich jemand um das Thema Gedanken gemacht hat.

SB: Ihr könnt ein Thema auch wirklich von allen Seiten beleuchten. Bei einer Materie wie 'Suizid im Alter' oder 'Rausch' müßt ihr keine einseitige Perspektive einnehmen, wie es oft in den Nachrichten oder von politischer Seite getan wird.

KF: Ja, zum einen kann man ein Thema so beleuchten und zum anderen arbeiten wir ja auch im Kollektiv mit anderen Schauspielern. Das heißt, man hat automatisch auch immer wieder ein Streitgebilde, weil man bei vielen Themen einfach nicht einer Meinung ist. Bei der Frage, ob man Sterbehilfe befürworten sollte, haben wir gleich vier verschiedene Meinungen am Tisch. Dann muß man auch erstmal einen Konsens finden, wie man etwas darstellen kann, das für alle eine Wahrheit beinhaltet. Entweder stellt man dann verschiedene Standpunkte nebeneinander oder man arbeitet so lange, bis man sich selber bewußt gemacht hat: Würde ich wollen, dass ich meine Oma abschalten muß? Dann kommt man auf einmal bei sich selber an und das Thema kriegt eine viel größere Gewichtung.

SB: Dieses Tabuthema habt ihr kürzlich in dem Stück 'Nimmermeer' verarbeitet. Da ging es um Suizid bei alten Menschen. Habt ihr im Zuge der Recherchen mit vielen alten Leuten über das Thema Suizid gesprochen?

KF: Nein. Du hast erstmal den Anschlußpunkt bei dir selber. Wenn ich im Altenheim meine Oma besuche, die ist jetzt 90, dann habe ich vor dem Gang erstmal Schiss. Ich habe Angst vor den Gerüchen und vor den Geräuschen, davor, meine Oma eine halbe Stunde lang anzuschreien, weil sie nichts versteht. Ich versuche, eine soziale Brücke aufzubauen, obwohl ich von vornherein weiß, dass ich daran scheitern werde... In erster Linie haben wir uns von den Kirchen Material geben lassen und darin recherchiert.

CW: Das war aber eine bewußte Entscheidung. Wir wurden damals ja auch von der Diakonie gefördert und hätten daher genug Kontakte gehabt, um viele Gespräche darüber zu führen. Wir haben auch ständig hin und her überlegt, ob wir das noch machen sollen. Dann haben wir uns eine Tonbandaufnahme von einer alten Frau angehört, die gesagt hat: "Warum wache ich jeden Morgen auf?" Das hat uns so totgeschlagen! Sowas macht dich sofort zu. Deswegen haben wir uns auch gegen dieses dokumentatorische Element entschieden. Statt dessen nähern wir uns über unsere Reflexion langsam mit dem Publikum an das Thema an.

KF: Wir wollen ja unsere Themen auch auf einer witzigen Ebene behandeln dürfen und 'Nimmermeer' ist auch ein Stück mit einer großen Lust und einer großen Komik. Klar kippt die immer wieder in schwarzen Humor um, aber wenn man so eine Tonbandaufnahme an den Anfang setzt...

CW: Alle Bemühung, dieses Thema aufzumachen, ist dann vergebens! Das ist ja gerade die große Kunst, so einen schwierigen Stoff für den Zuschauer zugänglich zu machen. Es geht darum, Assoziationsräume zu eröffnen und das mußten wir ganz vorsichtig machen. Wir haben das Publikum wissen lassen, dass wir auch Angst vor diesem Thema haben. Aber wir stellen uns nicht drüber und wir belehren keinen, sondern wir thematisieren das.

KF: Im Anschluß gab es dann immer eine Podiumsdiskussion. Wir hatten an den jeweiligen Orten meistens den Pfarrer dabei, jemanden aus der Hospizvereinigung, manchmal auch einen Arzt oder einen Juristen. Die konnten dann auf Fragen der Zuschauer antworten oder das Thema noch in anderen Punkten vertiefen, weil wir einfach viele Antworten gar nicht geben können. Ich kann zum Beispiel über einen depressiven Menschen nicht viel sagen, das kann natürlich ein Arzt wesentlich besser.

SB: Beim Thema Suizid spielt ja auch vieles mit rein, wie zum Beispiel Depressionen. Das ist natürlich für alle Beteiligten sehr schwierig. Dennoch sind es eben Situationen, mit denen sehr viele Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert sind und die meistens totgeschwiegen werden.

KF: Wie viel Nachhaltigkeit von so einer Diskussion dann bleibt, weiß ich auch nicht. Mir fällt zu dem Thema Depression und Sport der Fall des Fußballspielers Robert Enke ein. Das verschwindet dann auch schnell wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. Es ist dann mal ein halbes Jahr lang aktuell, dass über Depressionen gesprochen wird und dann ist es auch wieder weg. Das muß man sich schon bewußt machen: Man verändert mit Theater grundsätzlich nicht die Gesellschaft.

CW: Was redest du denn da?!

Christopher Weiß und Kai Fischer im Gespräch mit der SB-Redakteurin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Christopher Weiß und Kai Fischer im Gespräch mit der SB-Redakteurin
Foto: © 2011 by Schattenblick

KF: Ich kann natürlich den drei- oder vierhundert Zuschauern, die wir so getroffen haben, das Thema nahe legen und die können dann in ihrem Umfeld auch ein Anstoß sein, es zum Gesprächsthema zu machen. Die Leute, die das Stück 'Nimmermeer' angeschaut haben, waren uns sehr dankbar dafür. Obwohl nicht immer alle mit der Art und Weise konform gehen, wie wir in der Kirche Theater gemacht haben. Sie waren sehr froh, dass das Thema mal auf diese Art groß gemacht wurde, um darüber überhaupt zu reden.

Wenn man nämlich ein Bild schafft, wie das von einer Tänzerin, die ständig zwischen dem EKG-Gerät und dem Altar hin und her gerissen wird, dann kann der Zuschauer das deuten, wie er will. Gerade weil es keine Textvorgabe gibt, kann er mit seinen Assoziationen und Gedanken dieses Bild anreichern und für sich lesen. Darüber komme ich mit anderen Menschen viel schneller ins Gespräch, als wenn ich mir einen Dokumentarfilm ansehe, der eine alte Oma im Krankenhausbett zeigt. Das bietet diese Form von Theater an.

SB: Ihr benutzt also ganz gezielt die verschiedenen Ausdrucksmittel, um den Assoziationsraum für alle möglichst offen zu gestalten.

KF: Ja. Jeder Szene wird dann auch eine Form zugeordnet.

CW: Dass wir mit so vielen Formaten arbeiten, bringt uns in der Außenwirkung auch manchmal in die Bredouille. Zum Beispiel dachten nach den 'Nightbreezers' viele, wir machen Figuren- und Puppentheater. Nach 'Treffpunkt Borgfelde' hieß es: Ach ja, ihr macht jetzt Kunst im öffentlichen Raum und nach 'Nimmermeer' waren wir auf einmal kirchlich und gläubig. Dass man dem jeweiligen Thema auch verschiedene Formate anpasst, muß man immer wieder erklären. Aber jedes Thema verlangt das, wie eben 'Suizid im Alter' nach einer Kirche verlangt hat.

KF: Die Kirche eben ein Ort, an dem man überhaupt noch über den Tod redet. Wo das Thema nicht so negiert wird wie sonst oder man es ins Altenheim abschiebt. In der Kirche wird noch darüber geredet, das ist halt der Zwischenraum.

SB: Habt ihr wegen der Auswahl eurer Themen irgendwann mal richtig Ärger bekommen?

KF: Nicht wegen der Themen. Mit dem kirchlichen Raum gab es viele Probleme. In dem Stück 'Nimmermeer' verheiratet der Arzt den Tod mit der Oma. Da haben wir Vorwürfe bekommen. Es wurde uns gesagt: Das könnt ihr nicht machen! Da spielt ihr mit kirchlichen Mitteln und dem Glauben christlicher Menschen. Einerseits stimmt das, andererseits bringt gerade das die Zuschauer in eine Konfliktsituation, in die wir sie sonst nicht kriegen würden. Dafür sind solche Mittel dann auch legitim.

SB: Wir werden gerade im Fernsehen täglich mit schlimmen Nachrichten überhäuft. Ich denke da zum Beispiel an den Amoklauf von Oslo. Warum sollten die Menschen sich in solchen schwierigen Zeiten auch noch im Theater mit sozial brisanten Themen beschäftigen?

KF: Es gibt eben durch diese Interaktion mit dem Zuschauer, sei es durch eine Podiumsdiskussion oder bei einem Spaziergang, eine größere aktive Beteiligung an dem Thema. Dadurch müssen sich die Leute anders positionieren. Dieser Amoklauf in Oslo wäre zum Beispiel eine gute Vorlage für die Frage: Gibt es das Böse? Ist das im Menschen angelegt? Dabei würde es uns um die Suche gehen. Hat es was mit dem sozialen Umfeld zu tun oder ist es vielleicht genetisch angelegt? Steckt so ein Potential in jedem von uns? Wo war ich selbst mal böse oder hatte böse Gedanken? Wenn man versucht, solche Fragen mit den Zuschauern zu kommunizieren, dann kann man sich jedes Thema aneignen. Auch Sachen, die gerade sehr populär diskutiert werden, weil man im Theater einfach andere Möglichkeiten hat.

CW: So vermeiden wir auch das schnelle Urteil. Wir versuchen, einer Frage differenziert auf den Grund zu gehen.

SB: Manchmal packt ihr auch regelrecht moralischen Sprengstoff auf den Tisch. Ein einfacher Satz wie: "Es ist ein Recht zu leben, keine Pflicht", der einen Text zu dem Stück 'Nimmermeer' einleitet, wird in unserer Gesellschaft eigentlich als moralisch verwerflich betrachtet. Freitod ist ein Tabuthema.

KF: Keiner traut jemandem einen Selbstmord zu, der einfach sagt: Ich bin lebenssatt. Dabei steht es sogar in der Bibel. Abrahams großer Satz, über den wir lange geredet haben: Er starb mit 885 Jahren, zufrieden und lebenssatt. Was heißt denn bitteschön 'lebenssatt'? Was ist denn das für eine Aussage? Aber das gibt es ja anscheinend, das Menschen sagen: Ich will nicht mehr leben. Nicht, weil ich Schmerzen habe, nicht, weil ich Depressionen habe. Ich habe eigentlich alles erlebt oder ich hab' die Schnauze voll.

Sowas zu äußern, ist in einer Lebensgesellschaft, die auch grundsätzlich sagt: Du bist Teil einer Gesellschaft, du darfst dich nicht isoliert sehen, du bist am liebsten ewig jung, du hast ein 'Peter Pan Syndrom' natürlich ein moralisches Tabu.

CW: Das Thema Suizid im Alter ist auch besonders interessant, weil es da kein Richtig und Falsch gibt. Man muß zum Beispiel einen Menschen, der mit 90 Jahren sagt: "Ich bete zu Gott, dass ich am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen muß", auch ernst nehmen. Der hat einen eigenen Willen und wenn er nicht mehr leben will, warum soll man ihn dazu zwingen? Dann kommt aber auch die Frage auf: Was ist mit den Angehörigen? Haben die ein Recht, auf diese Entscheidung einzuwirken oder nicht?

Es gab auch eine Diskussion mit einem Zuschauer, der meinte: Der Tod ist eine Katastrophe und warum soll man davor keine Angst haben!? Da tun sich ganz viele Felder auf, wo es keine schnellen Antworten gibt. Wenn man sich die Frage nach Sterbehilfe ganz ernsthaft stellt, gibt es viele Standpunkte, die absolut nachvollziehbar sind. Auch als Arzt. Will ich da jemandem als Sterbehilfe den Becher überreichen? Ist das nicht eine Henkersaufgabe? Was ist mit dem hippokratischen Eid?

SB: Ist das typisch für unsere Kultur, den Tod so auszublenden?

KF: Da bin ich als Kulturwissenschaftler überfragt. Ich kann dazu nur meinen Glauben äußern. Wir wollen in unserer Peter-Pan-Gesellschaft natürlich nicht alt werden. Wir haben die ewige Jugend gepachtet. Das wird von allen Medien vorgemacht, vor allem in der Werbung. Wir merken aber auch, dass wir wahrscheinlich keine Rente mehr erwarten können. So wird uns auch ein Leistungsdruck aufgezwungen. Auf vielen verschiedenen Ebenen müssen wir immer jugendlich bleiben. Umso schwieriger wird's natürlich auch, über den Tod zu reden.

SB: Welches Theaterprojekt plant ihr als nächstes?

KF: Wir überlegen, demnächst ein Lebensraumprojekt über Hafen City zu machen. Man könnte versuchen, einen vorurteilsfreien Blick darauf zu werfen, wie die Architekten und Designer es sich vorgestellt haben, dort einen Raum für Treffpunkte zu schaffen. Wenn man da durchgeht, dann denkt man ja: "Oh Gott, ist das alles oberflächlich. Alles superschön designt, aber ich trau mich gar nicht, mich auf diese Bank zu setzen, weil ich könnte sie ja schmutzig machen." Die Frage wäre an dieser Stelle, ob der Plan der Designer eigentlich aufgeht.

CW: Ein paar Familien leben ja schon dort und es soll sich da so eine Trotzatmosphäre entwickelt haben. Die Leute halten zusammen und sagen sich: Hier gibt es zwar noch keinen Supermarkt aber wir machen einfach eine Einkaufsgemeinschaft. Wer rüber in die Innenstadt zum Aldi fährt, der bringt den anderen etwas mit. Es entsteht so eine Mentalität des Zusammenhalts. Das sind die ersten Pioniere, die sich im neuen Stadtteil angesiedelt haben.

SB: Pioniergeist in Hafen City wäre ein sehr interessantes Lebensraumthema. Habt ihr dafür schon konkrete Pläne?

KF: Im Fall von Hafen City läge es sogar auf der Hand, eine Spiegelung mit St. Pauli zu machen.

CW: Das ist eben das Lustige an Stadtplanung. Der alteingesessene Armenstadtteil St. Pauli soll jetzt gentrifiziert werden und gleichzeitig soll der große Stadtteil Hafen City für alle da sein.

KF: Auf der einen Seite werden gewachsene Strukturen abgerissen und auf der anderen Seite wird etwas ausgebaut, das vorher von Architekten designt worden ist.

CW: Der geplante Stadtteil soll dann eigentlich genau die Atmosphäre bekommen, die in St. Pauli schon vorhanden ist. Das ist diskrepant!

KF: Natürlich bringt man da von vornherein seine Vorurteile mit. Da besteht die Problematik darin, genau die wieder abzubauen und zu sehen, ob man das Positive an Hafen City auch betonen kann. Zum Beispiel ist dieser Pioniergeist eigentlich etwas ganz Tolles.

SB: Hoffentlich könnt ihr dieses Projekt umsetzen. Das klingt sehr spannend.

CW: Dann sagen wir natürlich Bescheid!

SB: Wir bedanken uns für das interessante Gespräch!

Foto: © 2011 by Schattenblick

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5. August 2011