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INTERVIEW/028: Geisterbahn - Schreckschuß für Homo flexus ...    Julia Warnemünde im Gespräch (SB)


"Geisterbahn" - eine posthumanistische Musiktheaterinstallation von Kommando Himmelfahrt

Besuch der Uraufführung am 28. April 2016 auf Kampnagel in Hamburg

Julia Warnemünde über den französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie, die Geisterbahn und den Posthumanismus


Die Theatergruppe Kommando Himmelfahrt ist für ihre großdimensionalen, musikalisch hochentwickelten Inszenierungen und ihren spielerischen Einsatz von Stilelementen unterschiedlicher Genres bekannt. Künstlerisch verarbeitet werden bevorzugt Grenzbereiche von Utopien und Menschenbildern. "Geisterbahn", das jüngste Projekt der 2008 von dem Hamburger Komponisten Jan Dvorak und dem Berliner Regisseur Thomas Fiedler gegründeten und 2013 durch die Dramaturgin Julia Warnemünde ergänzten Gruppe, feierte am 28. April 2016 auf Kampnagel in Hamburg Premiere.


Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Julia Warnemünde, Kommando Himmelfahrt
Foto: © 2016 by Schattenblick

Grundlage dieses "installativen Musiktheaterprojekts" sind Texte des französischen Arztes und Philosophen Julien Offray de La Mettrie, 1709 in St. Malo geboren, 1751 in Potsdam unter nicht ganz geklärten Umständen nach dem Verzehr einer Portion getrüffelter Pastete gestorben. La Mettrie war ein Quertreiber mit seinen philosophischen Annahmen, daß weder Gott noch die Seele existieren, die Natur einheitlich ist und, als Konsequenz daraus, mit seinen Beschreibungen des Menschen als Maschine (L'homme machine, 1747) und als Pflanze (L'homme plante, 1748).

Indem er der Materie an sich Lebendigkeit attestiert und damit auch den aus Materie gefertigten Dingen, hat er die vermeintlich klar voneinander getrennten Kategorien Mensch, Maschine, Tier, Pflanze, etc. aufgelöst. Damit machte er sich zum Gespött einiger Zeitgenossen, die ihn "die Maschine" nannten, ähnlich wie rund ein Jahrhundert darauf Charles Darwin nach der Veröffentlichung von "Über die Entstehung der Arten" (On the Origin of Species, 1859), des Grundlagenwerks der Evolutionstheorie, als Affe karikiert worden war.

La Mettrie gilt als ein Vorläufer des Posthumanismus. Das ist ein Sammelbecken für Partialdiskurse, die unter anderem die quasi-religiöse Hoffnung verbreiten, der Mensch könne seine physischen Fesseln durch eine künstliche, computergestützte Bemittelung lösen, seine Existenz sozusagen auf eine höhere Ebene des Seins transformieren.

Im Anschluß an die Premiere zu dem Musiktheaterstück "Geisterbahn", in dem La Mettries Büchlein "Der Mensch als Pflanze" verarbeitet wurde, sprach der Schattenblick mit Julia Warnemünde. Sie hat von 2005 bis 2011 Theaterwissenschaft und Komparatistik in Bochum, Kopenhagen und Amsterdam studiert und war bereits während des Studiums sowie in den Folgejahren in eine Reihe von Projekten unter anderem in Bochum, Amsterdam, Glasgow und Hamburg involviert, bis sie sich 2013 dem Kommando Himmelfahrt anschloß.

Schattenblick (SB): Was hat Sie daran gereizt, eine Geisterbahn mit dem Arzt und Philosophen Julien Offray de La Mettrie in Verbindung zu bringen?

Julia Warnemünde (JW): Wir haben uns mit dem Thema Posthumanismus beschäftigt, und La Mettrie könnte man mit dem, was er sagt, als einen der ersten Vertreter dieser Richtung bezeichnen. Als wir darüber sprachen, was der Posthumanismus den Menschen bringen könnte, mit all seinen Vor- und Nachteilen, hatten wir immer das Gefühl eines wohligen Schauers. Der Posthumanismus kann faszinieren, man möchte mehr darüber erfahren, aber er löst auch ein Gruseln aus. Von da aus sind wir relativ schnell auf das Thema Geisterbahn gekommen, weil sie genau diese zwei Aspekte verbindet, den wohligen Schauer. Also beschlossen wir, eine Geisterbahn zu bauen, um in dem Rahmen sozusagen die Verbrechen der Menschheit, aber auch ihre kruden Visionen einzubetten, ohne damit dogmatisch umzugehen.

SB: Was hat uns La Mettrie heute, in einer Zeit der Digitalisierung und Globalisierung mit dem Aufbau weltumspannender technologischer Systeme, noch zu sagen?

JW: Er befand sich im Zentrum einer Kritik von zwei Seiten. Auf der einen Seite von der Kirche, die ihn verfolgt hat, weil er dem Gottesglauben abgeschworen hatte. Auf der anderen Seite von den Aufklärern, die sagten: Die Vernunft muß unsere Gesellschaft leiten, die Moral unser Streben einordnen - womit jedoch einebnen gemeint war. Genau an diesem Punkt befinden wir uns heute noch, wenn wir überlegen, daß wir - Stammzellenforschung, Klonen, welche Blüten auch immer die posthumanistischen Unternehmungen noch treiben werden - immer noch ein nagendes Gefühl in uns haben und uns fragen: Ist das wirklich die Gesellschaft, in der wir leben wollen? Ist das immer noch ein Menschenbild, das wir vertreten können? Zu solchen Fragen hat La Mettrie angeregt und ist deswegen nach wie vor interessant.

Man muß dazu allerdings auch sagen, daß er eigentlich kein bekannter Philosoph ist. Seine Schriften wurden verschmäht und nicht weiterverbreitet, er ist eigentlich von der Bildfläche verschwunden. Wenn man sich umhört, so kennen nur sehr wenige Leute diesen außergewöhnlichen Philosophen.

SB: Sie sprachen vom wohligen Schauer, den man in einer Geisterbahn bekommen kann. Der Begriff "Geist" kommt von seiner Wortbedeutung her von "Schreck". Sollte Ihrer Meinung nach Kunst erschrecken?

JW: (lacht) Vielleicht eher aufschrecken. Natürlich darf Kunst auch "er"-schrecken, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sagen würde, was Kunst soll, darf, muß. Was Kunst darf, ist klar, aber was sie muß, das würde ich so nie festlegen wollen. Ich denke, daß "Geisterbahn" Themen anspricht, die uns als Menschen etwas angehen und auch berühren. Deswegen kann es einen Schreck auslösen, wenn wir feststellen, welche Konsequenzen bestimmte Schritte haben.


Strickfigur mit Monitor-Gesicht in der Gruselkammer La Mettries - Foto: © 2016 by Julia Kneuse

"Interessant ist der Effekt, daß man dieses Ding sofort als Wesen, Figur und Darsteller wahrnimmt und auch akzeptiert - das kann einen schon zum Gruseln bringen, weil man gar nicht mehr weiß, wo da eigentlich die Substanz des Menschlichen bleibt."
Foto: © 2016 by Julia Kneuse

SB: Die posthumanistische Vorstellung, daß sich Menschen eines Tages technische Geräte wie beispielsweise eine Schnittstelle ans Gehirn anschließen lassen, mutet womöglich gruselig an. Allerdings gibt es in der Medizin schon Hirnschrittmacher, die als nützlich angesehen werden. Wo wäre für Sie die Grenze, ab der es anfängt, gruselig zu werden?

JW: Absolut gruselig wird es natürlich dann, wenn die menschliche Substanz gar nicht mehr zu spüren ist. In der Geisterbahn, die Sie heute gesehen haben, haben wir eine Stoffpuppe, also eigentlich eine ganz naiv gestrickte Puppe, die aber durch einen Monitor plötzlich etwas sehr Menschliches bekommt. Interessant ist der Effekt, daß man dieses Ding sofort als Wesen, Figur und Darsteller wahrnimmt und auch akzeptiert - das kann einen schon zum Gruseln bringen, weil man gar nicht mehr weiß, wo da eigentlich die Substanz des Menschlichen bleibt. Ab wann geht mir verloren, das Menschliche wahrzunehmen? Wann habe ich eigentlich eine Grenze überschritten? Was müßte das ganz konkret heißen, die Gedanken komplett an eine Maschine zu übertragen? Natürlich würde ich zu so einem Vorgang sagen: bitte nicht. Auf der anderen Seite stellt sich wiederum die Frage, ob das auch dann noch zutrifft, wenn ich es gar nicht mehr wahrnehme, daß das eine Maschine ist und kein Mensch.

SB: Apologeten des Posthumanismus wie der Computerwissenschaftler Ray Kurzweil stellen sich vor, daß das sogenannte Bewußtsein irgendwann in einen Computer hochgeladen werden kann. Sehen Sie das als kritisch an?

JW: Natürlich betrachten wir so etwas kritisch. Doch das ist eben der Punkt, weswegen wir eine Geisterbahn gemacht haben. Man hat Angst davor, auf der anderen Seite reizt es auch. Man will mehr darüber wissen und auch die Möglichkeiten kennenlernen. Wenn man diesen von vornherein eine Grenze setzt, kann das natürlich der Schluß einer langen Überlegung sein, die aber unter anderen Prämissen nicht unbedingt haltbar ist. Insofern sehen wir das absolut kritisch, aber nicht im Sinne von dagegen sein.

SB: Wollten Sie mit Ihrer begehbaren Installation bzw. Inszenierung bewußt an die Tradition des ursprünglichen Theaters, in dem es noch keine Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne gab, anknüpfen?

JW: In vielen Arbeiten von Kommando Himmelfahrt übertritt man diese Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum. In diesem Fall haben wir natürlich gesagt, wir bauen ein Laufgeschäft, etwas, wo man reingehen kann und wo wir dem Geist Julien Offray de La Mettries dann hautnah begegnen. Insofern war es klar, daß das Publikum nicht vor dem Geisterhaus, in dem der Mensch eigentlich schon verloren gegangen ist, sitzen bleiben, sondern hineingehen muß.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Der Rekommandeur bittet das Publikum zum Eintritt in die Geisterbahn - Foto: © 2016 by Julia Kneuse

Eintritt auf eigene Gefahr ...
Foto: © 2016 by Julia Kneuse


Bisher zur posthumanistischen Musiktheaterinstallation "Geisterbahn" im Schattenblick unter INFOPOOL → THEATER → REPORT erschienen:

BERICHT/068: Geisterbahn - ein Golem tritt die Wiese platt ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0068.html

3. Mai 2016


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