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TIERHALTUNG/601: Kälber, bleibt bei euren Müttern! (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 3/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Kälber, bleibt bei euren Müttern!

Von Volker Kwade



Ökologische Landwirte machen sich auf den Weg zu einer wesensgerechteren Milchviehhaltung

Zum Standard der konventionellen und ökologischen Milchviehwirtschaft gehört noch, die Kälber möglichst bald nach ihrer Geburt von ihrer Mutter zu trennen und in den ersten Lebenswochen in Einzelboxen zu halten. In der ersten Lebenswoche erhalten sie zwei- bis dreimal täglich Biestmilch (Colostrum) von ihrer Mutter und werden so mit den ersten, lebensnotwendigen Immunglobulinen zur Abwehr von Krankheitserregern versorgt. Auf konventionellen Betrieben werden sie anschließend mit meist fettreichem Milchaustauscher getränkt. Die ökologischen Richtlinien schreiben Vollmilch vor. Wenn die Kälber die Einzelboxen verlassen, ist ihr Leben meistens auch nicht schön.

Die Haltungsstrategie für die ersten Lebenswochen führt bei den Kälbern häufig zu Durchfall und nicht selten zu Nabelentzündungen mit anschließender Sepsis (griechisch für Fäulnis), bei der die Infektion mit Krankheitserregern zu einer Entzündungsreaktion mit anschließender Blutvergiftung führen kann, oft mit tödlichem Ausgang aufgrund von Organversagen. Die Haltung in Einzelboxen stellt eine Maßnahme gegen Sepsis dar, denn Kälber, die ihren Saugreflex nicht richtig ausleben können, würden sich in Gruppenhaltung gegenseitig besaugen, häufig am Nabel. Nicht zu vergessen: Die frühe Trennung von der Mutter erzeugt bei den Kälbern auch erheblichen Stress, der krankheitsanfällig macht.


Geburt und Aufzucht eines Kalbes im sozialen Herdenverband

Es gibt Rinder, die monatelang oder ganzjährig auf der Weide gehalten werden. An ihnen lässt sich beobachten, wie Kälber ohne menschliches Eingreifen aufwachsen.

Kurz vor der Geburt sucht die Kuh einen abgelegenen und höheren Ort abseits der Herde auf. Nach der Geburt beginnt die Kuh, ihr Kalb trocken zu lecken, womit sie gleichzeitig auch den Kreislauf und die Atmung des Kalbes anregt. Beim Lecken muht die Mutterkuh tief und verstärkt so die Bindung zwischen Kuh und Kalb. Viele Kühe fressen die Nachgeburt direkt auf und versorgen sich nach der kräftezehrenden Geburt so mit Mineralien und Proteinen. Gleichzeitig beseitigen sie die Gefahr, dass Raubtiere angelockt werden.

Die Kuh leckt das Kalb nicht nur nach dessen Geburt, sondern intensiv auch in den ersten Tagen danach. Nach etwa drei Tagen erkennen sich beide an der Stimme und dem Geruch. Die Lebensetappen eines Kalbs im Einzelnen:

1. Woche: Das Kalb ruht viel und trinkt circa sechs- bis achtmal täglich für etwa sieben Minuten bei der Mutter. Viele Kälber bleiben während dieser Phase an einem gut versteckten Ort liegen und werden zum Säugen und Lecken regelmäßig von ihren Müttern aufgesucht.

2. - 6. Woche: Die Kuh geht mit dem Kalb zur Herde, wo sich das Kalb einer Kälbergruppe (Kindergarten) anschließt. Diese wird immer von einer erfahrenen Kuh oder einem Stier beaufsichtigt. Die eigene Mutter sucht ihr Kalb etwa viermal am Tag auf, um es zu säugen und zu lecken. Das Kalb nimmt immer mehr pflanzliche Kost auf.

2. - 5. Monat: Immer öfter begeben sich die Kälber in die Herde, spielen und kämpfen immer wieder mit ihren Altersgenossen. Oft spielen sie auch mit ihren Müttern, wobei die Saugfrequenzen immer gleich bleiben.

Ab dem 5. Monat: Die Kälber beginnen immer öfter, regelmäßig mit dem Rest der Herde zu weiden, häufig neben der eigenen Mutter. Die Kuh setzt ihr Kuhkalb nach circa 8-9 Monaten und ihr Bullkalb nach etwa 11-12 Monaten ab. Die Bindung bleibt aber zeitlebens erhalten. Häufig weiden verwandte Tiere zusammen und lecken sich untereinander. Dieses Verhalten zeigen sie nicht bei nicht verwandten Tieren.

Wird dem Kalb verwehrt, eine Bindung zur Mutter aufzubauen und in der Herde zu leben, können Verhaltensauffälligkeiten und gesundheitliche Schäden die Folge sein. Deshalb haben sich einige ökologische Landwirte auf den Weg gemacht, die Milchviehhaltung mit muttergebundener Kälberaufzucht zu verknüpfen. Wegen unterschiedlicher Betriebs- und Herdengrößen und Stalleigenschaften haben sich drei unterschiedliche Systeme entwickelt:

1) Langzeitiges, restriktives Säugen mit zusätzlichem Melken

Zweimal täglich werden die Kälber und ihre Mütter für etwa eine Stunde in der Herde zusammengeführt. Der Abstand zu den Melkvorgängen kann variiert werden.

2) Langzeitiges Säugen mit unbegrenztem Zugang zur Mutter und zusätzlichem Melken

Kälber und Kühe haben über mehrere Stunden am Tag oder unbegrenzten Kontakt zueinander. Die Kühe werden ein- bis zweimal täglich gemolken.

3) Ammenkuhhaltung

Gutmütige Kühe werden als Ammen eingesetzt und nicht mehr gemolken. Eine Ammenkuh säugt ihr eigenes Kalb und zusätzlich zwei bis drei fremde Kälber. Die Milchleistung der Ammenkühe und der Milchdurst der Kälber müssen zueinander passen, damit keine Probleme entstehen. Nach dem Absetzen der Kälber oder nach der Geburt ihres nächsten Kalbes können die Ammenkühe wieder wie normale Milchkühe gemolken werden.

Alle drei Varianten werden auf Betrieben schon erfolgreich angewendet. Für welche Variante sich ein Betriebsleiter letztendlich entscheidet, hängt von der Herdengröße, der vorhandenen Gebäudestruktur und dem zu leistenden Zeit- und Arbeitsaufwand ab.

Meistens wird das Kalb zwischen dem vierten und sechsten Lebensmonat abgesetzt. Dies ist ein wichtiger Einschnitt in dem Leben eines Kalbes und muss deshalb gut vorbereitet werden. Dazu gehört, Mutter und Kalb routinemäßig immer häufiger zu trennen und das Kalb verstärkt mit leckerem Futter (Heu, Hafer etc.) zu versorgen. Das Absetzen wird am einfachsten erreicht im System 1, in dem die Mutterkuh und das Kalb sowieso viel Zeit getrennt verleben. Das System 2 entspricht am besten den natürlichen Verhaltensweisen in einer Rinderherde, erfordert aber einen erhöhten Zeitaufwand während des Absetzens. Das System 3 hat arbeitstechnische Vorteile, wenn die Ammen gut ausgesucht sind, und bereitet beim Absetzen der Kälber keine wesentlichen Probleme.


Die Entscheidung: Im Zweifel für das Wohl der Milchkühe und ihrer Kälber

Die wesensgerechte Form der Milchviehhaltung ist nicht einfach. Die heutigen Milchkühe produzieren weit mehr Milch, als die Kälber brauchen. Deshalb besteht die Gefahr, dass die Kälber bei der Mutter oder der Amme zu viel Milch trinken und dadurch Durchfall bekommen. Werden die Kälber größer und saugen heftiger nach Milch, wächst bei den Ammen die Gefahr von Euterverletzungen. In der Zeit nach der Geburt lecken die Ammen nur die eigenen und nicht die fremden Kälber, die daher nicht in den Genuss der gesundheitsfördernden Wirkung des Leckens kommen. Die wesensgerechte Milchviehhaltung im System 2 verringert den Kontakt der Kälber zum Menschen. Die Gefahr der Entfremdung kann wirkungsvoll vermieden werden durch gezielte Prägung während und nach der Geburt und durch häufigen Aufenthalt des Milchbauern in der Kälbergruppe.

Insgesamt überwiegen die Vorteile der wesensgerechten Milchviehhaltung aus folgenden Gründen (nur die wichtigsten seien genannt): Die Kälber sind vital und robust gegenüber Infekten, weil sie schon sehr bald nach der Geburt Biestmilch saugen können. Direkt frisch aus dem Euter besitzt die Biestmilch noch alle intakten Immunglobuline, die aus dem Darm in das Blut- und Lymphgefäßsystem gelangen und so vor Infekten schützen. Beim Saugen aus dem Euter wird Luftansaugen vermieden. Kälber besaugen sich nicht untereinander und vermeiden so die gefürchtete Sepsis. Das Kalb wächst schneller bei Anwesenheit der Mutter, und bei ihr steigt die Eutergesundheit bei gleichbleibender bis sogar ansteigender Milchleistung (durch Untersuchungen bestätigt). Auch der fehlende Arbeitsaufwand durch Wegfall der Fütterung der Kälber darf nicht unerwähnt bleiben.

Nach vielen Gesprächen, Fachliteratur und Überlegungen bin ich daher zu der Überzeugung gekommen, dass durch ein gutes Herdenmanagement die wesensgerechte Milchviehhaltung zukunftsweisend ist, weil sie dem Rind Respekt zollt und vitale Milchviehherden sowie frohwüchsige Kälber hervorbringt.

Aus diesem Grund werde auch ich mit meinen Limpurger Rindern im nächsten Jahr den Weg der muttergebundenen Milchviehhaltung mit unbegrenztem Zugang zur Mutter beschreiten.

Volker Kwade ist 2. Vorsitzender

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 3/2013, Seite 27-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2013