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TIERVERSUCH/759: Herzgiftigkeit - Welche neuen tierversuchsfreien Verfahren gibt es? (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 1/2018
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Herzgiftigkeit: Welche neuen tierversuchsfreien Verfahren gibt es?

von Dr. Christiane Hohensee und Dr. Christiane Baumgartl-Simons


Die tierversuchsfreien Methoden lassen sich grob unterteilen in Verfahren mit Zellen und Zellgeweben, Messplattformen, computergestützte in-silico-Verfahren und sogenannte Struktur-Wirkungs-Modelle. Die nachstehende Zusammenstellung vermittelt einen Eindruck von den Entwicklungen und dem gewaltigen Spektrum an Verfahren.


Verfahren mit Zellen und Zellgeweben

Zeitgemäße Tests berücksichtigen inzwischen sieben verschiedene Ionenkanäle, die in speziellen Zellen gebildet werden. Zum Vergleich: Der derzeit noch vorgeschriebene hERG-Test besitzt nur einen Ionenkanal, nämlich für Kalium. Die Kanäle sind wichtig, um Störungen bei der Erregung und Erregungsrückbildung zu messen. Wenn diese Abläufe durch die Prüfsubstanzen gestört werden, kann sich das Herz zwischen zwei Kammerkontraktionen nicht ausreichend erholen, was zu Herzrhythmusstörungen bis hin zu Herzkammerflimmern führen kann. Sobald es zur Bindung von Molekülen der Prüfsubstanz mit einem Ionenkanal kommt, wird dies beispielsweise durch einen Farbwechsel im Test sichtbar gemacht.

Herzzellen vom Tier haben Nachteile

Diverse in-vitro-Tests verwenden bis heute Herzzellen von verschiedenen Tierarten - so auch vom Hund. Zwar bilden die Zellen alle notwendigen Ionenkanäle aus. Aber ausgereifte Zellen teilen sich nicht mehr so häufig, so dass immer wieder Herzzellen aus Tieren isoliert und zahlreiche Tiere "verbraucht" werden müssen. Außerdem sind Ergebnisse aus in-vitro-Studien mit Tierzellen nur mit entsprechenden Tierversuchen zu vergleichen. Aus diesem Grunde hatten sich viele Wissenschaftler bereits vor zehn Jahren der Stammzelltechnologie zugewandt.

Humane Herzzellen: EU-Standard überfällig

Heute verwenden Forscher in-vitro-Methoden mit humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPSC), die kommerziell erhältlich sind. In den USA arbeiten Forscher bereits mit Herzzellen verschiedener Subtypen (Herzkammer, Vorhof- oder andere Reizweiterleitungsgewebe), die von der nationalen Gesundheitsbehörde (NIH, National Health Institute) geprüft und standardisiert wurden. Auch Europa arbeitet an der Qualitätsverbesserung, daran ist die niederländische Universität Leiden beteiligt. Ergebnisse sind bisher noch nicht bekannt. Wichtig ist, dass alle Anwender standardisierte, geprüfte Zelltypen verwenden, um reproduzierbare und vergleichbare Ergebnisse zu erhalten.

"Miniherz" aus humanen Stammzellen

In einer Validierungsstudie eines Pharmaherstellers wurde ein dreidimensionales Herzmikrogewebe getestet. Mit dem "Miniherz" konnte anhand der veränderten Kontraktionen der Herzzellen sehr gut erkannt werden, ob durch Arzneimittel hervorgerufene Veränderungen vorlagen.

Sehr leistungsfähig: neue US-Messplattform

Die Ionenströme der Herzzellen müssen natürlich auch gemessen werden können. Dafür werden speziell die Messplattformen, eine Kombination aus Mikroelektroden und Messplatten, entwickelt. Diese reichen von einfachen bis hochkomplexen Systemen. Aus den USA kommt eine interessante Messplattform, die wir ein wenig näher beschreiben wollen, um eine Idee zu geben, was bereits möglich ist. Die Plattform besteht aus 32 mikroskopisch kleinen Silizium-Freischwingern. Die kleinen Freischwinger werden mit Herzmuskelzellen bestückt. Ein Laser- und Fotodetektorsystem dient der Aufzeichnung der Formveränderung (Biegung) an den Freischwingern, die durch kleinste Zellbewegungen verursacht werden. Die Kontraktionen der Herzmuskelzelle werden genau erfasst. Eine spezielle Software wandelt die verschiedenen Daten in Kraftmesswerte um und wertet sie aus. Die Freischwinger-Messplattform wird zurzeit in Validierungsstudien von der pharmazeutischen Industrie eingesetzt. Eine Kombination aus dem Freischwinger-Chip mit einem Mikroelektrodengitter-Verfahren kann sogar zusätzlich die spontane Schlagrate der Herzzellen, die Leitungsgeschwindigkeit der Ionenkanäle, Aktionspotenziale und Repolarisationsintervalle messen. Das neueste Modell integriert zudem die Messung des Kalziumflusses mit einer radiometrischen Färbetechnik.

Führen Ergebnisse zusammen: Computermodelle

Zur Vorhersage der Interaktion beziehungsweise Blockierung verschiedener Ionenkanäle des Herzens haben Wissenschaftler Computermodelle entwickelt. Sie enthalten die Ergebnisse aus in-vitro-Studien, Tierversuchen und die Daten der physikalisch-chemischen Eigenschaften der untersuchten Substanzen. Interessant ist das "Living Heart"-Projekt von der Universität Hohenheim. Hier werden die Auswirkungen von Arzneimitteln auf die Herzfunktion simuliert. Interessant ist auch ein neues in-silico-Tool zur Vorhersage toxischer Störungen auf Leber und Herz.

Struktur-Wirkungs-Modelle: QSAR

Die sogenannten QSAR-Modelle sollen zwischen der Struktur von Molekülen und ihren Wirkungen (z. B. pharmakologischer Art) quantitative Beziehungen herstellen und diese in Zahlenverhältnissen ausdrücken. Ein neueres Modell kombiniert in-vitro-Daten und physikalisch-chemische Informationen von Testsubstanzen, um die Wechselwirkung der Herzzellen und Arzneimittel über die Ionenkanäle darzustellen. Die Gemeinsame Forschungsstelle der europäischen Kommission (JRC) bietet in der QSAR-Modelldatenbank Informationen über die Validität entwickelter QSAR-Modelle an. Denn nur geprüfte QSARs sollen zum Einsatz kommen.

Herausforderung: Ganzheitliche Simulation

Faktisch ist es sogar möglich, mit einem Zwei-Organ-Chip, der außer Herzzellen oder Herzgewebe humanes Lebergewebe enthält, die Prüfsubstanz einschließlich ihrer Stoffwechselprodukte zu testen. Doch derartige Modelle befinden sich noch in der Testphase. Auch weitere Mini-Organ-Integrationen befinden sich noch in der Phase der Weiterentwicklung beziehungsweise Verbesserung, weil entweder die Organqualität nicht ausreicht, die Versorgung mit einem einheitlichen Medium noch nicht geklärt ist oder es technische Fragen hinsichtlich der Messplattformen gibt.

Noch nicht in Sicht ist ein ganzheitliches Simulationssystem mit Blutkreislauf, Immun- und Hormonsystem. Daran muss mit allem Nachdruck geforscht werden. Denn es gilt, die Telemetrie-Implantat-Versuche an Hund oder Affe so schnell wie möglich zu beenden. Diese Entwicklung ist die große Herausforderung der kommenden Jahre.

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 1/2018, S. 7-8
Menschen für Tierrechte
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
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Telefon: 0211 / 22 08 56 48, Fax. 0211 / 22 08 56 49
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Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2018

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