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ATOM/1194: Unzureichende Grenz- und Vorsorgewerte für Strahlenbelastung (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 696-697 / 30. Jahrgang, 7. Januar 2016 - ISSN 0931-4288

Atommüll
Nicht 1 mSv, nicht 10 µSv, sondern 0,25 µSv zusätzliche Strahlenbelastung pro Jahr müssten es sein, würden internationale Regeln angewendet

Von Thomas Dersee


Europarechtliche Richtlinien für Krebs erzeugende Luftschadstoffe gehen von einem Risikoansatz von 1 zu 1 Million aus. [1] Geht man davon aus, daß dies auch für ionisierende Strahlen gelten sollte, dann ergibt sich gemäß der aktuellen Empfehlung der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) aus dem Jahr 2007 eine Jahresdosis von 0,25 Mikrosievert zusätzlicher Strahlenbelastung pro Jahr (µSv/a). Und zum Beispiel gemäß den unabhängigen Auswertungen der Daten von Hiroshima und Nagasaki von Nußbaum et al. aus dem Jahre 1991 müßten es dann sogar weniger als 0,04 µSv/a sein. [2]

Wollte man entsprechend dem "Stand der Wissenschaft" handeln, hätten die bisher geltenden Grenz- und Vorsorgewerte im Strahlenschutz schon längst entsprechend angepaßt werden müssen. Tatsächlich liegen sie sämtlich unverändert um Größenordnungen darüber. Bereits bei ihrer regierungsamtlichen Deklarierung entsprachen sie nicht dem seinerzeit geltenden "Stand der Wissenschaft". Sie sind zudem in sich widersprüchlich.

Ein Entwurf für die Sicherheitsanforderungen für Endlager wärmeentwickelnder Atomabfälle wollte im Jahr 2009 ein Risiko für tödliche Krebserkrankungen in Höhe von 1 zu 10.000 für künftige "wahrscheinliche Entwicklungen" zulassen. [3] Das heißt, eine von 10.000 Personen sollte vorzeitig an Krebs sterben dürfen. Für weniger wahrscheinliche Entwicklungen bei der Endlagerung sollte es im Jahr 2009 auch einer von 1.000 Personen (1:1.000) sein dürfen. Diese Kriterien sollten als erfüllt gelten, hieß es 2009, wenn "aus den am Rande des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs freigesetzten radioaktiven Stoffmengen (...) keine effektive Dosis größer als 0,1 mSv im Kalenderjahr resultieren kann." Über die verlangte Nachweiszeit von 1 Million Jahre ist das eine Gesamtdosis von 100 Sievert (Sv).

Nach dem kurz darauf erfolgten Regierungswechsel veröffentlichte die neue Bundesregierung dann mit Stand vom 30. September 2010 und nach Absprache mit den Bundesländern die bis heute gültigen Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung. [4] Demnach soll für "die Nachverschlussphase" nachgewiesen werden, "dass für wahrscheinliche Entwicklungen durch Freisetzung von Radionukliden, die aus den eingelagerten radioaktiven Abfällen stammen, (...) nur eine zusätzliche effektive Dosis im Bereich von 10 Mikrosievert im Jahr auftreten kann." Dabei seien Personen mit einer heutigen Lebenserwartung zu betrachten, die während ihrer gesamten Lebenszeit exponiert werden. In Anlehnung an die ICRP-Empfehlung 104 aus dem Jahre 2007 werden die 10 µSv/a als "triviale Dosis" bezeichnet. Für "weniger wahrscheinliche Entwicklungen" darf es auch die 10-fache Dosis sein, nämlich 0,1 Millisievert pro Jahr (mSv/a). Das wird damit begründet, daß für "derartige Entwicklungen (...) höhere Freisetzungen radioaktiver Stoffe zulässig" seien, weil "das Eintreten solcher Entwicklungen eine geringere Wahrscheinlichkeit aufweist" als die der "wahrscheinlichen Entwicklungen". In Anlehnung an die ICRP-Empfehlung 81 aus dem Jahre 1998 wird hierbei von einem Risiko, vorzeitig an Krebs zu sterben, in Höhe von 1 zu 100.000 ausgegangen.

Das BMU begründet das damit, diese Indikatorwerte für die Nachbetriebsphase lägen erheblich niedriger als die in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Grenzwerte für Expositionen der Bevölkerung durch den Betrieb kerntechnischer Anlagen. Und die "Anforderung eines Nachweiszeitraumes von 1 Million Jahre und die radiologischen Indikatordosen" seien "im internationalen Vergleich hohe Anforderungen".

Tatsächlich verlangt Paragraph 46 der deutschen Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) in der geltenden Fassung, für die allgemeine Bevölkerung einen Dosiswert von 1 Millisievert pro Jahr (mSv/a) beim Betrieb kerntechnischer Anlagen nicht zu überschreiten. Für beruflich bedingte Strahlenbelastungen dürfen es dagegen 20 mSv/a sein (§ 55 StrlSchV). Für die Freigabe von radioaktiv belasteten Materialien aus dem Rückbau der Atomkraftwerke zum Recycling und zur Ablagerung auf normalen Hausmülldeponien gilt seit 2001 ebenfalls ein Dosiswert von 10 µSv/a, der eingehalten werden soll (§ 29 StrlSchV). Und für die Freigabe des Nachlasses aus dem Uranbergbau in Sachsen und Thüringen darf es das 100fache dieses Wertes sein (1 mSv/a gem. §§ 97 und 98 StrlSchV). Was die Anforderungen an die "radiologischen Indikatordosen" angeht, so ist gezeigt worden, daß die Freigabepraxis in Wirklichkeit auch 1.000-fach höhere Strahlendosen als die deklarierten 10 µSv/a zuläßt. [7]

Bei der Entwicklung des 10 µSv-Konzeptes im Jahr 1998 wurde für die Dosis von 10 µSv von einem Risiko in Höhe von 1:10 Millionen ausgegangen, obwohl die ICRP bereits 1990 dafür von einem Risiko in Höhe von 1:2 Millionen ausging. [5] Damit und mit den Empfehlungen aus dem Jahr 2007 wurden Erkenntnisse aus den 1970er Jahren umgesetzt. Die Grenzwerte wurden jedoch nicht entsprechend korrigiert. Das Risiko von 1:10 Millionen entspricht dagegen dem Stand der ICRP-Empfehlungen aus dem Jahr 1977, die bei der Entwicklung des 10 µSv-Konzeptes immer noch angewandt wurden. [8] Bereits in den 1990er Jahren hatte es zudem unabhängige Auswertungen der Daten von Hiroshima und Nagasaki gegeben, die deutlich höhere Risiken ergaben, die die ICRP jedoch 2007 nicht berücksichtigte. [2, 6]


Tabelle: Sicherheitsanforderungen für den Betrieb kerntechnischer Anlagen (2001/2011)


Fazit

Tatsächlich ergibt sich bei einer Dosisbelastung von 1 mSv/a und 70 Jahren Lebensdauer einer Generation mit der ICRP-Empfehlung aus dem Jahr 2007, die den Kenntnisstand der 1970er Jahre widerspiegelt, ein Krebs-Todesrisiko von 4:1.000. [9] Europarechtliche Richtlinien für Krebs erzeugende Luftschadstoffe gehen von einem Risikoansatz von 1:1 Million aus. [1] Läßt man dies auch für ionisierende Strahlen gelten, dann ergibt sich daraus eine Jahresdosis von 0,25 µSv. [10] Und zum Beispiel gemäß Nußbaum et al. (1991) müßten es sogar 0,037 µSv/a sein, wollte man dem "Stand der Wissenschaft" gemäß handeln. [11]

Allerdings entspricht bereits das heute noch immer verwendete Dosiskonzept des "Sievert" nicht dem Stand der Wissenschaft. Es wurde vor der Entdeckung der DNA, der Trägerin der Erbsubstanz, entwickelt, beruht pauschal auf der Energieabsorbtion makroskopischer Gewebevolumina und ignoriert bis heute unverändert die Besonderheiten der kleinteiligen Zellstrukturen. Es wäre Aufgabe von Strahlenbiologen, ein neues Dosiskonzept zu entwickeln. Leider wurde jedoch die Strahlenbiologie an deutschen Hochschulen praktisch abgeschafft.


Anmerkungen

[1] Inge Schmitz-Feuerhake: Ionisierende Strahlung, Kap. 5.5.1 in Leitlinien Menschliche Gesundheit - Für eine wirksame Gesundheitsfolgenabschätzung in Planungsprozessen und Zulassungsverfahren. UVP-Gesellschaft e.V., AG Menschliche Gesundheit (Hrsg.), Hamm 2014, S. 111-122.

[2] Lebenszeit-Krebsrisiko 0,230,38/Sv gem. R.H. Nußbaum, W. Köhnlein, R.E. Belsey (1991): Die neueste Krebsstatistik der Hiroshima-Nagasaki-Überlebenden: Erhöhtes Strahlenrisiko bei Dosen unterhalb 50 cGy (rad) Konsequenzen für den Strahlenschutz, Med. Klin. 86:99-108.

[3] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU): Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle, Berlin, Juli 2009. Abgelöst wurden damit Anforderungen aus dem Jahr 1983.

[4] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU): Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle, Stand 30. September 2010.

[5] Risikofaktor für die allgemeine Bevölkerung, zusätzlich an Krebs zu sterben, 5% pro Sv = 0,05/Sv und Dosisgrenzwert weiterhin 1 mSv, gem. ICRP Publication 60 (1990) bzw. 0,055/Sv (ICRP 103, 2007).

[6] Lebenszeit-Krebsrisiko 0,170,22/Sv gem. D.A. Pierce, Y. Shimizu, D.L. Preston et al. (RERF 1996): Studies of the Mortality of Atomic Bomb Survivors. Report 12, Part I. Cancer: 1950-1990. Radiat. Res. 146:127.

[7] Werner Neumann: Bis zu 1.000-fach höheres Strahlenrisiko bei der Freigabe von Atommüll aus dem Abriss von Atomkraftwerken, Strahlentelex 662-663 v. 7.8.2014, S. 1-8,
www.strahlentelex.de/Stx_14_662-663_S01-08.pdf

[8] gem. ICRP Publication 26 (1977): unter der damaligen Annahme, der Risikofaktor betrage 1% pro Sievert (Sv) = 0,01/Sv und es gilt ein Dosisgrenzwert von 1 Millisievert (1 mSv) für die allgemeine Bevölkerung.

[9] 70·10-3·0,055 = 1:260 oder genauer nicht nur mit Berücksichtigung der Krebssterblichkeit, sondern auch lt. ICRP mit 0,002/Sv für genetische Risiken: 70·10-3·0,057 = 1:250 = 4:1.000; gem. [1]

[10] 1:106 / 4:103 mSv/a = 0,25·10-3 mSv/a = 0,25 µSv/a.

[11] 1:106 / 70·1:2.600 mSv/a = 0,037 µSv/a.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_16_696-697_S01-03.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Januar 2016, Seite 1 - 3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2016

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