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BUCH/664: Ein Fukushima-Lesebuch (Strahlentelex)


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Nr. 648-649 / 2014 / 28. Jahrgang, 2. Januar 2014

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Ein Fukushima-Lesebuch

von Annette Hack



Zum Umweltbuch des Monats Dezember 2013 wählte die Deutsche Umweltstiftung das von Lisette Gebhardt und Steffi Richter herausgegebene "Lesebuch 'Fukushima'". Es umfaßt 23 Beiträge, ein kleines Atom- und Strahlen-Vokabular Japanisch-Deutsch, ein Namens- und ein sehr ausführliches Sachregister. Die Beiträge sind teils Übersetzungen oder Zusammenfassungen aus dem Japanischen, teils Darstellungen und Analysen auf der Grundlage japanischer Bücher und zahlreicher Internetquellen. Die Autorinnen und Autoren arbeiteten am Projekt "Textinitiative Fukushima" der japanologischen Institute in Frankfurt am Main und Leipzig mit.

Gegliedert ist das Lesebuch in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt trägt den Titel "Atomkraft, Atompolitik, Atomarbeit". Betrachtet werden zunächst Erlebnisse und Gedanken des Schweißers Kawakami Takeshi, der fast zehn Jahre in Atomkraftwerken tätig war und in der Nähe des AKW Hamaoka südlich von Tokyo wohnt. Es geht um laxe Handhabung des Strahlenschutzes, den Wert von Maschinen und Menschen und um Korruption, Druck, Abhängigkeit und Angst bei der Ansiedlung des Kraftwerks Hamaoka. Ein weiterer Beitrag befaßt sich mit japanischen Analysen zur 'friedlichen' Nutzung der Atomenergie gerade in Japan, das die militärische Nutzung ja erfahren hatte.

Der dritte Beitrag dieses Abschnitts faßt die Arbeit "Ich möchte, daß die Leute wissen, was Kernkraftwerke sind" zusammen, die Hirai Norio nach jahrzehntelanger Arbeit in Atomkraftwerken kurz vor seinem Krebstod 1997 schrieb. "Wenn Sie diesen Text bis zum Ende gelesen haben, werden Sie gut darüber Bescheid wissen, daß Atomkraftwerke nicht so sind, wie Sie es sich vorstellen, daß sie täglich aufs Neue Strahlenopfer hervorbringen und enorme Diskriminierungen schaffen." (S. 58 f.) Wie Kawakami berichtet auch Hirai von 'kreativem' Umgang mit den Strahlenschutzvorschriften und mangelhafter Information der Beschäftigten. Außerdem befaßt er sich mit kontaminierten Abwässern und der Problematik des Atommülls.

"Atomkraftwerke setzen eine Welt voraus, die niemals unvollkommen sein darf" wird Tsuchida Takashi im folgenden Beitrag zitiert (S. 71). Tsuchida trat in den siebziger Jahren von seiner Professur für Ingenieurwissenschaft zurück, nachdem er miterleben mußte, wie in einem Prozeß gegen den Bau eines AKW-Blocks auf der Insel Shikoku, das Gericht ausgetauscht wurde, als abzusehen war, daß die Sachverständigen der Kläger, darunter auch er, möglicherweise obsiegen würden.

Der letzte Beitrag zu diesem Kapitel gibt einen Abriß der Robotertechnik, wie sie in Japan für den Einsatz in Atomkraftwerken und bei Atomunfällen entwickelt wurde. Die Entwicklung der Katastrophenroboter scheint ausschließlich von staatlicher Initiative und Förderung abhängig zu sein. Der Mythos von der sicheren Atomenergie verhindere hier geradezu die Entwicklung, "da allein die Existenz dieser Roboter schon Zweifel an der Sicherheit der Atomkraftwerke in Japan geweckt hätte". Jeweils nach Atomunfällen, zuletzt im Jahr 2000, setzte Betriebsamkeit auf diesem Gebiet ein, um nach Auslaufen der Förderung - ca. 3 Milliarden Yen für 6 schließlich verworfene Prototypen - wieder zu versanden. So standen Roboter, die der Strahlung und anderen Anforderungen standhielten, erst (immerhin?) drei Monate nach dem Reaktorunfall von Fukushima zur Verfügung, anspruchsvollere Exemplare, die z. B. Treppen steigen konnten, um die oberen Geschosse der Reaktorgebäude zu betreten, erst nach mehr als einem Jahr.

Der zweite Lesebuch-Abschnitt "Kunst und Katastrophe" enthält Beiträge zum japanischen Avantgarde-Theater, zu Comics, zur Literatur und zu Fotografie und Film.

Jeder wird wohl Bilder von gestrandeten Schiffen, kilometerlangem Schutt und auch der ruinierten Gebäude von Fukushima, sogar mit der Explosionswolke, gesehen haben. Weitaus schwieriger aufzunehmen sind die Folgen der Reaktorkatastrophe. Mehrere Dokumentarfilmer haben es mit unterschiedlichen Ansätzen versucht, zum Teil waren die hier besprochenen Filme auch in Deutschland zu sehen.

Vorgestellt wird auch die Fotoserie "Frontline in Fukushima", die Obara Kazuma auf dem Gelände des Unglücksreaktors im August 2011 aufnahm, und mit einer Dokumentation, z.B. der Strahlenbelastung an den jeweiligen Orten, versah. Obara wollte der an Recherche vor Ort armen Berichterstattung der Medien etwas entgegensetzen, und den Arbeitern auf dem Kraftwerksgelände ein Gesicht geben. Aufschlußreich ist auch das "Kleine Tableau der Post-Fukushima-Fotografie" - wer eine Ausstellung zur Reaktorkatastrophe machen will, wird hier sicher fündig.

Manga - japanische Comics - erscheinen in hohen Auflagen. Das Bild, das man vom Atombombenabwurf auf Hiroshima in sich trägt, ist nicht zuletzt auch von der Comic-Reihe 'Barfuß durch Hiroshima' geprägt. Neben dieser werden zwei Comicserien über fiktive Nuklearkatastrophen vorgestellt, deren eine sich nach dem Unfall von Fukushima Daiichi der "Selbstbeschränkung" (sprich: freiwilligen Zensur) unterwarf. Die Frage, ob und wie die Darstellungen der historischen und der fiktiven Katastrophen die Wahrnehmung der mit dem Unfall von Fukushima tatsächlich eingetretenen beeinflussen, stellt die Autorin allerdings nicht. Die Rezensentin hat beim Lesen japanischer Texte, auch wissenschaftlicher, manchmal den Eindruck, man hätte es gerne etwas 'blutiger' gehabt, statt sich mit Schäden konfrontiert zu sein, die erst im Lauf der Jahre sichtbar werden, denen man aber heute vorbeugen muß.

Der dritte Abschnitt des Lesebuches ist dem Thema "Medienmanipulation und mediale Aufklärung" gewidmet. Eingeleitet wird er mit der Übersetzung eines älteren Interviews mit der Dokumentarfilmerin Kamanaka Hitomi, die sich schon seit vielen Jahren mit den Folgen von Strahlenexposition weltweit beschäftigt, z.B. in ihrem Film 'Hibakusha' mit dem Einsatz abgereicherter Uran-Munition im Irak und den Hanford-Downwinders in den USA, oder in 'Rokkashomura rapusodi' mit der Problematik der Atomkraftnutzung in Japan. "Bei Fernsehsendungen ist es ja z.B. so," sagt Kamanaka, "daß zum Schluß 'Antworten' vorgegeben, die Zuschauer also nicht veranlaßt werden, über verschiedene Dinge nachzudenken; das Denken wird ausgeschaltet. Aber mein Film meidet diese Form, ich habe ihn so gemacht, daß man keine Antwort bekommt, wenn man nicht selbst nachdenkt." (S. 243)

Nach einer Kostprobe des Denkens von Yamashita Shun'ichi, damals frisch ernannter oberster Beauftragter für Gesundheitsmanagement der Präfektur Fukushima, folgt in dem Lesebuch ein Porträt des Atomkraftkritikers Hirose Takashi. Er hatte 2010 in einem Gedankenexperiment ein Erdbeben vor dem südlich von Tokyo gelegenen AKW Hamaoka durchgespielt und wurde ein Jahr später in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der alte Herr ist seither einer der schärfsten und unermüdlichsten Kritiker aller Bemühungen, das Geschehene zu verharmlosen oder als "jenseits aller Vorstellungen" wie eine höhere Gewalt der Diskussion und der Verantwortlichkeit zu entziehen. Den nach Auffassung der Politik erreichten "Zustand der Kaltabschaltung" der havarierten Reaktoren zweifelt er an. Weitere Explosionen und anderes seien nicht auszuschließen. Es sei angemerkt daß Hirose nach dem Auftritt des japanischen Ministerpräsidenten Abe vor dem IOC - 'die Situation in Fukushima ist unter Kontrolle' - einen internationalen Aufruf verfaßte, in dem er die jungen Sportler bittet, sich eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokyo 2020 sehr gut zu überlegen.

Einen Eindruck von den Aktivitäten der japanischen Atomlobby vor und nach der Katastrophe von Fukushima vermittelt ein Beitrag zur Stiftung JAERO (Japan Atomic Energy Relations Organisation). Diese Stiftung betreibt seit 1969 Öffentlichkeitsarbeit, ein Großteil ihres Etats stammt aus öffentlichen Mitteln, im Vorstand sitzen renommierte Mitglieder des 'Atomdorfs'. Der hier übersetzte Geschäftsbericht über 2008/9 zeigt: Die Verbindung zum Wissenschafts- und Kultusministerium MEXT ist besonders eng, viele Aktivitäten und Informationen richten sich speziell an Schüler. Aber auch Aufträge des Wirtschaftsministeriums wurden erledigt, zum Beispiel: "Gründung von regional aktiven Non-Profit Organisationen, die Informationen bereithalten und Werbung für Atomkraft machen" und anderes mehr. Seit 2008 betreibt die Stiftung auch eine Internetseite, wo sich beliebte junge Pop-Größen als "Atom-Idols" betätigten. Im ersten Halbjahr des Betriebs gab es über 400.000 Zugriffe. Anhand einiger Abbildungen (S. 281 ff) kann man sich ein Bild von der Art der Propaganda machen. Nach der Reaktorkatastrophe änderte sich nicht die Tendenz aber der Ton - man bemüht sich nun um die Verbreitung "eines richtigen Verständnisses der Auswirkungen von Radioaktivität auf die Gesundheit". Das 'richtige Verständnis', bemerkt die Autorin des Beitrags zu Recht, hat nicht unbedingt etwas mit fachlichem Wissen zu tun, sondern soll von JAERO definiert und von allen anderen geglaubt werden.

Katastrophe vor der Haustür und aggressiv-blödelnde Werbung bei den privaten Fernsehsendern, das paßt nicht zusammen. Die Werbung wurde daher, wie der folgende Beitrag des Lesebuchs schildert, zunächst durch Filmchen zur Nützlichkeit von Krebsprävention und zur Höflichkeitserziehung von Kindern, später durch Appelle zum nationalen Zusammenhalt und zur Unterstützung der unmittelbar Betroffenen ersetzt. Das wiederum inspirierte Internetnutzer zu parodistischer Verfremdung und atomkritischer Umformung dieser Botschaften.

Der vierte Abschnitt des Lesebuchs versammelt Beiträge zu politischen Diskussionen, Protesten und einer neuen kritischen Öffentlichkeit. Eine "Miniaturskizze der kritischen Öffentlichkeit" schildert die Demonstrationen gegen die Wiederinbetriebnahme abgeschalteter Kraftwerke, den offensiven Umgang von Bürgern mit Kommissionen, die über ihre Zukunft entscheiden sollen, und die neue lebhafte Dokumentations- und Diskussionskultur im Internet. Der folgende Beitrag portraitiert den Schauspieler und Entertainer Yamamoto Taro, der wegen seines atomkritischen Engagements von seinen bisherigen Auftraggebern in Film und Fernsehen weitestgehend boykottiert wird. Die Greenpeace-Mitarbeiterin Takada Hisayo äußert sich anschließend im Interview zu den Zielen und Perspektiven ihrer Arbeit in Japan. Der Lesebuch-Beitrag über "Wurzeln und Dynamiken von Protest und Dissidenz in Japan seit Fukushima" beschäftigt sich vor allem mit der Bewegung 'Shiroto no Ran' (Aufstand der Laien), die aus dem Prekariat entstanden ist und Atomkritik mit Konsum- und Gesellschaftskritik verbindet.

Die ultranationalistische japanische Rechte, auf deren Mühlen mit den Durchhalteparolen und Appellen zur nationalen Einigkeit (Abbildungen auf S. 349, 353) viel Wasser gegossen wurde, ist gespalten, wenn es um die Zukunft Japans mit oder ohne Kernenergie geht. Neben ausgewiesenen "Umweltschützern" stehen Befürworter der Atomkraft und einer atomaren Bewaffnung Japans. Zur Abwehr von Verunsicherung empfiehlt es sich in solchen Kreisen traditionell, gegen die koreanische Minderheit in Japan zu mobilisieren (Abb. S. 360).

Zwei Berichte über Reisen, die eine durch die japanische Protestkultur, die andere durch die nähere und weitere Umgebung des havarierten Kernkraftwerks, runden das Mosaik aus den Jahren eins und zwei nach der Katastrophe ab, und geben Einblicke in den Alltag im verstrahlten Gebiet.


Lisette Gebhardt, Steffi Richter (Hg.): Lesebuch 'Fukushima'. Übersetzungen, Kommentare, Essays. EB-Verlag Dr. Brandt, Berlin 2013. 443 S., ISBN 978-3-86893118-1.

Hingewiesen sei auch auf den von Steffi Richter und Lisette Gebhardt herausgegebenen Band 15 der Leipziger Ostasien-Studien: Japan nach 'Fukushima. Ein System in der Krise'. Leipziger Universitätsverlag 2012. 218 S., ISBN 978-3-86583-692-2

Homepage der Textinitiative: http://textinitiative-fukushima.de


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_648-649_S06-08.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Januar 2014, Seite 6-8
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2014