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KATASTROPHEN/067: Jahrestagung der deutschen Strahlenschutzkommission - Thema Fukushima (Strahlentelex)


Strahlentelex mit Elektrosmog Report, Nr. 606-607/26. Jahrgang, 5. April 2012

"Was für ein Glück"
Jahrestagung 2012 der deutschen Strahlenschutzkommission (SSK) in Hamburg

von Thomas Dersee



Bisher hat es noch keine Todesopfer durch Strahlung aus der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Japan gegeben. Und: Der Natur dort werde es später einmal wieder prächtig und besser als zuvor gehen, wenn der Mensch sie notgedrungen wegen zu hoher radioaktiver Verstrahlung längere Zeit in Ruhe lassen muß. Das festzustellen war Professor Dr. Wolfgang-Ulrich Müller vom Institut für Strahlenbiologie am Universitätsklinikum Essen am Ende der diesjährigen Jahrestagung der deutschen Strahlenschutzkommission (SSK) wichtig. Sie hat vom 14. bis 16. März 2012 in Hamburg stattgefunden und stand unter dem Themenschwerpunkt "Ein Jahr nach Fukushima - eine erste Bilanz aus der Sicht der Strahlenschutzkommission".

Müller ist seit Januar 2012 erneut Vorsitzender der SSK, nachdem er es schon einmal von 2004 bis 2007 gewesen war. Er hat Professor Dr. Rolf Michel vom Zentrum für Strahlenschutz und Radioökologie (ZSR) der Leibniz Universität Hannover abgelöst, der dieses Amt von 2008 bis 2011‍ ‍innehatte.

Zu diesen Feststellungen fühle er sich "dem Mann auf der Straße" verpflichtet, meinte Müller. Erst an zweiter Stelle wendet sich die SSK der zentralen Fragestellung zu, nämlich der Frage nach den Folgen und Spätschäden der Katastrophe.

"Nicht das Restrisiko hat zugeschlagen, sondern die Auslegung der Anlagen war unzureichend", meinte Dr. Reinhard Stück von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH in Köln. Hier geht man von der offiziellen Darstellung der japanischen Regierung aus, daß nicht schon das Erdbeben Brennelemente zerstört und die Katastrophe eingeleitet hat, sondern erst der Tsunami mit einer 14 Meter hohen Flutwelle zum Ausfall der elektrischen Anlage, der Kühlung und damit zur Katastrophe führte. Im Vergleich zu Tschernobyl habe Japan jedoch Glück gehabt, weil der radioaktive Niederschlag überwiegend über den Pazifik niederging und nicht über dem Land. Die Höhe der aus den Reaktoren ausgetretenen Radionuklidmengen, Grundlage für Ausbreitungsrechnungen, nimmt Stück entsprechend den Angaben der japanischen Regierung mit 1 bis 2·1017 Becquerel Jod-131 und 1 bis 2·1016 Becquerel Cäsium-137 an.

Allerdings, darauf weist Dr. Martin Sogalla von der GRS hin: Weil ein sehr großer Teil der Radionuklidwolken über dem Meer abgetrieben ist und dazu Messungen fehlen, sind derartige Abschätzungen zwangsläufig mit hohen Fehlern behaftet. Man könne allerdings wohl davon ausgehen, daß wahrscheinlich vor allem die dritte Freisetzung am Abend des 15. März 2011 verantwortlich sei für die hohen Belastungen in Richtung Nordwesten.

Allerdings befürchtet man auch weiterhin Wasserstoff-Verbrennungen bzw. -Explosionen, weshalb Einspeisungen von Stickstoff ins Containment und in die Reaktordruckbehälter weiterhin notwendig sind. 4.441 abgebrannte Brennelemente sollen sich Dr. Michael Maqua (ebenfalls GRS) zufolge in den Brennelemente-Lagerbecken der AKW Blöcke 1 bis 4 von Fukushima Dai-ichi befinden. Speziell das Lagerbecken von Block 4 mit der höchsten Aktivität schwebt weiterhin instabil in der Luft und droht bei einem erneuten kräftigen Erdstoß einzustürzen. In diesem Fall könnten Evakuierungen der Bevölkerung bis nach Tokyo notwendig werden.

Auch der ehemalige SSK-Vorsitzende Rolf Michel betont das "Glück" der Japaner und zeigt sich beeindruckt von dem im Vergleich zu Tschernobyl geringen Fallout über dem Land. Die Verdünnung im Pazifik werde dazu führen, daß kaum Konsequenzen zu erwarten seien. Zur Abschätzung der Strahlenfolgen bei der Bevölkerung habe es allerdings keine vernünftigen Messungen der Jod-131-Schilddrüsendosen gegeben und Jod-Messungen im Fallout seien erst im Juni und Juli durchgeführt worden, kritisierte er, was bei einer Halbwertszeit von 8 Tagen keine vernünftigen Aussagen mehr erlaubt. An den Schilddrüsen seien keine richtigen Messungen durchgeführt, sondern lediglich "Ortsdosisleistungen" bestimmt worden. Aussagen auf dieser Grundlage sind deshalb äußerst gewagt. Trotzdem vertraut Michel auf Rekonstruktionen der Expositionen, die für das erste Jahr davon ausgehen, daß "zu mehr als 90 Prozent der Betroffenen unter 10 Millisievert" erreicht wurden.

Obwohl zum Teil auch hohe Kontaminationen gemessen worden sind, schließt Michel aus lediglich einer Handvoll punktueller Bodenmessungen zu Strontium-90, daß dieses Radionuklid nicht zusammen mit dem Radiocäsium ausgetreten, sondern "massiv dringeblieben" sei und deshalb "keinen relevanten Beitrag zur Strahlenexposition leisten wird." Strontium-Messungen in Nahrungsmitteln gibt es bisher offenbar überhaupt keine.

Zu den Cäsiumbelastungen von Nahrungsmitteln merkte Michel an: "Bambussprossen und diverse japanische Obstsorten scheinen Cäsium zu lieben". Reis auf trockenen Sandböden enthalte viel Radiocäsium, Reis auf tonhaltigen Naßfeldern dagegen weniger. Tee sei besonders hoch belastet, wegen der Verdünnung beim Teeaufguß sei er jedoch in Japan "ein Nahrungsmittel geringerer Bedeutung".

Dr. Wolfgang Weiss vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), derzeit Vorsitzender des Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen für die Wirkung der Atomstrahlung (UNSCEAR), wies darauf hin, daß wir uns "immer noch im Bereich der Katastrophe" befinden. Die japanische Regierung habe noch nicht erklärt, daß die Notfallsituation beendet ist und es seien noch viele Fragen offen. So seien die am Anfang von Flugzeugen des US-amerikanischen Militärs aus erhobenen Daten bis heute nicht öffentlich gemacht worden und ein Großteil der japanischen Daten sei nicht qualitätsgesichert. Im Gegensatz zu Umweltdaten gebe es auch kaum personenbezogene Daten. Und es gebe in Japan auch keine "Road-Map" zum weiteren Vorgehen. Die Daten aus dem Überwachungsnetz für Kernwaffentests (CTBTO) legten allerdings nahe, daß in Fukushima lediglich "ein Cäsium137-Pegel wie in Bayern nach Tschernobyl" erreicht worden sei. Und es gebe auch keine akuten Strahleneffekte.

Das ist für Prof. Dr. Christian Streffer, einst von 1993 bis 1995 Vorsitzender der SSK, kein Trost. Er merkt in der Diskussion an, daß es zwar für schwere geistige Retardierungen wohl eine Schwellendosis gebe, nicht aber für leichtere kognitive Beeinträchtigungen von Kindern, gemessen am Intelligenzquotienten (IQ). Das werde in bisherigen Studienplanungen nicht berücksichtigt.

Große politische Diversität

In Deutschland und der Schweiz sei ein Ausstieg aus der Kernenergieerzeugung beschlossen, in Italien kein Wiedereinstieg und in den USA und in Tschechien dagegen ein weiterer Ausbau, stellt Michael Maqua von der GRS konsterniert fest. Und im Publikum wird die Frage gestellt, wie die kerntechnische und die Strahlenschutz-Kompetenz in Zeiten des Rückbaus von AKW erhalten werden kann.

Keine Lehren: weder aus Tschernobyl, noch aus Fukushima

In Hinblick auf die trotz des beschlossenen Atomausstiegs in Deutschland noch einige Jahre weiterlaufenden und die in den Nachbarländern betriebenen Atomkraftwerke tröstet man sich hier damit, daß es in Deutschland keine Tsunamis gebe und Schuld an dem Desaster in Japan eine unzureichende Sicherheitskultur sei, die Anlagen dort fehlerhaft ausgelegt und die Nachrüstungen unzureichend gewesen seien, wie der Vorsitzende der Reaktorsicherheitskommission (RSK), Rudolf Wieland vom TÜV Nord SysTec GmbH & Co.KG, Hamburg, aufzählte.

Denn über eines ist man sich im Kreise der SSK völlig klar: Eine vergleichbare Atomkatastrophe wie in Fukushima würde den Katastrophenschutz hierzulande völlig überfordern, er ist dafür nicht gerüstet, die Behörden sind kaum darauf vorbereitet. Dr. Margot Horn von der TÜV Rheinland Industrie Service GmbH in Köln wies unter anderem auf fehlendes Personal, eine unzureichende Infrastruktur, fehlendes Material, ungeklärte Abfalllagerung und fehlende Normen hin.

Johannes Kuhlen, Leiter des Referats Notfallschutz im Bundesumweltministerium (BMU) konstatiert: Für den Katastrophenschutz sind in Deutschland die jeweiligen Bundesländer zuständig, deren Vertreter ihre Zuständigkeiten gegenüber dem Bund verteidigen. Der Katastrophenschutz und entsprechende Übungen sind bisher nur unzureichend durchdacht und defizitär. Im Ausland werde zum Teil regelmäßig geübt, in Deutschland dagegen nicht.

Ulrike Welte von der Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH, Hamburg, versuchte abschließend die Stimmung der Tagungsteilnehmer wieder zu heben. Sie war einst als Betriebsleiterin für das AKW Krümmel vorgesehen, hatte jedoch bei der praktischen Zulassungsprüfung im Dezember 2010 versagt, woraufhin Vattenfall in Krümmel und Brunsbüttel aufgab und die Betriebsführung der beiden AKW an den Miteigentümer Eon übergab. Jetzt leitet Frau Welte die Notfallschutz-Arbeitsgruppe der SSK und erklärte, in Deutschland bestünden "solide Grundlagen für den Notfallschutz", sie müßten "nur noch robuster und flexibler gemacht werden" und die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und der Einsatzkräfte müßten nur "vollständig durchdacht" werden.

Die Arbeitsgruppe von Frau Welte hat ein Jahr nach Fukushima (und 26 Jahre nach Tschernobyl) lediglich an der Erarbeitung einer Liste von veränderungswürdigen Vorschriften und Gesetzen gearbeitet, die aber noch nicht fertig ist. Der Inhalt dieser Liste wurde jedoch auf der Jahrestagung nicht vorgestellt, geschweige denn die Vorstellungen der SSK-Arbeitsgruppe, in welcher Weise die bisher ausgemachten Schwachpunkte geändert werden sollten. Es ist ja auch noch ein paar Jahre Zeit, bis das letzte deutsche Aromkraftwerk abgeschaltet wird.

Für den deutschen Katastrophenschutz gibt es einen sogenannten Eingreifrichtwert von 10 Millisievert, summiert über 7 Tage, wie Dr. Erich Wirth vom BfS zuvor erklärt hatte. Wird dieser überschritten, wird zum Verbleiben im Haus aufgefordert oder evakuiert, wenn 100 Millisievert über 7 Tage aufsummiert drohen. Jedoch: Bei Windstille hat man bereits nach 6 bis 8 Stunden im Haus dieselbe Dosis wie draußen. Und aus psychologischen Gründen ist an ein Verbleiben im Haus nicht länger als zwei Tage zu denken. Wie mit solchen Widersprüchen umzugehen ist, bleibt unklar.

Und Wolfgang Weiss kritisiert: Gelernt wurde aus den Unfällen bisher praktisch nichts. Nach jedem Unfall werden neue Überlegungen angestellt und Pläne vorgestellt. 10 Jahre danach jedoch ist typischerweise nichts weiter geschehen. Und die medizinische Versorgung und die Nachsorge werden überhaupt nicht angesprochen.

Seit Herbst 2011 liegt dem Bundesumweltministerium eine Analyse des Bundesamtes für Strahlenschutz vor, in der abgeschätzt wird, wie sich eine nukleare Katastrophe der Art, wie sie in Fukushima auftrat, in Deutschland auswirken würde. Dem Spiegel liegt diese Analyse offensichtlich vor.[1] Die Ergebnisse zeichnen ein verheerendes Bild. Auf der Jahrestagung der SSK wurde diese Analyse jedoch mit keinem Wort erwähnt.

Kommentar

Daß bei der Strahlenschutzkommission stets der Subtext mitklingt, "alles sei nur halb so schlimm", wurde auch aus dem Kreis der Tagungsteilnehmer des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) zu Recht kritisiert. Daß es bisher keine Strahlentoten gegeben hat, ist tatsächlich nicht verwunderlich. Denn potentielle Strahlentote wurden vorher von dem Tsunami in Fukushima fortgeschwemmt. Das ist also kein Verdienst "nicht so schlimmer" Strahlung. Auch würde man viele Tote infolge schwerer akuter Strahlenschäden bei Atombombenexplosionen erwarten, nicht jedoch bei Kernschmelzen. Vielmehr geht es hierbei primär um die mittel- und langfristigen Folgen eines Atomunfalls. Wer das ignoriert, setzt sich dem Verdacht aus, den Unterschied zwischen einer Atombombenexplosion und einer Kernschmelze im Atomkraftwerk nicht zu kennen. Wenn "der Mann auf der Straße" - oder tatsächlich wohl eher manche Journalisten - falsche Fragen stellen, steht es einem sogenannten Experten gut an, die wahren Verhältnisse differenziert darzustellen, anstatt Irrtümer in der öffentlichen Darstellung weiter zu verstärken.

Bereits in den ersten Tagen nach dem Erdbeben vom 11. März 2011 war es in dem Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi zu weitgehenden Kernschmelzen gekommen. Für den 14. März um 11.01 und den 15. März um 6.10 Uhr Ortszeit waren damals besonders schwere Explosionen gemeldet worden, die jedoch lediglich als "Wasserstoffexplosionen" bezeichnet worden waren. Die Explosionen waren unmittelbar mit steilen Anstiegen der Ortsdosisleistungen in mehreren hundert Kilometern Entfernung in den angrenzenden Präfekturen und bis Tokyo verbunden, wie Strahlentelex schon in seiner April-Ausgabe 2011 dokumentiert hatte.[2] Deshalb ist auch nicht davon auszugehen, daß die "weitgehend geschmolzenen Kerne" nun einfach auf dem Boden der Sicherheitsbehälter liegen. Das radioaktive Inventar ist vielmehr in großem Ausmaß in die Atmosphäre gelangt und hat sich über dem Land und vor allem offenbar auch über dem Pazifik verteilt. Dafür sprachen bereits die ersten Auswertungen der CTBTO-Messungen des weltweiten Meßsystems zur Kontrolle der Einhaltung des Atomstop-Vertrages durch die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Österreich. Die Meteorologen und Geophysiker hatten bereits am 26. März 2011 erklärt, bereits zu diesem Zeitpunkt sei die in die Atmosphäre freigesetzte Radioaktivitätsmenge mit der von Tschernobyl vergleichbar gewesen.

Mitte Mai 2011 hatten japanische Medien unter Berufung auf Mitarbeiter von Tepco berichtet, intern gehe man davon aus, daß speziell beim Reaktor 1 nicht erst die Doppelbelastung von Erdbeben und anschließendem Tsunami zum Ausfall der Kühlsysteme geführt haben, sondern bereits das Erdbeben allein der Auslöser war. Bereits in der Nacht nach dem Beben, heißt es, hätten Messungen auf einen Strahlenaustritt und Zerstörungen der Brennstäbe hingedeutet.

Solchen Gedanken und Hinweisen ging man auf der SSK-Tagung nicht nach. Statt dessen beklagte man "den geringen Einfluß der Wissenschaft auf die Medien" (Streffer) und die Schwierigkeiten, "verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen". Naturwissenschaftler und Epidemiologen haben allerdings auch kaum Einfluß auf das Strahlenschutzrecht.[3] Wen soll das noch wundern? Kein Gedanke wurde daran verschwendet, weshalb denn das Vertrauen verlorengegangen ist.

[1]‍ ‍M. Fröhlingsdorf, C. Meyer, H. Stark: Die verdrängte Gefahr, Der Spiegel 12/2012 vom 19.3.2012, S.45-46
[2]‍ ‍www.strahlentelex.de/Stx_11_582_S02-12.pdf und www.strahlentelex.de/Stx_11_586_S05-06.pdf
[3]‍ ‍www.strahlentelex.de/Stx_08_504_S06-08.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit Elektrosmog Report 4/2012, Seite 1-3
Herausgeber und Verlag: Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2012