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ALTLASTEN/002: Verwendung radioaktiver Halden als Baumaterial (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 642-643 / 2013 / 27. Jahrgang, 3. Oktober 2013

Atommüll-Endlagerung
Die Verwendung radioaktiver Halden als Baumaterial

Von Frank Lange (1), Kirchlicher Umweltkreis Ronneburg



Der Kirchliche Umweltkreis Ronneburg besteht in diesem Jahr 25 Jahre. Nachfolgender Beitrag versteht sich als Reminiszenz an das langjährige bürgerschaftliche Engagement der Gruppe, die ihre Wurzeln noch in der oppositionellen Umweltbewegung der DDR hatte. Der Umgang mit einer Vielzahl radioaktiver Umweltprobleme im Zusammenhang mit dem Sanierungsgeschehen des Uranbergbaus um Ronneburg führte zu der Erkenntnis, dass die Langzeitwirkung von Radioaktivität jede Art von Ignoranz bestraft. In Thüringen werden Altlasten des Uranbergbaus inzwischen verniedlichend nur noch als Hinterlassenschaften bezeichnet. Offizielle Anfragen, die diese Altlasten außerhalb der Rechtsträgerschaft der Wismut GmbH betreffen und somit keiner Sanierung unter der Regie des Bundes unterliegen, werden konsequent vom TMLFUN (2) und seinen Behörden ignoriert, ausgesessen oder verleugnet. Dies gipfelt dann in Gegendarstellungen mit ständiger Entwarnung vor jeglichen Gefahren, die die Bevölkerung betreffen könnten. Zum Beispiel seien ausreichende Abdeckungen aus der DDR-Zeit vorhanden oder die Anlagen so weit abgelegen, dass selbst Kontrollmessungen nur sinnlosen Aufwand darstellen würden. Nachfolgender Beitrag soll zur Sensibilisierung der Thematik beitragen und konzentriert sich auf die Folgenutzung von radioaktiven Abraum und Rückständen. Neben dem historischen Bezug wird die brisante Aktualität belegt.


Haldenmaterial zu Bauzwecken

Hierbei handelt es sich aus heutiger Sicht um eine besondere und weitgehend unbekannte Altlastkategorie. Abraummaterial in Bergbauregionen bildete immer ein gewisses Reservoir zur Rohstoffversorgung der Bauwirtschaft. Als sogenannter Haldensplitt setzte man es auf Grund mehr oder weniger guter Baustoffeigenschaften ersatzweise für Kies unter anderem im Straßen- und Gebäudebau ein. Das galt auch und insbesondere für den Uranbergbau in Sachsen und Ostthüringen. Als Zuschlagstoff in Verkehrsflächen, Fundamenten und mitunter auch Bauelementen fanden radioaktive Haldenmaterialien in diesen Gebieten weite Verbreitung. Allerdings dauerte es auch nicht lange, und unerklärliche Häufungen von Krebfällen sowie Totgeburten wurden (und werden bis heute) von der Bevölkerung mit der Verwendung des Haldenmaterials in Verbindung gebracht. Die genannten Verwendungskategorien stellen ein bleibendes Gefahrenpotential dar. Ausschlaggebend sind dabei Alterungen, Umnutzungen, Rechtsträgerwechsel, Veränderungen der Auflagenbefolgung oder ganz einfach Unkenntnis. Andere Anwendungen (vgl. Abb. 1), wie Geländeregulierung, Dammbauten oder Rohrgrabenverfüllung stellen einen weit geringeren Gefahrenherd dar.

Tortendiagramm: Geländeregulierung 12%, Dämme 4%, Bauwerke 14%, Wegebau 16%, Betriebsflächen 10%, Straßenbau 44%

Abbildung 1: Verteilung radioaktiver Haldenmaterialien aus Crossen für verschiedene Bauzwecke seit 1974 (nach [2])

Bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts sollten staatliche Restriktionen die Verwendung solcher Materialien regeln und begrenzen. Versuchte man anfangs noch mit Nutzungseinschränkungen zu arbeiten, kam es 1957 in Bezug auf den Uranbergbau zum Verbot. Der Ministerrat der DDR erließ am 27.11. 1957 mit der Verfügung 46/57 "...ein Verwendungsverbot von Abraummaterial aus der Wismut..." [1]. In Einzelfällen erfolgten durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Tiefenprüfungen bis hin zur Strafverfolgung im Zusammenhang mit der Verwendung von Halden als zweckentfremdetes, das heißt nicht genehmigtes Baumaterial. Trotzdem drängten Kiesgrubenbetreiber, Baubetriebe und auch örtliche Kommunalvertreter in der Engpasswirtschaft der DDR auf eine Nutzung vermeintlich geeigneter Abraumhalden des Alt- und Uranbergbaus vor allem im Erzgebirge. Teilweise wurden bewusst "...Verwendungen weiter vorgenommen, ohne zu prüfen ob dieses Material noch entsprechende radioaktive Materialien enthielt." [1] Nachdem Fälle der Verwendung als Betonzuschlagstoff im Gebäudebau zu offensichtlichen Problemen führten, wollte man zumindest den Straßen- und Wegebau als Einsatzsparte beibehalten.

Zu Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts schränkte wiederum ein Ministerratsbeschluss die Weiterverwendung von Halden- und mineralischen Restmaterialien der SDAG (3) Wismut für andere Verwendungszwecke erneut ein. Allerdings ging man nun von Nutzungsmöglichkeiten zumindest außerhalb enger Bebauungen aus. Somit wird deutlich, dass frühzeitig die radiologische Gefahr des Materials erkannt, es aber trotzdem und über Jahrzehnte zweckentfremdet wurde. In den kommenden Jahrzehnten führte die Verwendung von Haldensplitt immer wieder zu Schwierigkeiten. Diese äußerten sich durch hohe Strahlendosen, die bei Zufalls- oder Stichproben festgestellt wurden. Oft standen diese im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Ängsten von Anwohnern vor Krebs- und anderen Erkrankungen. In einer Forschungsarbeit des Kirchlichen Umweltkreises Ronneburg sind Beispielfälle detailliert erfasst [2]. Immer wieder deckten die wenigen staatlichen Nachkontrollen Verstöße gegen Einsatzvorgaben auf [3], die zur Sicherung vor der Strahlung aus diesen Baumaterialien beitragen sollten.

Säulendiagramm: bauliche Verwendung Crossener Haldenmaterials durch Fremdbetriebe in Sachsen und Thüringen 1974-1989

Abbildung 2: Jährliche Verkaufsmengen Crossener Haldenmaterials an die DDR-Bauwirtschaft (aus [2])


Tailings als Baustoff

Eine Steigerungsstufe von Zweckentfremdung erschloss sich die SDAG Wismut. Am 03.07.1970 erhielt sie eine neue Genehmigung zur "Weiterverwendung" ihrer eigenen Betriebshalden [4]. Nachdem seit 1964 bereits eine Zustimmung zum Verkauf an Dritte zur Verwendung außerhalb von Ortschaften vorlag, wollte sich die Wismut spätestens ab 1968 die inzwischen viel umfassender gewordenen Verwendungsfälle offiziell sanktionieren lassen. Wenige Jahre später begann der staatlich sanktionierte Vertrieb der Crossener Halde, welche aus einer Art "verhindertem" Tailingmaterial (4) bestand.

Es handelte sich dabei um Erzgestein der Uranaufbereitungsanlage Crossen. Aus mehreren Aufbereitungsprozessen gelangte gewaschenes und "klassiertes" körniges Material auf die sogenannte Bergehalde. Über die Jahre sollen so mehr als 17 Millionen Tonnen aufgehaldet worden sein, wobei die Halde selbst infolge ständiger Zu- und Abgänge ein Volumen von 3,5 bis 4,0 Millionen Kubikmetern kaum überstieg [4]. Zumindest galt das für den Zeitraum nach 1972. Seit dem wurde der Einsatz als "Crossener Baumaterial" reglementiert und nun umso mehr von der DDR-Bauwirtschaft in Anspruch genommen. Eine Vereinbarung vom 16.12.1972 zwischen dem damaligen staatlichen Kontrollorgan SZS (5) und der SDAG Wismut sanktionierte diese vergleichsweise hochradioaktiven Stoffe für die Weiterverwendung als Baumaterial außerhalb des Uranbergbaus. Nicht etwa behördliche Vorgaben oder ein amtlicher Bescheid regelten die Handhabung, sondern eine beiderseitige Vereinbarung, was das begrenzte Weisungsrecht der Behörde gegenüber dem sowjetisch-deutschen Bergbaubetrieb offenbart. So konnten diverse Klassierungsanlagen für einen ständigen Abstrom des radioaktiven Abfalls als Baustoff in die nähere und weitere Umgebung des Haldenstandortes der Erzaufbereitungsanlage Crossen sorgen. Das Gebiet zwischen dem sächsischen Chemnitz und dem thüringischen Gera war (und ist) besonders betroffen. Die so erwirtschafteten Einnahmen dieses Uranbetriebes beliefen sich bis 1989 auf 45 Millionen Mark. Mindestens 12,4 Millionen Tonnen, nach anderen Quellen 14 Millionen Tonnen [5], wurden so für Straßen-, Wege- und andere Bauzwecke (Abb. 1) über weite Gebiete in Ostthüringen (Abb. 4) und Westsachsen verteilt. Der Verkauf des Haldenmaterials basierte im letzten DDR-Jahrzehnt auf der Rechtsgrundlage der heute noch gültigen Haldenanordnung (HaldenAO) vom 17.11. 1980 [6]. Das Staatliche Amt für Strahlenschutz und Atomsicherheit (SAAS) der DDR erteilte entsprechende Erlaubnisse an Nutzer von Wismuthaldenmaterial zur Verwendung für Bauzwecke. Ab 1974 sporadisch und ab 1976 immer dichter, ohne allerdings eine vollständige Genehmigungslage erreichen zu können. Das heißt, es verblieben ungenehmigte Einsatzfälle zur genüge. Insbesondere die Verwendung des sogenannten "Crossener Materials" potenzierte die mögliche Strahlenbelastung aus derartigem Baumaterial. Daher unterlag die Verwendung bestimmten Auflagen in Bezug auf Abdeckstärken, Nutzungsvorgaben zur Gebäudelüftung und anderes mehr. Die bereits erwähnten seltenen Nachkontrollen ergaben begrenzte Umsetzbarkeit und Wirksamkeit solcher Auflagen.

Säulendiagramm: bauliche Nutzung von Haldenmaterial in Thüringen 1974-1990

Abbildung 3: Genehmigte Jahresbilanzen von Uranhaldenmaterial zu Bauzwecken in Thüringen (ohne Wismutbetriebe) (aus [2])


Fragwürdige Reglementierungen

Das Ziel, mit Einzelzustimmungen im Genehmigungsverfahren eine möglichst lückenlose Nachweisführung zu Einsatzort und Verbleib der radioaktiven Baustoffe zu erreichen, gelang selten. Dafür fehlten meist konkrete objektspezifische Angaben. Genauere Zuordnungen erfolgten eher in Anträgen von Einzelnutzern. Das waren sogenannte gesellschaftliche Bedarfsträger. Dabei handelte es sich um landwirtschaftliche oder forstwirtschaftliche Betriebe, auch Kommunalverwaltungen, sogar Privatpersonen im Eigenheim- oder Garagenbau. Der Verwendungszweck wurde beispielweise für eine Lagerhalle wie folgt beschrieben: "Einsatz im Betriebsstraßenbau, Dammschüttungen und Geländeauffüllung für den Bau" [9]. Eine solche Mehrfachnutzung war dann ohne Detailnachweis möglich. War der Nutzer ein Baubetrieb, überließ man dagegen eine maßnahmenbezogene Zuordnung diesem selbst. Die Zustimmung formulierte dann lapidar "Einsatz im Straßenbau" [10].

Die Handhabung von Auflagen erfolgte viel zu nachlässig und unvollständig. Hinzu kam, dass die "vereinbarten" Vorgaben der Verkaufsinstruktionen des SAAS einige unpräzise Punkte enthielten und immer wieder Schlupflöcher offen ließen. Der Geltungsbereich der Haldenanordnung wurde insbesondere bei der Halde Crossen total aufgeweicht, da das aussortierte Erzgestein strahlungsrechtlich eigentlich nicht anderweitig verwendbar war. Daran änderten die viel zu wenigen (halbjährlichen!) Messungen in der Klassierungsanlage auf der Crossener Halde, die das SAAS zur radioaktiven Erfassung und Einschätzung des Abgabematerials vornahm, nichts.

Sonstiger Abraum des Uranbergbaus, also zum Beispiel aus dem Abbaugeschehen, war als Baumaterial bereits nach einem einfachen "Freimessen" der Halden zugelassen. In sogenannten Lieferbedingungen wurde dann davon ausgegangen, dass man Vorgaben der HaldenAO und auch die Grenzwerte der VOAS (6) generell einhielt. Die Lieferbedingungen bestanden lediglich in der Benennung pauschalisierter Verwendungsfälle, selten als einzelne Baumaßnahme. Weitergehende Auflagen erfolgten bei Abraumhalden in der Regel nicht.

Verstöße betrafen vor allem die Verletzung des Außerorts-Prinzips, das heißt Straßen mit radioaktivem Unterbau oder Tragschichten wurden in Wohngebieten errichtet, wofür gar keine Genehmigung vorlag. Konkrete Auflagen formulierte man nur bei Crossener Haldenmaterial. Hier meist in Form von Einbauvorgaben in Straßen und Fundamenten; bei Bauwerken gab es die schon erwähnten Lüftungsvorgaben. Für Wohnbauten war das Material offiziell nicht zulässig, für Wirtschafts- und Gesellschaftsbauten mit Begrenzungen dagegen schon.

Verschiedentlich stellte man bereits Verstöße in den ersten Verwendungsjahren fest, zum Beispiel indem die Gamma-Dosisleistung neuer Straßen zu hoch war oder Crossener Split als Streugut im Winterdienst verwendet wurde.

Für die Haldenmaterialien legte man in Abhängigkeit des Radiumgehalts Nutzungskategorien fest. Allerdings blieben die Konzentrationsangaben geheim. Es gab die Klassen I bis V. Im Rahmen einer Forschungsarbeit [2] konnte ermittelt werden, dass die "unbelastete" Klasse I mit 0,4 Bq/g Radium-226 die zulässige Freigrenze um 100 Prozent überschritt.

Die Halde Crossen hatte bei der Aktivitätskonzentration einen Durchschnittswert von circa 1,3 Bq/g Radium und 130 g/t Uran. Man stufte sie in die Klasse III und IV ein und ließ das radioaktive Resterzgestein zum allgemeinen Straßenbau zu. Darüber hinaus konnte es der Eigen-Baubetrieb der SDAG Wismut (BMB 17) im Hoch- und Tiefbau (sogar ohne Einzelzustimmung) einsetzen. Dabei wurden auch öffentliche Industrie- und Zweckbauten errichtet.

Da Messkontrollen dennoch unerwartete Strahlungsgrößen ergaben, kam es beim Crossener Material in den späten 1980er Jahren zum Anwendungsverbot von Feinsplitt (0 bis 8 mm). Andere Klassierungen vertrieb man weiter bis zur offiziellen Einstellung des Verkaufes. Die Wismut-Vertriebsstelle in Crossen meldete diesen für den 15.11.1988, aber noch am 02.07.1990 teilte sie Baubetrieben eine Preiserhöhung für Schotter 0/125 mm von 10,50 DDR-Mark pro Tonne auf 28,37 DM pro Tonne netto mit.

An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass es insbesondere das Bürgerengagement und die beginnende DDR-Umweltbewegung der 1980er Jahre war, die das SAAS zu Kontrollmessungen in Wohngebieten Westsachsens veranlassten und erste Rückbaumaßnahmen einleiteten [2], [5].

Karte: Gesamtüberblick der bauwirtschaftlichen Nutzung von Haldenmaterial in Thüringen im Zeitraum von 1974-1990

Abbildung 4: Verteilung radioaktiver Haldenmaterialien zu Bauzwecken in Thüringen seit 1974 nach [2]


Verteilung des radioaktiven Baumaterials in Ostthüringen

Bis 1989 wurden für das Material der Crossener Erzwäschehalde über 640 offizielle Zustimmungen zur Nutzung als Baumaterial ausgegeben. Diverse Auflagen zu Abdeckungsstärken und verschiedene Einbauhinweise erteilte man dabei auf Grundlage von sich zeitlich ändernden Instruktionen des SAAS (zum Beispiel [7]). Nur etwa 53 Genehmigungen betrafen Ostthüringen, 45 lassen sich 128.400 Tonnen zuordnen. Die offizielle Gesamtzahl aller verwendeten Haldenmaterialien im thüringischen Gebiet belief sich von 1974 bis 1990 auf 314 Nutzungserlaubnisse mit einer Menge von 1,83 Millionen Tonnen. Da über 15 Prozent pauschal, das heißt ohne Mengenangaben erfolgten (vgl. Abb. 3), sind die tatsächlichen Einsatzmengen höher anzusetzen. Des weiteren fehlen örtliche Angaben sehr häufig. Zuordnungen zu konkreten Baustellen sind daher insbesondere aus heutiger Sicht selten möglich. Aus dem im Vergleich zu Sachsen niedrigen Genehmigungsstand des Crossenmaterials könnte man vorschnell auf entsprechend weniger Probleme in Thüringen schließen. Insgesamt wurden bis zu 14 Millionen Tonnen dieses stark radioaktiven Materials für Bauzwecke eingesetzt. Belegen lassen sich 2,7 Millionen Tonnen als behördlich zugelassen und 4,5 Millionen Tonnen sind als Verkaufsmengen vom Betreiber der Erzwäsche registriert worden. Die Fehldifferenzen betreffen ungenehmigte Verwendungsfälle sowie Eigenbedarfsdeckung der SDAG Wismut. Hier ist zu beachten, dass der betriebseigene und vor allem in Ostthüringen tätige Baubetrieb "BMB 17" zunächst nicht und ab 1980 zum Teil in den Verkaufsmengen berücksichtigt ist. Behördliche Einzelerlaubnisse (7) benötigte er ebenfalls nicht. Somit liegt die Dunkelziffer dieses besonders radioaktiven Materials um ein Mehrfaches über den genannten 128.400 Tonnen in Thüringen. Ein weiterer verschärfender Umstand betrifft die zeitliche Verteilung. So wurden etwa 80 Prozent der Straßenbaumaßnahmen in Thüringen vor 1981 realisiert, in einer Zeit besonders pauschaler Zustimmungen und lockerer Auflagenerteilungen. Im Wege- und Straßenbau kam überwiegend Crossener Splitt zum Einsatz. Anderes radioaktives Abraummaterial betraf mehr den Landschafts- und Dammbau.

Die Qualität der Genehmigungen differierte zeitlich stark. Obwohl seit 1971 immer wieder exakte Nachweisführungen gefordert und Zustimmungen nur objektgebunden erteilt werden sollten, enthielten dieselben erst ab 1988 genaue Baustellenbezeichnungen. Herkunfts- und vor allem Objektverwendungsnachweise erfolgten in der Praxis sehr ungenau und mitunter gar nicht. Das SAAS selbst erteilte lange Zeit Genehmigungen im Nachgang oder an sogenannte "zuverlässige Betriebe nur betriebsgebunden, mit den erforderlichen Auflagen ..." [8]. Die geforderten durchschnittlichen Radiumgehalte in den Genehmigungen wurden nie eingetragen. Die Behörde führte selten und insbesondere bei Wismut-Baumaßnahmen keine Bauabnahmen durch, sondern unterstellte sich das Thema als Kann-Bestimmung.

Die regionale Verteilung des Crossener Materials betrifft vor allem das gesamte westsächsische Gebiet (hier sehr stark die Stadt Zwickau) und die heutigen ostthüringischen Kreise Altenburg, Greiz sowie das Stadtgebiet von Gera (Abb. 4).


Allgegenwärtige Vergangenheit

Die relative Dichte der Verwendung von Haldenmaterial als Baumaterial in Ostthüringen und Westsachsen ist sehr präsent, meist im Zusammenhang mit Straßenbaumaßnahmen. Fast jedes Jahr werden Fälle sogar öffentlich. Die statistischen Erfassungen dazu sind sehr lückenhaft und im thüringischen Raum eigentlich gar nicht vorhanden. Sächsische Bauämter, wie zum Beispiel in Zwickau, führen eigene Statistiken. Diese beruhen teilweise auf offiziellen Quellendaten und teilweise auf "Bevölkerungsinformationen". Das zuständige Ministerium in Thüringen kennt im Gegensatz zu den sächsischen Kollegen keine Altlasten des Uranbergbaus, bestenfalls geht man von "Hinterlassenschaften des Uranbergbaus" aus, von denen keinerlei Gefahrensituationen ausgehen können.

Ein aktuelles Beispiel führte im Frühjahr 2013 zur Bildung einer Bürgerinitiative (8). Der Ortsteil Waldsachsen der Stadt Meerane liegt unmittelbar an der thüringischen Grenze, circa 20 Kilometer von Ronneburg entfernt. Im Ort wurden in den 1970er Jahren Materialien der Crossener Halde zum Straßenbau eingesetzt. Mehr als das Hörensagen der Anwohner zu diesem Thema existiert nicht. Trotzdem sah man sich in den letzten Jahrzehnten bei allen Baumaßnahmen vor. So wurden möglichst keine Medien im Straßenkörper verlegt. Bei unvermeidlichen Erfordernissen arbeiteten die Baubetriebe mit wenig Aushub und sogenannten Kopflöchern für diverse Anschlüsse bei Telefonoder Trinkwasserleitungen. Vor sechs Jahren traten neben den als üblich hingenommen Krebserkrankungen bei Anwohnern gleich zwei Kinderkrebsfälle auf, die zufällig mit den monatelang offenen Baulöchern dicht vor der Wohnungstür in Zusammenhang gebracht wurden. Anlass für bürgerschaftliches Überprüfen eventuell vorhandener Strahlenbelastung. Aus Hörensagen wurde Gewissheit. Mehrere tausend Nanosievert pro Stunde (nSv/h) Gammadosisleistung ergaben Messungen an der offenen Baugrube.(9) Seitdem streben die Anwohner eine endgültige Lösung des Problems an. Trotz örtlicher kommunaler Bemühungen gelang dies bisher nicht. Gerangel in Bezug auf Instandhaltung oder Neuausbau zwischen den Zuständigkeiten verschiedener Behörden bei der Hauptstraße (Landesstraße), nicht ausreichende gesetzliche Grundlagen und fehlende Finanzmittel wechseln sich zur Verhinderung einer Straßenerneuerung ab. Dabei rechtfertigt der Zustand zumindest die Aufnahme in eine Prioritätenliste. Im Auftrag der Stadt Meerane wurden auch Nebenstraßen mit einer Ortsdosisleistungsmessung kontrolliert, um Unterschiede zur normalen Hintergrund-Gamma-Strahlung (durchschnittlich 90 nSv/h) und weitere auffällige Straßenabschnitte feststellen zu können. Einige Ortsstraßen und -wege und vor allem die Hauptstraße selbst (Abb. 5) zeigten Auffälligkeiten. Ebenso obligatorisch wie nichtssagend lautet der gesetzliche Grenzwertbezug: "Eine unmittelbare Gefährdung für die Bevölkerung ergibt sich aus der Strahlendosis nicht. ... der Grenzwert der effektiven Dosis der Bevölkerung (von) 1 Millisievert (wird) ... erst bei einen Aufenthalt von 3.745 h/a unmittelbar auf der Straße im Bereich des Maximalwertes erreicht." ([11] S.7).10 Im Februar 2013 erfolgten Bohrungen, um durch Radionuklidanalysen die radiologische Untergrundbelastung präzisieren zu können. Ergebnisse wurden nicht öffentlich, aber die Bestätigung, dass Crossener Haldenmaterial zum Einsatz kam, gilt als gesichert. Bleibt zu hoffen, dass der Bürgerinitiative ein Durchbruch gelingt, zumal der allgemeine Straßenzustand der Hauptortsstraße eine grundhafte Erneuerung mittlerweile rechtfertigt. Kleinere Abschnitte von Ortsstraßen mit erhöhten Strahlenergebnissen hat die Stadt als Rechtsträger in eine Sanierungsplanung aufgenommen.

Der Bezug zur Begrenzung der Strahlenexposition nach Paragraph 46 der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) ist völlig unangebracht. So ausreichend er für eine Gefahrenbeurteilung der Bevölkerung sein mag, so ungeeignet ist er zur Ableitung von Sanierungsanforderungen. Hier entscheidet das radioaktive Potential. Die StrlSchV stellt auf die Tätigkeit und den Umgang mit der künstlichen oder natürlichen Radioaktivität ab, wie sie beispielsweise durch Transporte auftreten kann. Bei Änderungen der Nutzungsart belasteter Anlagen oder Flächen soll ohnehin eine Neubewertung erfolgen. Eine brüchig werdende Straße mit radioaktivem Untergrund, dazu noch Eingriffe in den Straßenkörper durch Medienverlegung, ist eine Änderung der Nutzungsart. Die Beseitigung der Ursache ist dann in jedem Fall den bürokratischen und statischen Gefahrenbewertungen nach StrlSchV vorzuziehen.

Kurve: Gammastrahlungsmessung (nSv/h) der Hauptstraße links und rechts in Waldsachesen

Abbildung 5: Strahlenbelastung der Hauptstraße in Waldsachsen im Jahre 2013 nach [11]


Neue Regulierungen

In diesem Zusammenhang ist auf eine Neuerscheinung des sächsischen Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) hinzuweisen. Mit Datum vom 31.05. 2013 (Redaktionsschluss) erschien der Leitfaden "Radioaktive Stoffe bei Baumaßnahmen" [12], der (nur) als pdf-Datei auf der Internetseite des LfULG erhältlich ist. "Die Rückstände des Uranbergbaus in Sachsen wurden in der Vergangenheit bewusst oder unbewusst als Baumaterial im Straßen- und Wegebau, zum Planumsausgleich für Flächen und beim Hausbau verwendet" [13]. Nach den bisherigen Erfahrungen der Behörde findet bei aufgefundenen Problemfällen ein geordneter Umgang nach Strahlenschutzgrundsätzen nur ungenügend statt. Verantwortlichen von Baumaßnahmen der Rubriken Straßen- und Wegebau, Flächensanierungen und Gebäudeabbrüchen/-sanierungen werden "...Vorgaben für die Inhalte von Anträgen zum Umgang mit radioaktiven Stoffen und zur Entlassung von Rückständen aus der strahlenschutzrechtlichen Überwachung..." ([12] S.9) gemacht. Für einen planmäßigen und strahlenschutzgerechten Umgang wird die Anwendung der gesetzlichen Vorgaben beschrieben. Neben der HaldenAO und VOAS gilt Anlage XII StrlSchV im Zusammenhang mit der Rückstandsbeseitigung. Insofern enthält der Leitfaden nichts Neues, zeigt aber die grundlegende Vorgehensweise, die erforderlichen Untersuchungsumfänge einschließlich der Messverfahren und Repräsentativität der Altlasterkundung auf. Detaillierte Checklisten ergänzen die ausführlichen Beschreibungen erforderlicher strahlenschutzrechtlicher Anträge auf Umgang, Deponierung oder Überwachung. Außenstehende erschlägt die erforderliche Vielfalt allerdings. Ein Umstand übrigens, den Baubetriebe vor Ort mittlerweile zur Preistreiberei missbrauchen.

Verkürzt auf einen Nenner gebracht geht es um die Ermittlung repräsentativer Werte der spezifischen Aktivität vorgefundener radioaktiver Bestandteile (CU-238 und CTh-232) und um die Expositionsabschätzung für die Bevölkerung. In deren Wechselwirkung beantragt der jeweilige Eigentümer zulässige Entsorgungswege. Das noch geltende DDR-Recht regelt, dass alle Haldenmaterialien über 0,2 Bq/g Radium einer Überwachungs- und Genehmigungspflicht nach Vorgabe der zuständigen Behörde unterliegen, das heißt strahlungsrechtliche Regelungen zu beachten sind. Und diese konkreten Vorgaben dazu legt die Strahlenschutzbehörde fest, in Sachsen das LfULG.

Aus den Überwachungsgrenzen der Anlage XII der Strahlenschutzverordnung leiten sich die diversen Konzentrationen ab, die Einsatz- bzw. Deponieorte bestimmen. So soll bei spezifischen Aktivitätskonzentrationen C kleiner als 1,0 Bq/g ein Wiedereinbau am Ort des betroffenen Baustellenbereiches oder Deponierung ohne besondere Anforderungen zulässig sein (11).

Aktivitätskonzentrationen C größer als 1,0 Bq/g werden deponiefähig, wenn die Endlagerung entsprechend dicht ausgeführt ist. In Sonderfällen kann das Material an Ort und Stelle verbleiben, wenn "auf den Einzelfall bezogene Expositionsgutachten... (vorliegen, die)... beweisen, dass die Strahlenexposition für die Bevölkerung nach Abschluss der Baumaßnahme < 1 mSv/a ist." ([12] S.53. Ein wesentlicher Grund für die Zulassung von Sonderfällen liegt unserer Erfahrung nach im begrenzt nutzbaren Deponieraum beziehungsweise im absehbaren Schließen der Wismutdeponien. Vielleicht sind auch Mengen und Größe bestimmter Einzelfälle ausschlaggebend. Ein bekannteres Beispiel für Wiedereinbau ist die Bundesautobahn (BAB) 72 Chemnitz-Zwickau. Hier wurde der radioaktive Untergrund aus der DDR-Zeit mit Zement gemischt wieder eingebaut (Abb. 6).

In jedem Fall bleibt zu hoffen, dass ein Verbleib an Ort und Stelle bei höheren Konzentrationen auf Sonderfälle beschränkt bleibt und im Zwischenbereich 0,2 bis 1,0 Bq/g nicht zur Regel wird. Zumindest bei direkt anliegenden Wohnbebauungen, wie im Beispiel Waldsachsen, ist die ordnungsgemäße Entsorgung der Altlast immer sinnvoller.

Die Auflagen einer Vor-Ort-Lösung beziehungsweise Verwahrung erfolgen zwar so, dass der berühmte Grenzwert von 1 Millisievert pro Jahr (mSv/a) für die Strahlenexposition der Bevölkerung sicher gestellt ist - also wie zu DDR-Zeiten. Aber da hat sich ja nun bestätigt, dass Straßen keine Ewigkeitsbauwerke und zur Verwahrung radioaktiver Stoffe ungeeignet sind.

Der Leitfaden macht deutlich, dass jeder betroffene Eigentümer bereits weit vor eventuell notwendigen radiologischen Gutachten fachlicher Hilfe bedarf, um den gestellten Anforderungen annähernd gerecht werden zu können. Da hierfür ebenfalls relevante Kosten entstehen, sollte der Schritt zur ordnungsgemäßen Deponierung nicht so weit beziehungsweise so verkompliziert werden, wie es der Leitfaden offeriert. So wichtig gesetzliche Rahmenvorgaben und Überwachungsgrenzen sein mögen, gefragt sind praktische Lösungen, die direkten Anrainern Ängste nehmen und betroffenen Eigentümern und Straßenbaulastträgern die finanziellen Lasten nicht allein überlassen. Die Solidargemeinschaft ist hier begründet gefordert. Die Landesministerien, einschließlich der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH des Bundes, sollten der Kommunalisierung und Privatisierung radioaktiver Altlasten beziehungsweise deren Folgen ein Ende setzen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abbildung 6: Wiedereinbau von zementverfestigtem kontaminiertem altem Tragschichtmaterial auf der Bundesautobahn (BAB) 72 Chemnitz-Zwickau


Fußnoten:

(1) Dipl.-Ing. Frank Lange, franklange44[at]web.de

(2) Thüringer Ministerium für Landwirtschaft, Forsten, Umwelt und Naturschutz

(3) SDAG ist die Bezeichnung für Sowjetisch-Deutsche
Aktiengesellschaft

(4) Im Uranbergbau üblicher englischer Begriff für die eingelagerten Rückstände der Uranerzaufbereitung in großen Speicherbecken.

(5) Die Staatliche Zentrale für Strahlenschutz (SZS) wandelte sich später zum Staatlichen Amt für Strahlenschutz und Atomsicherheit (SAAS). Letztlich ist heute das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) der Rechtsnachfolger.

(6) VOAS: Verordnung über die Gewährleistung von Atomsicherheit und Strahlenschutz vom 11.10.1984; gilt über die StrlSchV 2001 und REI-Bergbau vom 11.08.1997 fort. Haldenmaterial ist auflagefrei anwendbar ab 0,2 Bq/g Ra-226 und 16 g/t Uran.

(7) Der BMB 17 sollte diesbezüglich ab 1972 interne Jahreszusammenfassungen erstellen. In den Archiven wurden diese bisher nicht aufgefunden.

(8) Vereinsgründung "Strahlungsfreies Waldsachsen" am 24.04.2013; info@strahlungsfreieswaldsachsen.de

(9) 1 nSv (Nanosievert) = 0,001 µSv (Mikrosievert)

(10) h/a = Stunden pro Jahr

(11) In Abhängigkeit von der Altlastgröße, vorhandenen nutzbaren Grundwasser u. a. enthält die Anlage XII noch andere Konzentrationsangaben.


Anmerkungen:

[1] Überprüfungsvorgang 53/58 des MfS Karl Marx Stadt; BStUArchiv 146/58 S. 9 und 144

[2] Geheime Verschlusssache Wismut; Kirchlicher Umweltkreis 2012

[3] Mitteilung des SZS v. 18.03.1971 SDAG Wismut, AB 101 zu "Lieferbedingungen für Crossener Material" sowie Inspektionsergebnisse des SAAS in Zwickau im Oktober 1987 (BStU-Akte HA XVIII Nr. 18238 zur "Verwendung von Haldenmaterial zu Bauzwecken" BStU-S. 0018 ff)

[4] Informationsmaterial des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom 21.04.1992 zur Sanierung des Uranbergbaus, S. 57 ff

[5] Bisher unveröffentlichte Mitteilungen von Joachim Krause, bis 2010 Umweltbeauftragter der evangelischen Landeskirche Sachsen

[6] DDR-Haldenanordnung (StrlSAblAnO) vom 17.11.1980

[7] "Instruktion zum Verkauf und zur Verwendung von Bergemassen und Haldenmaterialien zu Bauzwecken" der SDAG und des SAAS vom 31.05.1978, WismutArchiv

[8] Mitteilung des SZS vom 18.03.1971 an die SDAG Wismut, AB 101 zu "Lieferbedingungen für Crossener Material"

[9] SAAS-Zustimmung Nr. 142/83 vom 18.07.1983 für den VEB Küchenfee Schweinburg zur Nutzung von Crossener Haldenmaterial für das Jahr 1984

[10] SAAS-Zustimmung Nr. 37/84 vom 12.02.1984 für den VEB Tiefbau Crossen zur Nutzung von Crossener Haldenmaterial für das Jahr 1984

[11] "Ortsdosisleistungsmessung über den Ortsstraßen von Waldsachsen", G.U.B. Ingenieur AG, Dezember 2012 im Auftrag der Stadtverwaltung Meerane

[12] "Radioaktive Stoffe bei Baumaßnahmen", Schriftenreihe des sächsischen Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (Heft 13/2013)

[13] Internetseite des LfULG, Rubrik Publikationen

[14] Foto aus Ohlendorf, Mrotzig "Untersuchung und Wiederverwendung von uranerz-kontaminierten Mineralstoffen - abfallrechtliche und strahlenschutzrechtliche Anforderungen", Dresden 2004

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Oktober 2013, Seite 3-9
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2013