Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → FAKTEN

POLITIK/1051: Rede von Umweltminister Röttgen zum geplanten Atomausstieg und zur Energiewende (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, zum geplanten Ausstieg aus der Atomkraft und zur Energiewende vor dem Deutschen Bundestag am 30. Juni 2011 in Berlin:


Herr Präsident!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Das Hohe Haus wird heute nach mindestens 30-jähriger kontroverser und zum Teil unversöhnlicher Debatte über die Energiepolitik in unserem Land einen energiepolitischen Konsens beschließen. Das ist ein Ereignis für sich. Ich glaube, dass das heute im Zentrum steht und auch als Signal an unser Land und an die Bevölkerung geht.

Wir haben monatelang - beileibe nicht nur in den letzten drei Monaten - über Cent-Beträge, über halbe Prozentpunkte und über Jahreszahlen diskutiert. Diese Debatte hat das Land geprägt und geht heute über die Fraktionen und die Parteien hinweg in eine gemeinsame Entscheidung des Bundestages, des Parlaments, ein. Ich glaube, nach den Gesprächen kann man sagen, dass sie auch von allen Bundesländern akzeptiert wird und dass sie ihr in der nächsten Woche zustimmen werden. Ich glaube, dass das eine wirkliche Weichenstellung ist, mit der unser Land jetzt dieses gemeinsame Projekt beschließt. Es ist ein nationales Gemeinschaftsprojekt, das heute beschlossen wird. Das ist ein sehr guter Tag für Deutschland, für unser Land.

Es ist damit nichts beendet, sondern dieses nationale Gemeinschaftswerk geht jetzt los. Die Deutschen, unser Land, wollen dabei mitmachen. Es ist wirklich ein Gemeinschaftsprojekt, nicht nur der Politik, sondern des gesamten Landes.

Es sind die Unternehmen, die mitmachen wollen und die mitmachen werden. Es ist das Handwerk, das sich darauf freut, unser Land erneuerbar, innovativ und effizient zu machen. Es ist die Elektroindustrie. Es ist die IT-Branche, die sich darauf freut und vorbereitet hat, mit intelligenten Netzen und intelligenten Leitungen ein ganz neues Industriefeld zu entwickeln. Es ist die Chemieindustrie. Es ist die Automobilindustrie mit dem Projekt der Elektromobilität. Es ist der Maschinenbau. Es ist die Energiewirtschaft.

Ich glaube, dass man über jedes Detail reden und dass man in dem einen oder anderen Punkt auch unterschiedlicher Auffassung sein kann. Aber man muss auch ein Gespür dafür haben, dass es jetzt nicht nur darum geht, recht zu haben und in einzelnen Punkten auf seiner Meinung zu bestehen, sondern man muss auch begreifen, dass jetzt dieses nationale Werk in Deutschland losgeht. Wir laden Sie noch einmal dazu ein und begrüßen es, dass Sie bei diesem Projekt dabei sind. Es ist positiv für unser Land, dass es jetzt losgeht. Sie sollten jetzt endgültig über Ihren Schatten springen. Das tun andere auch.

Es ist doch ausgesprochen positiv, wenn etwa der Chef von Eon, der die Entscheidung über den Ausstieg aus der Kernenergie so nicht befürwortet, sondern der dagegen argumentiert hat, jetzt, nachdem mit dem heutigen Tag absehbar und klar ist, wie die Entscheidung ausgeht, öffentlich erklärt, diese Energiewende sei eine "riesige Chance" für das Land. Es ist doch positiv, dass jetzt alle, auch die Energiewirtschaft, sagen: Wir stellen uns an die Spitze dieser Bewegung, die vorteilhaft sein wird und die große Chancen für unser Land beinhaltet.

Wir alle hier im Haus wollen das gemeinsam. Es ist die Koalition, die diesen Prozess angeführt hat, aber wir alle kommen in diesem Prozess zusammen. Es ist der Koalitionsvertrag, der dieses Land in das Zeitalter der erneuerbaren Energien führt.

Es sind nicht nur die Unternehmen, die an diesem Gemeinschaftswerk mitwirken werden, sondern das sind die Wissenschaft und die Forschung. Das sind die 140.000 Ingenieure unseres Landes, die das als ihr Projekt ansehen. Es sind ganze Institute und Lehrstühle, Forscher und Forschernetzwerke - ich war in der letzten Woche in der TH Aachen -, die sich jetzt zu nationalen Zentren der Energieforschung zusammenschließen, weil sie wissen, dass es um die Zukunft unseres Landes geht. Diese Forscher, Ingenieure, Wissenschaftler machen dabei mit. Das macht unser Land stark.

Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die dieses Projekt der Energiewende wollen, die mitmachen wollen und werden. Sie sind dabei. Sie wissen, dass dieser Prozess nicht umsonst ist. Natürlich ist das ein Investitionsvorhaben. Natürlich kostet das auch etwas. Aber es wird keinen überfordern. Die Leute wissen das. Die Leute wissen auch: Wenn man die neue Energieversorgung haben möchte, dann gehört auch eine neue Infrastruktur dazu. Wir brauchen die Leute gar nicht zu belehren und so tun, als würden sie sich immer nur die Rosinen herauspicken. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen in diesem Lande bei diesem Projekt der Energiewende und der neuen Energiepolitik voll dabei sind. Es ist zuallererst ein Bürgerprojekt, das heute in Gang gesetzt wird. Denn genau das ist der Punkt: dass mit dem heutigen Tag die Gesellschaft an den Start geht. Damit sind alle Streitigkeiten und Auseinandersetzungen in den Grundfragen beigelegt.

Es mag zwar sein - so empfinde ich das bei Ihren Zwischenrufen -, dass der eine oder andere doch noch Schwierigkeiten hat, sozusagen ein parteipolitisches Thema zu verlieren, aber dadurch, dass der eine oder andere von Ihnen ein parteitaktisches Thema verliert, gewinnt das Land umso mehr. Sie haben sich in Ihren Parteien richtig entschieden.

Vollziehen Sie diesen Schritt nun konsequent weiter! Aus solchen Streitigkeiten und Spaltungen der Gesellschaft mag man zwar parteipolitisches Kapital schlagen, aber jetzt geht es darum, das Land voranzubringen. Das haben Sie auch verstanden. Sie sollten sich in Ihren Zwischenrufen nicht weniger intelligent benehmen als gleich in Ihrem Abstimmungsverhalten. Bekennen Sie sich dazu, dass Sie mitmachen! Es ist richtig, dass Sie mitmachen, weil es zu dem Konsens dazugehört. Sie müssen und dürfen auch dazu stehen.

Was geschieht in der Sache? Wir haben beschlossen, die Kernenergie in Deutschland mit klaren Zeitpunkten versehen zu beenden.

Wir werden die Kernenergie erstmalig bezogen auf konkrete Daten für jedes Kernkraftwerk in Deutschland beenden. Es sind jetzt acht Kernkraftwerke, die nicht mehr ans Netz gehen werden. Zwei davon sind seit Jahren nicht am Netz. Das heißt, es geht darum, dass 6,5 Gigawatt Leistung nicht mehr ans Netz gehen. Das sind 6,5 von 93 Gigawatt gesicherter Leistung bei 82 Gigawatt Spitzenlast, die auf uns zukommen. Das ist absolut verkraftbar.

Das ist alles anspruchsvoll, aber das werden wir sicher, weil wir alle diese Themen im Blick haben, realisieren und schaffen können. Ab dann gibt es einen sukzessiven und klar gestalteten Prozess, der Sicherheit schafft. Alle können sich jetzt darauf einstellen und werden sich auch darauf einstellen.

Wir werden den Umstieg schaffen. Denn der Konsens, den wir herbeiführen, ist weit mehr als ein Ausstiegskonsens: Es ist ein Umstiegskonsens. Es geht um den Umstieg auf erneuerbare Energien mit entsprechender Förderung, die aber immer weniger werden soll. Es ist vielleicht einer der Diskussionspunkte, über die wir noch reden müssen.

Meine Vorstellung beziehungsweise die Vorstellung der Koalition ist nicht, dass es umso besser ist, je länger und höher die Förderung gewährt wird. Der Ehrgeiz bei den erneuerbaren Energien liegt vielmehr darin, dass sie im Markt ankommen und eines Tages keine Förderung mehr bekommen. Wir wollen nämlich die neuen Technologien vorrangig mit marktwirtschaftlichen Mitteln in den Markt einführen. Dieses Ziel verfolgen wir mit dem EEG und der Novelle des EEG.

Wir machen darum das Erneuerbare-Energien-Gesetz so wirtschaftsfreundlich und industriefreundlich, wie es noch nie war, weil es alte Gegensätze sind, die neuen Technologien zu fördern und gleichzeitig Industrieland bleiben zu wollen. Um das klar zu sagen: Wir als Koalition wollen alle Beiträge leisten, dass wir Industrieland bleiben. Wir wollen wirtschaftlich erfolgreich sein. Wir wollen sogar an der Spitze stehen. Wir wollen Wachstum haben, aber wir wollen und werden es schaffen, Wachstum so zu organisieren, dass wir nicht die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen aufzehren. Das ist das große Projekt, das wir in der Energiepolitik realisieren. Weit darüber hinaus schaffen wir eine Perspektive für Natur und generationenverträgliches Wachstum, national und international.

Die Energieversorgung wird dezentraler werden. Photovoltaik, Windenergie an Land und Biomasse bedeuten dezentrale Energieversorgung. Es macht keinen Sinn, die eine Technologie gegen die andere auszuspielen. Windenergie an Land und Windenergie auf hoher See sind unterschiedliche Technologien in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Sie werden von uns spezifisch gefördert, weil wir die Technologien jetzt loslassen und sich bewähren lassen wollen. Dann werden sich die besseren durchsetzen.

Die Versorgung mit erneuerbaren Energien wird mittelständischer sein. Wir werden als großes Industrieland weiterhin das Engagement großer Energieversorgungsunternehmen brauchen. Aber es werden sich viel mehr Mittelständler dort engagieren. Ob kleine oder mittelständische Unternehmen: Die Energieversorger werden dezentral Energie erzeugen.

Die Energieversorgung in Deutschland wird technologisch anspruchsvoller werden, nicht nur die konventionellen Technologien, die fossile Energieversorgung und die nukleare Energieversorgung. Es wird vielmehr ein permanenter technologischer Lernprozess und Innovationsprozess in unserem Land starten. Die Energieversorgung wird sehr viel stärker vom Verbraucher her gesteuert, weil wir nicht mehr nur Leitungen haben, in die Elektronen hineingeschossen werden - dabei ist der Verbraucher ein passiver Abnehmer -, sondern weil der Verbraucher in Zukunft mit intelligenten Zählern und intelligenten Leitungen selber bestimmen kann, wann er welchen Strom zu welchem Preis beziehen will. Die Autonomie des Verbrauchers wird erheblich gestärkt werden.

Wir werden eine heimischere Energieerzeugung bekommen. Wir werden die Abhängigkeiten vom Import, politische und geopolitische Abhängigkeiten, aber auch die Volatilität des Preises, also wirtschaftliche Abhängigkeiten, reduzieren. Wir werden den Import, also dass wir in Deutschland Geld verdienen und dafür Energiebrennstoff im Ausland kaufen müssen, deutlich reduzieren. Wir werden die Einkäufe aus dem Ausland ersetzen durch eine Wertschöpfung in Deutschland. Dadurch sind bereits bis heute 350.000 Arbeitsplätze in dieser Branche entstanden. Es werden mehr werden, weil wir die heimische Wertschöpfung mit der Energieversorgung fördern. Sie wird auch wettbewerbsfähiger werden.

Natürlich ist das ein Lernprozess, bei dem es um ständige Anpassungen geht. Manche mögen die Selbsteinschätzung haben, dass sie nicht mehr lernen müssen und schon immer alles wissen. Aber denjenigen, die von sich selber glauben und sich selber beklatschen, dass sie schon immer alles gewusst haben und die beste Politik für Deutschland machen, sage ich: Ein bisschen Demut täte allen gut.

Die erneuerbaren Energien werden durch diese Bundesregierung nach vorne gebracht. Es ist diese Koalition, die die erneuerbaren Energien nach vorne führt. Der Anteil der erneuerbaren Energien beträgt derzeit 19 Prozent. Es ist diese Koalition, die in den letzten Monaten den nun erzielten Konsens organisiert hat und einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass unser Land nun das - so glaube ich - mit Abstand bedeutsamste Investitions-, Innovations- und Modernisierungsprojekt in Angriff nimmt. Wir legen dafür die entsprechenden Gesetze vor. Es handelt sich um acht Gesetzentwürfe, ein Gesetzgebungspaket, das den Rahmen dafür absteckt.

Manche im Ausland fragen: Werden die Deutschen das schaffen? Kann man das überhaupt schaffen? Denn es ist erstmalig und deshalb bislang einmalig, dass sich ein großes Industrieland bereit erklärt, eine solche technologisch-wirtschaftliche Revolution durchzuführen. Wir tun das, weil wir glauben, dass das gut für unser Land ist. Aber selbst diejenigen im Ausland, die das beklagen, sagen: Wenn es ein Land schaffen kann, dann ist es Deutschland. Die Botschaft des heutigen Tages lautet: Die Deutschen machen sich ans Werk. Es wird gut für unser Land sein, weil wir alle zusammenstehen. Also machen wir uns ans Werk!


*


Quelle:
Bulletin Nr. 69-1 vom 30.06.2011
Rede des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit,
Dr. Norbert Röttgen, zum geplanten Ausstieg aus der Atomkraft und zur
Energiewende vor dem Deutschen Bundestag am 30. Juni 2011 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstraße 84, 10117 Berlin
Telefon: 030 18 272-0, Fax: 030 18 10 272-0
E-Mail: internetpost@bpa.bund.de
Internet: www.bundesregierung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2011