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KATASTROPHEN/019: 25 Jahre Super-Gau in Tschernobyl (welt der frau)


welt der frau 5/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

25 Jahre Super-Gau in Tschernobyl
Strahlende Geschäfte

Von Nina Rybik


Seit 25 Jahren ist die Zone von dreißig Kilometern rund um das havarierte Atomkraftwerk in Tschernobyl verwaist. Doch ein Lokalaugenschein beweist anderes. Die Autorin, die selbst aus einem der verlassenen Dörfer in der Sperrzone stammt, traut ihren Augen nicht. Havarie-Tourismus und Strahlungsignoranz allenthalben.


Tschernobyl, eine kleine alte Stadt im Norden der Ukraine, erlebte im April 1986, was für manche die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschen ist, für andere ein Verbrechen der sowjetischen Führung an den Menschen und für Dritte das Heldentum von Menschen, die mit bloßen Händen den Planeten vor der nuklearen Katastrophe zu schützen versuchten. Es gibt auch die Leute, für die das Wort Tschernobyl eine persönliche Tragödie und zerbrochenes Leben bedeutet. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Nach dem Unfall von Tschernobyl bin ich wie Tausende meiner Landsleute als Bewohnerin der südlichen Regionen von Belarus zu einem Menschen ohne Heimat geworden. Die EinwohnerInnen meines Heimatdorfes Ulasy im Gebiet Gomel wurden in den ersten Tagen nach dem Unfall evakuiert. Mein Heimatdorf ist am 3. Mai 1986 gestorben. Jetzt können meine DorfgenossInnen nur einmal im Jahr zu den Gräbern ihrer Verwandten und ihren verlassenen Häusern kommen. Am Fest Radunitsa, für die Christlich-Orthodoxen das Ostern der Toten, öffnet sich das Sperrgebiet, das von Stacheldraht und Checkpoints umgeben ist, um die Menschen vom havarierten Reaktorblock 4 fernzuhalten.


Verlorenes Heimatdorf

Seit dem Unfall von Tschernobyl und der Evakuierung kam ich bisher drei Mal zurück. Das erste Mal 1987. Der stärkste Eindruck war die Stille. Sie war körperlich spürbar. Diese tote, absolute Stille, die nicht durch das Wort von Menschen oder das Weinen von Kindern, von Schreien oder Vogelgezwitscher, vom Hämmern oder vom Knarren einer Tür unterbrochen wird. Der schalldichte Sarkophag über dem havarierten Atommeiler bedrückte mich so stark, dass mir schien, im nächsten Augenblick würde auch ich zum Schweigen gebracht, würde auch ich zu einem kleinen Molekül in diesem Monolithen. Dann hat mich ein Rabe gerettet, der in der Ferne krächzte, er hat mich zurück in die Realität gebracht, als ob er sagen wollte, die Welt lebt noch, auch in dem toten Dorf. Das nächste Mal kam ich mit meiner Schwester im Jahr 2000. Meine stärkste Entdeckung war, dass der Raum komprimiert werden kann. Körperlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Der hohe Hügel, wo wir in der Kindheit rodelten, war verschwunden. Die lange Straße war zur kürzesten Gasse geworden. Ein kleines Wäldchen, wo wir im Sommer jeden Tag die duftenden Himbeeren gesammelt hatten, war jetzt zum Greifen nahe.

Dann erkannte ich auch, dass es keine Grenzen für menschliche Gier gibt. Man hat aus den verlassenen Häusern und Wohnungen alles, was Wert hatte, gestohlen: Haushaltsgeräte, Möbel, Kleidung. Was nicht genommen wurde, wurde zerstört. Zum Glück habe ich etwas für mich Wertvolles gefunden - Familienfotos.

Im Jahr 2010 gab es ein neues Rendezvous mit meiner verlassenen Heimat. Und neue Entdeckungen. Wenn man in ein verlassenes Dorf gerät, fühlt man, dass es im Reich der Toten liegt. Die Straße ist mit Gras bewachsen, die Einzigen, die einen Weg anlegen, sind Wildschweine und Elche. Die Häuser werden von der Zeit oder den unersättlichen Plünderern zerstört. Die Zäune sind gefallen. In dieser Verwüstung ist der Friedhof auf dem sandigen Hügel der einzige Ort, wo man Leben treffen kann. Neu lackierte Kreuze, bunte Kränze und Sträuße auf den Gräbern sind das einzige Zeichen menschlicher Existenz.


Tschernobyl als Tourismusziel

Einen Monat nach diesem Treffen mit der Heimat wurde mir eine Fahrt nach Tschernobyl angeboten. Sollte ich mir wünschen, dieses Monster zu besuchen, das so viele gebrochene Schicksale verursachte?

Einige Reisefirmen in Kiew verkaufen Führungen für neugierige Abenteurer. Man muss einfach Geld bezahlen, um den verhängnisvollen vierten Block der Station zu sehen und mit einem Führer durch die tote Stadt Prypjat zu spazieren.

Für eine zusätzliche Gebühr kann man einen Hubschrauber bestellen und sich in die Lage der Hubschrauberpiloten versetzen, die den Reaktor nach dem Unfall gelöscht haben. Die Touren werden nachgefragt, vor allem von TouristInnen.

Bevor ich nach Tschernobyl ging, meinte ich viel über die Stadt, die Atomstation und den Unfall zu wissen. Wie sich herausstellte, saß ich vor dieser Reise vielen Mythen über das Leben in der Tschernobyl-Zone auf.

Welche Assoziationen ruft bei den Uneingeweihten das Wort "Tschernobyl" hervor? Ein mit radioaktiver Asche verseuchtes Land, wo es keine Leute gibt, und falls doch, sind sie ausschließlich mit Schutzkleidung und Strahlenmessgeräten unterwegs? So habe ich mir das auch vorgestellt. Aber nach dem Checkpoint, wo unsere Dokumente und das Recht zu passieren geprüft wurden, wartete eine Überraschung. Das Leben in Tschernobyl braust: Die Arbeiter reparieren die Straßen, die Geschäfte sind geöffnet. Menschen gehen und Autos fahren.


Besser hier als im ruhigen Kiew

Unser Führer Denis Zabaryn von der Reisefirma "Tschernobyl-Info" erklärt uns: "Tschernobyl ist eine normale lebendige Stadt, nur geschlossen. Hier gibt es etwa zwanzig Organisationen, fünf Geschäfte und drei Cafés. Jeden Morgen gehen etwa viertausend Menschen zur Arbeit. Manche arbeiten wie ich: zwei Wochen in Tschernobyl, zwei zu Hause in Kiew. Manche arbeiten von Montag bis Donnerstag und gehen fürs Wochenende nach Hause."

Die nächste Überraschung für uns war, dass die Arbeit in Tschernobyl als sehr prestigeträchtig gilt. Laut Denis ist es überall in der Ukraine schwer, einen auskömmlichen Job mit einem guten Lohn zu finden. In Tschernobyl bekommt man 100 US-Dollar extra pro Monat wegen der widrigen Bedingungen. Darüber hinaus gibt es Vorteile bei der Rente. Denis, der 25-jährige Mann mit Fremdsprachenkenntnissen, findet es in Tschernobyl einfach "interessant". Deswegen hat er die gute, ruhige Arbeit in Kiew gegen diese gesundheitlich ziemlich riskante in Tschernobyl getauscht. "Jeden Tag kann ich neue Leute kennenlernen. Heute führe ich Sie, morgen Engländer, übermorgen Schweden. Das bringt mir neue Erfahrungen, Informationen, Kontakte. Eine Familie? Nein, noch nicht, nicht mit dieser Arbeit."


Dauerwohnsitz Tschernobyl

Es gibt aber auch 250 Menschen, die immer in Tschernobyl leben. Sie sind die Einheimischen, die nach der Evakuierung im Jahr 1986 zurückgekehrt sind, einige nach einigen Monaten, andere nach ein paar Jahren. Die Straßen sind vor privaten Gebäuden, die verlassen wurden, durch hohes Gras und Unkraut unpassierbar. Dazwischen allerdings stehen gepflegte, neu gestrichene, saubere Häuser mit fröhlichen Vorhängen an den Fenstern. Darin findet man merkwürdige Schilder: "Hier wohnt der Besitzer." Das sei wegen der Obdachlosen, von denen es hier sehr viele gibt, erklärt Denis.

Er macht uns mit den BewohnerInnen der Stadt vertraut. Es gibt sogar ein Kind in Tschernobyl, ein Mädchen von dreizehn Jahren, obwohl es per Gesetz verboten ist, dass Kinder die 30-km-Zone um Tschernobyl betreten. Dieses Mädchen wurde in Tschernobyl geboren und lebt hier mit seinen Eltern. Sie geht in das nächstgelegene Dorf zur Schule. Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl wurden alle EinwohnerInnen der 30-km-Zone in saubere Gebiete evakuiert. Nach einiger Zeit sind viele von ihnen - wie die Eltern dieses Mädchens -, die sich nicht an die Umsiedelung gewöhnen wollten, in ihre Häuser zurückgekehrt. Viele wohnen in den umliegenden Dörfern. Die Behörden behandeln diese Leute mit Toleranz, vielleicht sogar mit Verständnis, sie versuchen, ihnen ihre Existenz zu erleichtern. Jede Woche kommt ein fahrender Laden, nicht nur in das Dorf, das sich in der Nähe des Kraftwerks befindet. Dort wohnt ein neunzigjähriges Paar. Wie ist sein Gesundheitszustand? Der alte Mann kommt mit dem Fahrrad fünfzehn Kilometer nach Tschernobyl, um Lebensmittel zu kaufen.


Keine Angst vor Schäden

"Eingeborene" behandeln die Tschernobyl-Radioaktivität und ihre Auswirkungen mit Verachtung. Diese zeigen sie auch jenen TouristInnen gegenüber, die mit ihrer Neugier, aber noch viel mehr mit Angst zu kämpfen haben. Es sei einfach unmöglich, 24 Stunden pro Tag, Tag für Tag, Monat für Monat mit Angst im Herzen zu leben. Niemand weiß, was mehr Schaden bringt: Strahlung oder ständiger Stress. Ich habe bis 1989 in Khoiniki, einer der am meisten verschmutzten Städte in Belarus gewohnt. Ich weiß, man kann unmöglich immer Angst haben, einen Apfel aus dem Garten zu essen oder die Kinder auf die Straße zu lassen.

Als ob Denis meine Gedanken lesen könnte, erzählt er: "Das ist der Fluss, wo ich mit meinen Freunden schwimmen gehe. Hier angle ich auch. Die Fische lass ich nicht prüfen, denn ich selbst wurde ständig geprüft." Denis packt ein Dosimeter aus. Er klickt es an. Es stoppt bei 15 Mikroröntgen pro Stunde. "Glauben Sie mir, in Kiew ist das Niveau höher. In der Ukraine gilt es als normal, weniger als 45 Mikroröntgen zu haben. Das Strahlungsniveau ist seit 1986 um das Hundertfache zurückgegangen. Die radioaktiven Elemente zerfallen und setzen sich in tieferen Bodenschichten ab."


Das Kernkraftwerk strahlt im Sarg

Wir nähern uns dem Unfallsreaktor von Tschernobyl. Das Erste, was wir sehen, sind turmhohe Kräne. Hier wurden, sagt Denis, der fünfte und sechste Kraftwerksreaktor errichtet. Dann kam das Jahr 1986. Die Kräne blieben seit jenem schwarzen 26. April stehen. Aber es wird auch gebaut. Die Hauptaufgabe zurzeit ist, den zweiten Sarkophag, die "Abdeckung 2", zu bauen. Der erste, der direkt nach dem Unfall gebaut wurde, ist in einem unsicheren Zustand. Letztes Jahr wurde er stabilisiert: Das Dach und die Westmauer wurden verstärkt. Aber jetzt wird eine neue, zuverlässigere Abdeckung gebraucht. Außerdem muss ein Lager für die Kernbrennstoffe gebaut werden. Der letzte Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl wurde im Dezember 2009 gestoppt. Es ist geplant, das ganze Kraftwerk bis 2016 zu schließen. Heute sind rund 3.500 Menschen in diesem Kraftwerk beschäftigt. Das leidenschaftslose Dosimeter zeigt: Der radioaktive Untergrund strahlt mit mehr als zweihundert Mikroröntgen pro Stunde.


Helden des Unfalls

Wir gehen zum Denkmal für die heroischen Feuerwehrmänner, die das Feuer in jener verhängnisvollen Nacht des 26. April 1986 gelöscht haben. Sie wussten nicht, was passiert war. Sie ahnten das Ausmaß der Tragödie und des Risikos nicht. An der "Mauer der Erinnerung" steht die lakonische Aufschrift: "Leben für Leben". Wir sehen dreißig Granitplatten, dreißig Namen, dreißig Tage im Leben von jungen Männern, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Nach dem Unfall lebten sie noch ein paar Tage, maximal drei Wochen. Sie starben unter schrecklichen Qualen. Ihre Kleidung und Verbandsstoffe wurden als radioaktive Abfälle entsorgt.

Diese dreißig Männer werden nicht vergessen. Wer kennt die Namen der Hubschrauberpiloten, die im April und Mai 1986 den zerstörten Reaktor gelöscht haben, indem sie mit bloßen Händen Sandsäcke in den Reaktor geworfen haben? Sie haben 30 bis 35 Flüge pro Tag gemacht. Sie alle haben sechs bis acht Röntgen abbekommen (heute liegt die Norm für das Dienstpersonal des Kraftwerks bei zwei Röntgen pro Jahr). Viele von ihnen sind verschwunden. Einige leben und kämpfen mit Krankheiten, sie kämpfen um ihr Recht, Vorteile bei der Rente oder kostenlose medizinische Behandlung. Wer kennt die Namen jener Soldaten, Reservisten, die auf dem Areal des zerstörten vierten Reaktors die Grafitstücke mit fast bloßen Händen gesammelt haben?

Nach offiziellen Statistiken starben in der Zeit nach der Katastrophe von Tschernobyl 300.000 Menschen. Tatsächlich waren es viel mehr. Zum Beispiel jene Leute aus meinem Heimatdorf, die nicht an Strahlenkrankheit starben, sondern an Krebs, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Niemand verknüpft ihren Tod damit, dass sie eine Woche nach dem Unfall in dem Dorf - sieben Kilometer von dem lodernden Reaktor entfernt - wohnten und Lebensmittel aus ihren Gärten aßen.


Die tote Stadt mahnt

Es ist schrecklich, eine tote Stadt zu sehen. In einer Nacht wurde die grüne Stadt Prypjat für immer unbewohnbar. Nun kommt man wegen des übermäßigen Wachstums von Bäumen und Sträuchern nicht mehr bis zu den riesigen 9- und 16-stöckigen Gebäuden. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Wald einmal das Zentrum der Stadt war. Zerbrochene Schaufenster, rostige Attraktionen mit unrealistisch hellen Farben im Park: Vor dem Unfall des Kraftwerks war die Stadt Prypjat eine der jüngsten und schönsten in der Ukraine. Hier wohnten fast 50.000 Menschen. Am 27. April 1986 wurden alle EinwohnerInnen von Prypjat evakuiert. Für immer.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Mai 2011, Seite 34-38
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011