Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → INTERNATIONALES

KATASTROPHEN/047: Durchhalteparolen und falsche Strahlenmessungen - Eindrücke aus Japan (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 622-623 / 26. Jahrgang, 6. Dezember 2012

Folgen von Fukushima
Durchhalteparolen und falsche Strahlenmessungen
Eindrücke aus Japan eineinhalb Jahre nach der Havarie der Atomreaktoren von Fukushima I (Daiichi)

von Annette Hack und Thomas Dersee(*)



Wer in dieser Zeit durch die Präfektur Fukushima im Nordteil der japanischen Hauptinsel Honshu reist, kann kaum vermeiden, auf höhere und niedrigere Chargen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Vereinten Nationen (UNO) zu stoßen. Außerdem bereisen Wissenschaftler diverser japanischer und ausländischer Hochschulen mit unterschiedlichen Motiven die Region.

Im März 2011 waren in der Folge eines Erdbebens die Atomkraftwerke von Fukushima I (Daiichi) an der japanischen Pazifikküste außer Kontrolle geraten und explodiert. Es kam zu sogenannten Kernschmelzen und zu Freisetzungen gewaltiger Mengen radioaktiver Stoffe.

Es gebe jetzt viele Forscher, die sich für die Lage der 4 Millionen betroffenen Bewohner im Umkreis der havarierten Fukushima-Reaktoren interessierten. Das helfe den Menschen jedoch nicht. Denn diese wollten wissen, wie sie sich jetzt schützen können. So beschrieb die japanische Ärztin Katsumi FURITSU, Preisträgerin des Nuclear-Free Future Award 2012, in einem Vortrag vor Frauen und Müttern in der Stadt Fukushima am 13. November 2012 die Situation heute. Sie geht davon aus, daß in Fukushima etwa die zehnfache Zahl an Bewohnern betroffen ist wie in Tschernobyl.

Die Situation ist weiterhin unklar. Im Gegensatz zur Havarie des Tschernobyl-Reaktors 1986 ist der Zustand der Reaktoren von Fukushima Daiichi immer noch nicht stabil. Zudem hängt ein großes sogenanntes Abklingbecken mit abgebrannten Brennstäben wie ein Damoklesschwert über einem der havarierten Reaktoren quasi in der Luft und droht bei einem nächsten größeren Erdbeben abzustürzen - mit noch katastrophaleren Folgen als bisher. Weiterhin wird Radioaktivität aus den havarierten Anlagen in die Umwelt abgegeben. Sie ist auch nicht nur in den farbigen Flecken der Kartendarstellungen zu finden, sondern in ganz Japan. "Man kann sich heute in Japan nicht anders verhalten als in Tschernobyl", erklärte Furitsu. Viele Japaner würden zwar denken, sie hätten eine entwickeltere Technik und deshalb wäre vieles mehr möglich als seinerzeit in Tschernobyl. Das sei jedoch ein Irrtum. Man könne nicht mehr tun als Erde abtragen und Waschen. Und das hätten die Leute selbst getan, es sei dafür nicht das Militär gekommen und hätte geholfen.


ICRP-Veranstaltung: Radioaktivität und Schulbildung

Unter der Leitung von Jacques Lochard, vormals Areva, jetzt ICRP, veranstaltete die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) am 10. November 2012 im Rathaus der Stadt Date ein öffentliches Seminar zum Thema Radioaktivität in der Schulbildung: Date grenzt im Westen an die Stadt Fukushima. Zur Stadt Date gehört auch Oguni, eine ländliche Gegend, in der die Falloutbelastungen teilweise so hoch sind, wie in der 20-Kilometer-Sperrzone. Evakuiert wurde nicht, aber Eltern sind mit ihren kleineren Kindern in die Stadt gezogen. Die Kinder werden nun mit dem Schulbus wieder in die Grundschule Oguni gefahren. Sie tragen Personendosimeter und dürfen täglich 30 Minuten Sport im Freien treiben. Die Dosimeter bleiben solange im Spind, wurde uns berichtet.

Im Rathaus waren erschienen japanische Schuldirektoren, Ministeriumsvertreter, Universitätsprofessoren und Verbandsfunktionäre sowie europäische, kanadische und amerikanische Mitarbeiter der ICRP, der Abteilung für Nuklearenergie der OECD und gleich 7 Angehörige des französischen Forschungsinstituts für Nukleare Sicherheit (IRSN). Anscheinend will man in Frankreich aus den Fehlern Japans lernen, weil man das Eintreten einer nächsten Reaktorkatastrophe in Europa und speziell in Frankreich befürchtet. Aus Deutschland stammte nur Michael Siemann von der OECD. Ein gutes Dutzend Personen waren als Zuhörer gekommen, weit weniger als Referenten. Eine Schuldirektorin berichtet, sie habe mit Eltern und Lehrern ihre Schule dekontaminiert, wenn man nun bei ihr messe, ergäben sich "ganz wenig Millisievert". Daraufhin flüsterte ihr Sitznachbar ihr etwas zu, und sie korrigierte sich verlegen lachend, gemeint seien natürlich "Mikrosievert".

Der Vertreter der Landwirtschaftsorganisation JA Shin-Fukushima stellt die Messungen seines Verbandes vor, gemessen würde 130 Minuten am "Germa" (Germaniumdetektor) und "kaum etwas" gefunden. Die Verbraucher, insbesondere in Tokyo, mieden Produkte aus Fukushima. Der Markenname habe schweren Schaden gelitten. Auch die Absenkung der Grenzwerte auf 100 Becquerel pro Kilogramm im April 2012 sei eine große Bürde für die Landwirtschaft. Daraufhin trug ein japanischer Marketingexperte vor, wie man Twitter zur "Aufklärung" von kleineren Geschäften und Endkonsumenten nutzen könnte, die großen Kaufhäuser und Supermärkte seien ja nicht das Problem.

Das reichte uns, wir sind gegangen. Wie erklärt man Amtsträgern und Funktionären, welchen Schaden "ganz wenige" Mikrosievert und Becquerel längerfristig anrichten, wenn ein kanadischer ICRP-Vertreter eigens seine Familie mitbringt, "um die leckeren Äpfel und Kakifrüchte aus Fukushima zu essen"?

Eine ähnliche Propaganda-Veranstaltung, diesmal unter dem Vorsitz der IAEA, ist demnächst in der Stadt Koriyama angekündigt. Die Bürgerinitiativen mobilisieren bereits zu Protestaktionen.


Öffentliche Erläuterung des Schilddrüsen-Screeningprogramms

Am Nachmittag ebenfalls des 10. November 2012 stellte sich der Leiter des Schilddrüsenscreenings, Professor Shinichi SUZUKI von der Medizinischen Hochschule Fukushima den Journalisten und etwa 200 Bürgern in Fukushima-Stadt. Über die dramatische Zunahme von Knoten und Zysten in den Schilddrüsen japanischer Kinder und einen ersten Fall von Schilddrüsenkrebs hatte Strahlentelex bereits in der vorigen Ausgabe vom 4. Oktober 2012 berichtet.

Nachdem Suzuki an der Moderatorin der Veranstaltung eine Ultraschall-Schilddrüsenuntersuchung vorgeführt hatte, suchte er das teilweise sehr aufgeregte und aufgebrachte Publikum zu beruhigen.

Sehr deutlich wurde, daß die Eltern in der Präfektur Fukushima ihre Kinder nicht einfach als Objekte medizinischer Forschung behandelt wissen wollen. Die Ergebnisse der Schilddrüsenuntersuchungen würden nicht genügend erklärt, es sollte mehr Veranstaltungen geben, in denen sich die Betroffenen austauschen können, wird aus dem Publikum gefordert. Man bekomme das Gefühl vermittelt, daß nur an den Daten, nicht aber an den Menschen mit auffälligen Befunden Interesse bestehe. Auch nach den Ursachen dieser Befunde werde nicht gefragt.

Suzuki dagegen will keine "politische Diskussion" über die Strahlenbelastungen führen. Er sei Schilddrüsenexperte, kein Strahlenexperte. Auf der letzten derartigen Veranstaltung zuvor habe er doch zugesagt, einen Strahlenexperten hinzuzuziehen, wird ihm daraufhin vorgehalten. Suzuki antwortet, zwei Experten könnten sich nie auf einen Termin einigen, deshalb sei auch heute nur er da und könne zur Frage der Radioaktivität nichts sagen. Aber die japanische Schilddrüse sei prinzipiell genügend mit Jod gesättigt gewesen. Ob Funktionsstörungen und Krankheiten der Schilddrüse zugenommen haben, könne er aber auch nicht bestätigen, denn er habe keine Vorstellung von den Verhältnissen vor der Katastrophe von Fukushima. Und: Man wisse ja noch gar nicht, ob der Schilddrüsenkrebs in Tschernobyl von der Radioaktivität verursacht sei.

Nachdem sich ein Zuhörer darüber beschwert, daß immer davon ausgegangen werde, daß die Radioaktivität nicht Schuld sei - "Was ist das für eine Wissenschaft?" - meint Suzuki, er könne nur berichten, was er zum jetzigen Zeitpunkt wisse und man könne den Einfluß der Radioaktivität nicht feststellen, dafür gebe es keine Untersuchungsmethoden. "Ich kann einen durch Radioaktivität verursachten Schilddrüsenkrebs nicht von einem durch anderes verursachten unterscheiden."

Für individuelle Beratungen verweist Suzuki lediglich an ein Call-Center. Es werde aber sicherlich allmählich in Fukushima auch ein Schilddrüsenzentrum entstehen, da könne man dann darüber auch von Angesicht zu Angesicht reden. Zur Zeit gebe es für die jetzigen Schilddrüsenuntersuchungen aber noch nicht genügend Spezialisten für Kinderschilddrüsen. Diese würden jetzt ausgebildet und stünden dann in 2 Jahren zur Verfügung.

Eine Mutter spricht das Problem an, daß betroffene Kinder aus Fukushima nur untersucht werden, wenn sie nach Fukushima zurückkehren: Eigentlich müßten die Kinder überall im Land untersucht werden können. Woraufhin Suzuki verspricht, das würde im Laufe der Zeit sicherlich auch eingerichtet werden.

Ein Vater spricht die Frage nach einer 2. ärztlichen Meinung an. Unter Verweis auf die briefliche Aufforderung des Regierungsberaters Yamashita an seine ärztlichen Kollegen, Zweituntersuchungen zu unterlassen, habe man bei seinem Kind eine 2. Untersuchung abgelehnt. Zudem habe er große Schwierigkeiten gehabt, an die Daten seines Kindes zu kommen. Bei 2 Untersuchungen sei ihm die Aushändigung verweigert worden. Erst bei einer 3. Untersuchung, die er anderswo habe erreichen können, habe er auch die Daten bekommen.

Auf eine Bemerkung Suzukis, die Schildrüsendosen seien nach Fukushima im Vergleich zu Tschernobyl sehr gering gewesen, wendet ein Zuhörer ein, man habe sie ja noch gar nicht ermittelt. Nach dem Unfall seien Schilddrüsendosen lediglich mit einem Ortsdosisleistungsmeßgerät bestimmt worden. Wenn man keine wirklichen Messungen zur Verfügung habe, wie könne man dann sagen, daß alles viel niedriger als nach Tschernobyl gewesen sei?

Und eine Bäuerin beklagt sich: Sie hätten jetzt kaum genug zum Leben, wieso sie ihre Untersuchungen denn nun selbst bezahlen müßten? Schließlich habe sie damals auf die beruhigenden Aussagen des Yamashita gehört und habe den ganzen Tag auf den hochbelasteten Feldern gearbeitet "genauso wie die Leute, die im Kraftwerk unter freiem Himmel arbeiten". Die Präfektur Fukushima halte die Untersuchung der Bauern nicht für notwendig, entgegnet Suzuki, worauf ein Landwirt aus Date aufbegehrt: "Wir wissen nicht, wieviel wir abbekommen haben und was wird." Und die Präfekturverwaltung wolle nur beruhigen. Das könne so nicht weitergehen.


Ein Bürger-Ratschlag als Gegengewicht zur ICRP

Fukushima Kaigi, der Ratschlag der Bürger Fukushimas, veranstaltete vom 9. bis 11. November 2012 eine sehr gut besuchte und lebendige Gegenveranstaltung zur ICRP. Vertreter von sieben Arbeitsgruppen stellten am 11. November in einer Plenarveranstaltung die Ergebnisse ihrer Beratungen vor.

So berichtete ein Psychiater, der von Tokyo nach Minami-Soma an der Pazifikküste umgezogen war und dort im Krankenhaus arbeitet, von Unsicherheit und Mißtrauen gegenüber den Ärzten. Man werde erst in 10 Jahren wissen, welche Schutzmaßnahmen wirksam gewesen seien und welche nicht. Man müsse dafür sorgen, daß die Untersuchungsdaten bei den Betroffenen bleiben. Dieser Kongreß sei ein Beispiel dafür, wie man das alles beherrschende Unsicherheitsgefühl bekämpfen könne. Er wolle künftig Selbsthilfegruppen gründen und unterstützen. Eine Gesundheitsstudie in Eigenregie durchzuführen, überlegen zudem Bürgergruppen aus Minami-Soma.

Dem Beobachter aus Deutschland stellt sich dabei die Frage, wie solche Unsicherheitsgefühle zu bewerten sind, wenn sie doch wesentlich auf der real vorhandenen unsicheren Situation beruhen.

Ein Arzt spricht sich ebenfalls dafür aus, daß die Daten bei den Betroffenen bleiben und plädiert dafür, keine Daten von Ganzkörpermessungen und Schilddrüsenuntersuchungen freizugeben, weil man nicht wisse, wie sie von wem verwendet werden.

Jemand will Patenschaften organisieren und ein Netzwerk aufbauen, damit die Kinder wenigstens zeitweise und vielleicht sogar für ein ganzes Schuljahr aus Fukushima herauskämen. Dagegen redet ein anderer, der meint, man müsse (und könne?) in Fukushima solche Bedingungen schaffen, "daß die Kinder hier sicher leben können".

An der Universität Fukushima gebe es jetzt ein Institut für Erneuerbare Energien, wurde weiter berichtet. Man versuche, an der Universität das Bewußtsein dafür zu heben, bisher jedoch ohne großen Erfolg. Manche meinten immer noch, man könne auf Kernenergie nicht verzichten, obwohl an abgelegenen Orten in Japan, zum Beispiel in Aizu, die Stromversorgung im Winter trotz Kernenergie immer wieder zusammenbreche. Letzten Sommer habe jedoch ein Experte aus Dänemark mit Kindern ein Windrad gebaut, woraufhin auch die Eltern verstanden hätten, daß man mit Wind Energie erzeugen kann.

Der Moderator berichtete daraufhin von seiner früheren Energieerziehung, die seinerzeit so ausgesehen habe, daß er in der Schule ein Bild von einem Atomkraftwerk gemalt habe und dafür sehr gelobt worden sei. Daraufhin habe er gleich noch ein weiteres Atomkraftwerk gemalt. Heute spricht er sich für eine dezentrale Energieversorgung aus und berichtete der Versammlung von den Energiewerken Schönau in Deutschland.

Es stellte sich auch eine Tschernobyl-Hilfsgruppe vor, die sich intensiv mit Erneuerbaren Energien auseinandersetzt. Sie seien ein Netzwerk von 233 Personen und träten immer dann auf, wenn Dinge ruchbar werden, wie die Planungen zum Bau eines neuen Atomkraftwerks. Es scheine so zu sein, daß sich nicht nur in Fukushima, sondern im ganzen Norden Japans das Bewußtsein für eine andere Energieerzeugung ändert, meint der Moderator. In Minami-Soma seien die Felder vielfach nicht mehr brauchbar, die Erzeugung Erneuerbarer Energien sei hier eine Alternative. Insbesondere Frauen setzten sich dafür ein.

Eine Gruppe Jugendlicher zieht das Fazit, diese Konferenz sei sichtbar kleiner als deren Vorläufer-Konferenz, die noch die Unterstützung des ganzen Landes gehabt habe. Deshalb wolle man jetzt selbst in kleinen Schritten aktiv werden und nicht mehr auf die Unterstützung durch andere warten.


Behördliches Monitoring-Programm mit manipulierten Meßergebnissen

Wer den Platz hinter dem Bahnhof der Stadt Fukushima betritt, findet dort neben dem Hotel Richmond, in dem auch Jacques Lochard und andere Teilnehmer der ICRP-Veranstaltung untergebracht waren, eine amtliche Meßstation für die Ortsdosisleistung. Sie wird mit Solarzellen betrieben, weshalb das darunter angebrachte Display nur tagsüber leuchtet. Am 9. November 2012 zeigt die Leuchtschrift gegen 15 Uhr 0,284 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h) an. Eigene Messungen ergeben dagegen in der unmittelbaren Umgebung 0,45, 0,58 und 0,64 µSv/h.[1]

Zum Vergleich: Für die Zeit vor der Reaktorenkatastrophe von Fukushima gab das japanische Wissenschaftsministerium (MEXT) für die Ortsdosisleistung in Japan Werte zwischen 0,04 und 0,05 µSv/h an. Das war nur die Hälfte der in Deutschland üblichen Normalwerte, weil die Erde in Japan deutlich weniger Natururan enthält als in Deutschland. Tabelle 1 zeigt, daß solche Werte während unserer gesamten Reise quer durch Japan heute nirgendwo mehr erreicht werden.

Ein Mitarbeiter des Gesundheitsamtes berichtet später, im Mai 2011 seien es vor dem Bahnhof von Fukushima-Stadt noch 1,811 µSv/h gewesen und der höchste gemessene Wert habe zuvor 24 µSv/h betragen.

Allein in der Präfektur Fukushima wurden inzwischen insgesamt etwa 1.000 derartige Meßgeräte zu Zwecken des Strahlen-Monitorings und zur Information der Bevölkerung aufgestellt. Sie zeigen offenbar sämtlich zu geringe Werte an. Eine systematische Überprüfung von 200 solcher Geräte durch die Gruppe der Cititzen's Radioactivity Measuring Station (CRMS) in Minami-Soma ergab, daß diese Geräte häufig nur etwa ein bis zwei Drittel des wahren Wertes anzeigen. Eigene stichprobenartige Messungen bestätigen das (Tabelle 3). Der Aufstellort der Geräte wurde besonders gereinigt oder es wurde eine Metallplatte unter dem Detektor platziert, stellten die Mitglieder der Bürgerorganisation CRMS aus MinamiSoma fest.[2]

In der Bevölkerung kursiert dazu folgende Geschichte: Eine amerikanische Firma habe zunächst den Auftrag erhalten, die ersten Meßgeräte aufzustellen. Das japanische Umweltministerium habe sich dann in einem Brief darüber beklagt, daß die angezeigten Werte so hoch ausfielen, ob man das nicht ändern könne. Das habe diese Firma abgelehnt, die Geräte seien schließlich zum Messen da. Daraufhin habe eine japanische Firma den Zuschlag erhalten, die sich den Wünschen des Ministeriums gegenüber aufgeschlossener zeigte.

Tetsuji IMANAKA, Physikprofessor an der Universität Kyoto, antwortete auf eine entsprechende Frage aus dem Publikum während einer Vortragsveranstaltung am Abend des 18. November 2012 in Fukushima-Stadt, die Monitoring-Stationen machten "ganz klar" falsche Angaben. Man solle auch nicht nur die Krebstoten beachten, wie die ICRP das tue, sondern in Tschernobyl gebe es noch viele andere Erkrankungen, obwohl die Strahlung an manchen Orten 1 Millisievert pro Jahr (1 mSv/a = 0,114 ) nicht überschreite. Mit diesem Wert wolle man nur die Diskussion darüber vermeiden, wie viele Strahlenopfer man akzeptieren wolle.

Die Einwohner der ländlichen Region Iitate-mura kontrollieren ihre amtlichen Meßpunkte ebenfalls regelmäßig, und finden 20% zu niedrige Angaben. Man messe selber, damit nicht nach 20 Jahren "wie bei der Minamata-Krankheit" behauptet werden könne, die Werte seien doch zu niedrig gewesen, um Krankheiten zu verursachen. Ein Teil der Bewohner des hoch belasteten Iitate-mura wurde erst 6 Wochen nach der Reaktorkatastrophe und nachdem eine Arbeitsgruppe um Imanaka dort gemessen hatte, evakuiert (vgl. Strahlentelex 614-615 vom 2. August 2012, Seiten 2,3). Der japanische Staat versuche zur Zeit, die Verantwortung auf die unterste Verwaltungsebene abzuwälzen. Das bedeutet, daß alle bisher nach dem Monitoring erstellten und veröffentlichten Belastungskarten nicht die wahre Situation, sondern eine gefälschte und schöngefärbte wiedergeben.

Tabelle 1 - Messungen der Ortsdosisleistungen in Japan im Herbst 2012 Ortsdosisleistungen



Unabhängige Meßstellen in Bürgerhand

Um so notwendiger sind die Aktivitäten der unabhängigen Meßstellen von Bürgerinitiativen wie CRMS. Rund 100 gibt es inzwischen in ganz Japan. Überwiegend sind sie mit einem Natriumjodid-(NaJ-)Detektor ausgestattet. Einige der Meßstellen, wie die von CRMS in Fukushima und Tokyo, arbeiten inzwischen auch mit einem Germanium-Detektor, der eine eindeutige Trennung der beiden Cäsium-Radionuklide 134 und 137 erlaubt. Erst seit deren Inbetriebnahme ist allgemein klar, daß Cäsium-134 und Cäsium-137 nicht überall im Verhältnis 1:1 im ursprünglichen Fallout vorlagen, sondern der Anteil von Cäsium-134 in Nahrungsmitteln durchaus deutlich größer sein kann.

Weil man die beschränkte Aussagekraft der NaJ-Detektoren erkannt hat, überlegt man jetzt auch in der Bürgermeßstelle in Yokohama, sich zusätzlich einen Germaniumdetektor zuzulegen.

Einige der Meßstellen haben sich spezialisiert. So mißt die CRMS-Meßstelle in Iwaki vor allem Schulessen. In Tamura hatte man sich Geld geliehen, um die Meßstelle zu gründen. 2011 wurde hier vor allen Dingen Reis gemessen. Weil die Landwirtschaftsorganisation inzwischen ebenfalls mit Messungen begonnen hat, bringen die Bauern jetzt jedoch nicht mehr ihren Reis zur CRMS-Meßstelle. Die Messungen von Reis ergeben inzwischen auch nicht mehr so hohe Belastungen mit Radiocäsium wie noch 2011, sondern meist nur noch um 20 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) oder auch noch weniger. Dies jedoch nur, weil die Regierung inzwischen in bestimmten Gebieten, so auch in Oguni, das an Iitate-mura angrenzt, den Reisanbau verboten hat und die Felder dort brachliegen. Hier enthielt im vorigen Jahr der Reis häufig mehr als die erlaubten 500 Becquerel pro Kilogramm. Aus Oguni sind viele der jüngeren Bewohner inzwischen fortgezogen. Die alten Einwohner betreiben jetzt dort eine Meßstelle und wollen den Ort bewahren, damit vielleicht in einigen Jahrzehnten die jungen Leute wieder zurückkehren können, so ihre Hoffnung. Sie kochen ihre Pilze zweimal, weil sich dann die Cäsiumbelastung auf ein Zehntel verringere, berichten sie.

In Nihonmatsu, berichten die Betreiber der dortigen CRMS-Meßstelle, habe man im Gemüse 80 Becquerel Radiocäsium pro Kilogramm gefunden. Daraufhin hätten die Bauern überlegt, ihre Produkte mit sauberem Gemüse zu mischen, um auf weniger als 20 Bq/kg zu kommen. Das habe die Agentur, die über das Markenzeichen wacht, jedoch nicht gestattet.

In Setagaya, einem Bezirk von Tokyo, arbeitet man verbraucherorientiert und mißt viele Dinge, die in Tokyo verkauft werden und aus Fukushima stammen. Dabei finde man viele Dinge, die mehr als 100 Bq/kg Cäsiumgesamtaktivität aufweisen.

Die Meßstelle in Minami-Soma teilt sich die Räume mit einer anderen Organisation, weshalb es Tage gibt, an denen nicht gemessen werden kann. In südlich von Minami-Soma gewachsenen Waldpilzen habe man bis zu 15.000 Bq/kg Cäsiumgesamtaktivität gefunden. Daneben liegt der Sperrbezirk mit Ortsdosisleistungen von 40 bis 50 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h). Und in Kaki-Früchten finde man etwa 80 Bq/kg.

Bei der CRMS-Meßstelle von Fukushima-Stadt hat man mit dem Projekt begonnen, Lebensmittel auch selbst zu kaufen und zu messen. Eine junge Mutter sucht aus und kauft ein.

Die Meßstellen in Bürgerhand außerhalb der Präfektur Fukushima sind häufig auch Treffpunkte für Mütter und Eltern, die aus Fukushima emigriert sind. So auch die in Kyoto und in Sapporo, die auf deren Initiative gegründet wurden.

Die Stadt Sapporo, Hauptstadt von Hokkaido im Norden Japans, fördert eine Initiative von Emigranten aus Fukushima, die Kinder aus belasteten Gebieten nach Sapporo bzw. Hokkaido einlädt, um sich dort zu erholen und viel Zeit im Freien zu verbringen. Das Programm bedarf jedoch noch vieler Spenden, wofür auch ein Konto in Deutschland eröffnet wurde [3]. Um dieses Programm möglichst vielen Menschen bekannt zu machen, hat man sogar eine deutschsprachige Internetseite auf der Homepage der Stadt Sapporo mit Informationen und dem Film "Aktiv für den Schutz der Kinder von Fukushima" eingerichtet.[4]

Alle Meßstellen betreiben Nahrungsmittelmessungen ausschließlich per Gammaspektroskopie. Ob es gelingen wird auch einen Meßplatz für Strontium-90, einem reinen Beta-Strahler, in Bürgerhand aufzubauen, bleibt ungewiß, wäre jedoch wünschenswert. Denn nur dann wird sich der japanische Staat gezwungen sehen, auch selbst Strontiummessungen in Nahrungsmitteln zu veröffentlichen. In Deutschland jedenfalls ist es den Bürgerinitiativen seinerzeit nach Tschernobyl nicht gelungen, Strontiummessungen in Eigenregie durchzuführen. Es ist ein schwerwiegendes Defizit der japanischen Behörden, solche Messungen bisher nur ganz vereinzelt durchgeführt bzw. solche Meßergebnisse nur vereinzelt veröffentlicht zu haben.

Tabelle 2 - Einzelmessungen der Ortsdosisleistung



Touristen und Einwohner

Tabelle 1 dokumentiert die äußere Strahlenbelastung während unserer sechswöchigen Reise durch Japans Hauptinsel Honshu von Hiroshima bis Aomori und besonders durch die Kansai-Region, Gifu und die Präfektur Fukushima, durch die Insel Shikoku im Süden und nach Hokkaido im Norden. Die angegebenen 24-Stunden Tagesmittelwerte errechnete das mitgeführte Ortsdosisleistungs-Meßgerät aus den im 5-Minuten-Abstand über 24 Stunden gespeicherten Werten der Ortsdosisleistung als arithmetisches Mittel. Daraus errechnet sich eine Gesamtbelastung während der sechswöchigen Reise von 227 Mikrosievert (µSv). Dabei haben die beiden Flüge einen Anteil von ca. 82 µSv oder 36 Prozent. Im Vergleich zu einem Aufenthalt in Deutschland bei 0,1 µSv/h ist das eine Mehrbelastung von 126 µSv oder 125 Prozent, woran die beiden Flüge einen Anteil von insgesamt 80 µSv (82 µSv - 0,1 µSv/h h) oder 63 Prozent haben. Im Vergleich zu einem Aufenthalt in Japan vor der Reaktorkatastrophe mit 0,04 bis 0,05 µSv/h beträgt die Mehrbelastung 147 µSv oder 184 Prozent.[5]

Bei der Bewertung dieser Belastungen ist zu beachten, daß Hotels im heute überwiegend westlichen Stil typischerweise Hochhäuser sind. Der Aufenthalt nachts in den oberen Stockwerken bedeutet für Touristen eine beträchtliche Verringerung der Strahlenbelastung auf Werte um 0,1 µSv/h (etwa im 6. Stock des Richmond-Hotels in Fukushima-Stadt). Das senkt den Tagesdurchschnitt deutlich. Die Belastungen in freier Natur, in den vielfach ein- und zweistöckigen traditionellen Gebäuden und während der Fahrten durch die Landschaft sind zum Teil beträchtlich höher (siehe die Tabellen 2 und 3) und entsprechen denen der einheimischen Bevölkerung. Zu beachten ist auch, daß diese Werte lediglich die äußere Strahlenbelastung ("Luftdosis") repräsentieren, nicht die der inneren durch die Aufnahme von Radionukliden in den Körper mit der Nahrung und der Atmung, die sich so nicht einfach abschätzen lassen.

Tabelle 3 - Vergleichsmessungen von Ortsdosisleistungen



Durchhalteparolen und Desinformation

Politik der japanischen Regierung und der Behörden ist derzeit, Durchhalte-Stimmung nach dem Motto 'Augen zu und durch' zu verbreiten. Auf Wänden und Transparenten kann der Reisende aus Deutschland - sofern er der japanischen Schrift kundig ist - überall im Lande Aufrufe lesen, die ihn an die Durchhalte und Aufbauparolen der DDR erinnern. "Halten wir durch, Fukushima" heißt es etwa blumengeschmückt auf dem Bahnhofsvorplatz von Fukushima-Stadt und ebenso im Schaukasten eines Wohnungsmaklers. "Wir unterstützen die Heimat Fukushima mit allen Kräften" und "Ein lächelndes Gesicht - allen gefällt es in Fukushima" sowie "Fortschritt in die Zukunft, Fukushima läßt sich nicht unterkriegen" ist in Schaufenstern von Geschäften nicht nur in der Präfektur Fukushima zu lesen. Das zeigt durchaus Wirkung: In Sapporo befindet sich in einem ehemaligen Verwaltungssitz aus der Meiji-Zeit, ein historischer Uhrenturm. Schulkinder wurden dort angehalten, sich malend mit dem Gebäude zu beschäftigen. Und so ist auf einer der ausgestellten Kinderzeichnungen in der Diktion der staatlichen Durchhaltesprüche zu lesen: "Halte durch, Uhrenturm!"

Die aus den belasteten Gebieten außerhalb der offiziellen 20 Kilometer-Sperrzone ausgewanderten Bewohner sollen trotz aller Unsicherheiten wieder in ihre Heimat zurückgelockt werden. Dazu läuft derzeit eine Kampagne der Desinformation - mit gefälschten Strahlenmeßwerten - und auch Druck: Die bisherige finanzielle Unterstützung in Höhe von monatlich 100.000 Yen (umgerechnet rund 1.000 Euro), die aus Gebieten mit ähnlich hohen Fallout-Belastungen wie in den Sperrgebieten ausgewanderte Bewohner bisher erhielten, wird ab April 2013 nicht mehr gezahlt. Viele werden deshalb keine Alternative haben, als in die verstrahlten Gebiete zurückzukehren und als Versuchskandidaten für die Forschung zu dienen. Nur wenn sie zurückkehrten, würden ihre Kinder kostenlos untersucht, bekommen besorgte Mütter heute zu hören.

Ungelöst ist zudem das Problem der getrennten Familien. Es steht im Vordergrund der Probleme in- und außerhalb der Präfektur Fukushima, von Kyoto bis Sapporo: Die Väter sind wegen ihrer Arbeit zurückgeblieben, oder auch ältere Kinder und Geschwister der Mütter, um Großeltern und alte Eltern zu betreuen, die nicht fortwollen. Die Mütter, von denen in Japan traditionell erwartet wird, auch für die Versorgung der Alten zu sorgen, sind dagegen mit den kleineren Kindern umgesiedelt und stehen nicht mehr für ihre traditionelle Rolle zur Verfügung. Einzelne Städte wie Kyoto haben den Umsiedlern aus Fukushima kostenlosen Wohnraum zur Verfügung gestellt, jedoch nur für drei Jahre.


Dekontaminierungsversuche

Wer durch die herrlichen Landschaften Japans und speziell die im prächtigen, farbigen Herbstlaub stehenden Wälder der Präfektur Fukushima reist, möchte die unsichtbare Gefährdung durch die aus den havarierten Reaktoren von Fukushima Daiichi freigesetzten Radionuklide gerne vergessen. Der Blick fällt jedoch des öfteren auf mit Erde gefüllte Plastiksäcke, die zu Haufen aufgestapelt in der Landschaft liegen. Das sind die Überreste von sogenannten "Dekontaminationsarbeiten". Die Erdoberfläche etwa von Gärten, Schulhöfen, die Umgebung von vielbesuchten Tempeln und öffentlichen Plätzen wird abgetragen, die Oberfläche von Parkplätzen und Straßen abgefräst, um nach Möglichkeit die Ortsdosisleistung zu verringern. Das gelingt jedoch nur unvollkommen und hält nur eine gewisse Zeit vor. Denn im Hintergrund befinden sich Felder, Wälder und Berge, die weiterhin ihre strahlende Last tragen und mit Wind und Wetter an die Umgebung weiterreichen. "Eine Dekontaminierung ist nicht möglich, man verteilt die Radioaktivität nur anders", meint dazu der Kyotoer Physikprofessor Imanaka. Die Ortsdosisleistung (die "Luftdosis") korreliert zudem nicht mit der Bodenbelastung, weil die standardmäßig in einem Meter Höhe gemessene Ortsdosisleistung auch von den sonstigen Verhältnissen in der weiteren Umgebung abhängt. Deshalb sei eine Dekontaminierung nicht wirklich möglich, hat auch das Forscherehepaar OTAKI vom Forschungsinstitut für die medizinischen Folgen der Atombombenabwürfe der Universität Hiroshima festgestellt, wie sie am 18. November 2012 der interessierten Bevölkerung in Fukushima-Stadt vortrugen. Sie machen derartige Untersuchungen in ihrer Freizeit, betonten sie.

Ein Beispiel: Der Bezirk Setagaya von Tokyo besitzt ein Schullandheim in Kawaba, Aizu, das "dekontaminiert" wurde. Auf Bitten besorgter Eltern hat CRMS Tokyo die Dekontaminierung am 8. September 2012 überprüft. Das Ergebnis: Die Bodenbelastung nach Abräumen und Erneuern der obersten 5 Zentimeter Erde:
Cäsium-134: 4,88±0,64 Bq/kg
Cäsium-137: 5,68±0,86 Bq/kg
Gefallenes Laub in unmittelbarer Nähe der dekontaminierten Fläche:
Cäsium-134: 3546±172 Bq/kg
Cäsium-137: 5459±221 Bq/kg


Herbstfeuer

Die fahrlässige Aufforderung der Präfektur-Behörden von Fukushima, weiterzuleben wie bisher, hat gefährliche Folgen. Von den mit radioaktivem Fallout belasteten Feldern kann man häufig Rauchwolken aufsteigen sehen. Die Bauern verbrennen in traditioneller Weise organische Abfälle von den Feldern, Reisstroh und anderes, anstatt diese Materialien zu kompostieren. Damit werden die daran gebundenen Radionuklide wieder freigesetzt, aufgewirbelt, mit der Luft verteilt und eingeatmet. Vereinzelt gehen örtliche Initiativen bereits gegen diese Praxis vor. Weil die Behörden jedoch untätig bleiben, haben die Bürgerinitiativen noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, um das Bewußtsein für die Gefährdung bei den Landwirten zu heben.


Futaba, das Pripjat von Fukushima

Auch die Probleme der aus der Sperrzone Evakuierten sind bisher nicht gelöst. In Kyu Saitama Saikoko, der alten West-Oberschule der Präfektur Saitama bei Tokyo, hausen immer noch rund 200 von einstmals 1.400 dorthin evakuierten Einwohnern von Futaba. Die Situation der nahe der havarierten Reaktorenanlage von Fukushima Daiichi gelegenen Gemeinde Futaba entspricht der der Stadt Pripjat bei Tschernobyl. Katsutaka IDOGAWA, Bürgermeister von Futaba, hat zwar seine Stadt verloren, ist jedoch weiterhin Anwalt und Interessenvertreter der früheren Bewohner und spricht für sie. Er empfing uns am 6. November 2012 in seinem Büro in der Schule, nachdem er zuvor aus Genf zurückgekehrt war. Dort hatte er vor dem Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen von den bestehenden Problemen berichtet. Filmfreunde können sich auch an den Film erinnern, der über ihn, seine Stadt und seine vertriebenen Einwohner gedreht und auf dem Filmfestival in Berlin (Berlinale) 2011 gezeigt wurde. Das Manuskript seines jetzigen Vortrags in Genf ist mit seiner freundlicher Genehmigung in dieser Ausgabe des Strahlentelex dokumentiert. Inzwischen hat die UNO den Anwalt Anand GROVER als ihren Sonderberichterstatter "für das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit" nach Japan und in die Präfektur Fukushima geschickt. Seinen Bericht werde er im Frühjahr 2013 vorlegen, erklärte er am 18. November 2012 anläßlich eines halbstündigen Besuchs der CRMS-Meßstelle in Fukushima-Stadt.


Der Fall Yamashita

Die japanische Präfektur Fukushima hatte nach dem Reaktorunfall von Fukushima Daiichi beschlossen, Gesundheitsuntersuchungen an der dortigen Bevölkerung durchzuführen. Das dafür eingesetzte Überprüfungskomitee führte dazu vor seinen öffentlichen Sitzungen stets geheime "Vorbereitungssitzungen" durch. Bei diesen Vorbereitungssitzungen seien die Meinungen der Komiteemitglieder zu den Untersuchungsergebnissen "verglichen", "gemeinsame Haltungen" und das Szenario für die öffentlichen Sitzungen abgesprochen worden. Das hattte die japanische Tageszeitung "The Mainichi" bereits am 3. Oktober 2012 berichtet.

Die Präfektur Fukushima erklärte dem Bericht zufolge, diese Vorbereitungssitzungen seien notwendig gewesen, um "Konfusion beim Komitee" zu vermeiden und den Einwohnern ihre Sorgen zu nehmen. Auf Vorhaltungen des Reporters von The Mainichi habe die Präfekturverwaltung jetzt die Unangemessenheit solcher Sitzungen eingeräumt und erklärte, solche geheimen Sitzungen sollten künftig nicht mehr stattfinden.[6]

Shunichi YAMASHITA, Prorektor der Medizinischen Hochschule Fukushima, oberster Gesundheitsberater der Präfektur und oberster Leiter aller Reihenuntersuchungen und Studien nach der Reaktorenkatastrophe, ist Vorsitzender dieses Komitees. Er wird inzwischen in der Bevölkerung Japans als zwielichtige Gestalt gesehen, die dafür bezahlt wird, die Menschen möglichst ruhig und in der Präfektur zu halten, ohne Rücksicht auf die gesundheitlichen Folgen. Am Vormittag des 18. November 2012 saß er einer erneuten öffentlichen Beratung des Gremiums vor. Die Veranstaltung war offensichtlich vorher ebenso geprobt worden wie die vorhergehenden. Es habe wiederum geheime "Vorbesprechungen" gegeben, wurde später zugegeben. In einer unwirklich anmutenden Szenerie gab sich Yamashita, kaum ein Wort sagend und mit großem räumlichen Abstand an einem besonderen Tisch in der Mitte vor den u-förmig platzierten Komitee-Mitgliedern sitzend, quasi als über der Sitzung schwebend.

Zunächst behauptete ein Berichterstatter der Medizinischen Hochschule, die äußere Strahlenbelastung der allgemeinen Bevölkerung hätte praktisch sämtlich (zu 99 Prozent) unter 1 Millisievert effektive Dosis gelegen. Allerdings gebe es Probleme bei der Dosiskalkulation der Evakuierten, weil diese von Ort zu Ort gewandert seien.

Der bisher diagnostizierte eine Fall von kindlichem Schilddrüsenkrebs, so ein anderer, sei schwierig zu bewerten, ob das von der Radioaktivität käme. Man sollte wohl sagen, daß man jetzt noch nichts sagen könne.

Im späteren Verlauf der Veranstaltung stellten im wesentlichen zwei Damen des Gremiums Fragen und machten Vorschläge zum weiteren Verfahren der Untersuchungsprogramme. Darauf erhielten sie Antworten nach dem stereotypen Muster, man werde das in die Überlegungen einbeziehen und dann darüber entscheiden.

Die zahlreich anwesenden Journalisten und die Vertreter der Bevölkerung ertrugen das über zwei Stunden lang mit bewunderungswürdiger Geduld und verhielten sich ruhig. - Bis dann einem der Zuhörer doch der Kragen platzte und er lautstark den Vorwurf erhob, die Befürchtungen und Besorgnisse der Bevölkerung interessierten das Gremium offenbar nicht.

Daraufhin entfernte sich Yamashita wortlos und die Mitglieder des Beratergremiums sprangen verschreckt auf, versuchten den Zwischenrufer zu ignorieren und entfernten sich ebenfalls rasch. Viele der Journalisten und Kameramänner entfernten sich ebenfalls, nur drei Kameras blieben und filmten die Szene. Die wenigen, die blieben, regten sich nun ebenfalls darüber auf, daß sie keine Fragen stellen konnten.

Daraufhin erklärten sich einige wenige Mitglieder des Beratergremiums doch bereit, Fragen der Journalisten zu beantworten. Zunächst antwortet Professor Suzuki auf Fragen zum Schilddrüsenkrebs, man könne zur Zeit noch nichts sagen, denn es habe auch in den vergangenen Jahren in der Präfektur Nagano schon einige Schilddrüsenkrebsfälle gegeben, die nichts mit Radioaktivität zu tun hatten. Schließlich erscheint auch Yamashita wieder und setzt sich dazu.

Die äußere Verstrahlung sei nach Aussage des Gremiums sehr gering, wird ihm vorgehalten, ob er denn Daten über die innere Verstrahlung habe? Vor Fukushima, so Yamashita darauf, sei die zulässige Dosis laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 100 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h) gewesen, nach Fukushima jetzt 50 µSv/h. Es sei jedoch sehr schwierig, eine solche Dosis abzuschätzen. Auf der Homepage der Präfektur wird diese Aussage später auf 10 µSv/h korrigiert, Yamashita habe sich versprochen. Am 21./22. März 2011 hatte Yamashita noch von 20 µSv/h gesprochen, die unschädlich seien; diese Ortsdosisleistung hatte es damals in Fukushima-Stadt gegeben.

Auf die Journalistenfrage, wie alt das Kind mit dem Schilddrüsenkrebs sei, antwortet Suzuki, die Privatsphäre des Kindes müsse geschützt werden und man solle erst einmal die Gesamtergebnisse der Studie abwarten, wenn diese fertig sei. Und ja, der Tschernobyl-Schilddrüsenkrebs sei ein besonderer, zum Beispiel breite er sich schneller ins Lymphsystem aus. Sprach's und verließ eiligen Schrittes den Saal.

Nach einem Einwurf aus dem Publikum: "Wieso gebt Ihr für solche Untersuchungen Geld aus, kümmert Euch doch um diejenigen, die am stärksten verstrahlt wurden, die habt Ihr doch schon identifiziert", meint Yamashita, aus den Daten von Hiroshima und Nagasaki ergebe sich, daß man unter 100 Millisievert (mSv) nichts feststellen könne.

"Sie hatten ja Vorbereitungssitzungen auf diese Sitzung, wir würden gerne bei der nächsten Vorbereitungssitzung dabei sein", fordert ein Journalist. Und auf die Frage, ob das Protokoll dieser Sitzung ins Internet gestellt werde, gibt es die Antwort, nein, es sei noch nicht so weit, daß das veröffentlichungswürdig wäre. Auf die nächsten Fragen schließlich gibt es keine Antworten mehr: Hier seien ja lauter Experten versammelt, die einen Zusammenhang mit der Verstrahlung ausschließen wollen, wie denn diese Zusammensetzung des Gremiums zustande gekommen sei? Und: Die IAEA mache ja demnächst in Koriyama auch eine öffentliche Veranstaltung, ob sie denn da hingingen? Als das von Yamashita verneint wird und Verwunderung darüber geäußert wird, daß dort niemand hingehe, ob er denn andere Verbindungen zur IAEA habe, wird die Veranstaltung endgültig wortlos beendet. Auffällig war, daß nur die großen Sender und Zeitungen und einige Bürgermedien Fragen stellten, von den beiden Lokalzeitungen dagegen niemand.

Fazit: Die Bevölkerung in Japan und speziell in der Präfektur Fukushima wird von ihrer Regierung und den Behörden in ihren Sorgen und Nöten nach der Reaktorenkatastrophe von Fukushima nicht nur allein gelassen, sondern aktiv mit einer Desinformationskampagne überzogen und dabei belogen und betrogen. Ziel ist, auch die höher belasteten Gebiete in der Präfektur Fukushima besiedelt zu halten, ohne Rücksicht auf die gesundheitlichen Folgen, wie sie aus Tschernobyl bekannt sind. Das ist vielen Menschen dort bewußt, sie haben sich in Bürgerinitiativen zusammengeschlossen, um sich besser informieren zu können und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Das läßt hoffen und ist alle Unterstützung Wert.

Danke. Wir bedanken uns sehr für die herzliche Aufnahme, Unterstützung und Freundschaft, die uns während unserer Reise überall in Japan zuteil wurde.


(*) Annette Hack, M.A., Dipl. Übersetzerin, Japanologin.
Thomas Dersee, Dipl.-Ing., Herausgeber des Strahlentelex, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Strahlenschutz, Vorsitzender der Atom- und Strahlenkommission des BUND.


1. Die in diesem Bericht dokumentierten eigenen Messungen der Ortsdosisleistung wurden sämtlich mit dem Strahlenmeßgerät Gamma-Scout Nr. 51509 der Firma GAMMA-SCOUT GmbH &Co. KG, Schriesheim, Deutschland vorgenommen und beziehen sich stets auf einen Meter Abstand vom Erdboden, sofern nichts anderes angegeben ist. Laut Kalibrierungs-Zertifikat des Instituts für Radiochemie und Strahlenschutz der Fachhochschule Mannheim beträgt die Abweichung vom Referenzgerät für den Meßbereich der Ortsdosisleistung von 0,1 bis 10 µSv/h weniger als ±5%.

2. Die Arbeit ist im Internet dokumentiert unter der Adresse
www.geocities.jp/ansinanzen_project/index.html

3. Spendenkonto der Stadt Sapporo: Konto-Nr. 2239358 bei der Deutschen Bank AG München, BLZ 70070010, Stichwort: Kinder aus Fukushima.

4. Deutschsprachige Internetseite der Stadt Sapporo mit Kontoinformationen sowie dem Film "Aktiv für den Schutz der Kinder von Fukushima":
www.city.sapporo.jp/shimin/support/kikin/fukushima-ger.html

5. Der Hinflug von Frankfurt/M. nach Osaka erfolgte über die Nordroute (Sibirien). Die Flugdauer betrug 10,5 Stunden in ca. 10,6 km Flughöhe bei 3,8-3,9 µSv/h. Das ergibt insgesamt rund 40 µSv für den Hinflug. Der Rückflug erfolgte ebenfalls über die Nordroute und dauerte 11,5 Stunden, überwiegend in ca. 10,36 km Flughöhe bei 3,2-3,3 µSv/h. Die vorletzten 1,5 Stunden fanden in 11,6 km Flughöhe bei 4,5 µSv/h und die letzten 1,5 Stunden in 12,2 km Flughöhe bei 4,7-5,2 µSv/h: statt. Das ergibt insgesamt für den gesamten Rückflug ca. 42 µSv.

6. Das Überprüfungskomitee für die Einwohneruntersuchungen von Fukushima war im Mai 2012 einberufen worden. Der Vorsitzende dieses Komitees ist der berüchtigte Professor Shunichi Yamashita. Unter den 19 Mitgliedern des Komitees befinden sich Strahlenmediziner der Universität Hiroshima, Professoren der Medizinischen Hochschule Fukushima sowie zuständige Beamten als Beobachter. Ihre Aufgabe bestehe in fachlichen Beratungen über die Gesundheitsuntersuchungen, die die Medizinische Hochschule Fukushima im Auftrag der Präfektur Fukushima durchführt, heißt es. Das Komitee habe bis jetzt 8 mal getagt, und die Sitzungen seien bis auf die erste Sitzung öffentlich zugänglich gewesen und dessen Protokolle auch veröffentlicht worden. Einem Beteiligten zufolge sei von der Gesundheitsabteilung der Präfektur, die als Verwaltung dieses Komitees fungiert, jedoch bisher immer eine Woche vor der Sitzung oder direkt davor eine geschlossene Vorbereitungssitzung einberufen worden, berichtet "The Mainichi". Die Komiteemitglieder hätten an einem geheimen Ort getagt und die Unterlagen seien nach den Sitzungen wieder eingesammelt worden. Die Existenz dieser Sitzungen seien geheimgehalten worden. Auch am 11. September 2012, direkt vor der achten Sitzung des Überprüfungskomitees, die öffentlich in einer Einrichtung der Stadt Fukushima stattfand, habe es im Haus der Präfekturverwaltung eine geheime Vorbereitungssitzung gegeben. Dort wurden die auffälligen Ergebnisse der Schilddrüsenuntersuchungen an Kindern behandelt und eine erste Schilddrüsenkrebserkrankung war bei einem Kind gefunden worden. Strahlentelex hatte ausführlich in der vorigen Ausgabe berichtet. Auf der Vorbereitungssitzung wurde die gemeinsame Linie abgesprochen, es sei keine Kausalität zwischen dem Krebsfall und dem Reaktorunfall festzustellen.(1)
Bei der öffentlichen Komiteesitzung wurde dann tatsächlich das vorbereitete Schauspiel vorgeführt, daß ein Mitglied absichtlich die Frage nach der Kausalität stellte, und Vertreter der Medizinischen Hochschule von Fukushima, die für diese Untersuchung verantwortlich zeichnen, darauf die Antwort gaben, die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle habe nach dem Unfall von Tschernobyl erst nach mehr als vier Jahren zugenommen, weshalb es keine Kausalität zwischen dem jetzt aufgetretenen Fall und der Reaktorenkatastrophe von Fukushima gebe. Von den Mitgliedern des Komitees wurden daraufhin keine Einwände erhoben.
Bei der Vorbereitungssitzung zur dritten Komiteesitzung im Juli sei den Komiteemitgliedern zudem von der Präfektur Schweigen auferlegt worden.
Gegenüber dem Reporter von "The Mainichi" räumte der Zuständige von der Gesundheitsabteilung der Präfektur Fukushima nun die Existenz dieser Vorbereitungssitzungen ein und erklärte, bei diesen Vorbereitungen habe man sich nur im voraus Meinungen anhören wollen, um die Komiteesitzung selbst "reibungslos durchzuführen" zu können. Diese Sitzungen seien in der Tat Geheimsitzungen gewesen, die Kritik daran werde reflektiert und weitere geheime Vorbereitungssitzungen würden nicht mehr stattfinden.
Bei der Einwohnergesundheitsuntersuchung der Präfektur Fukushima sollen sämtliche Einwohner der Präfektur auf ihren Gesundheitszustand nach dem Reaktorunfall hin untersucht werden. Die Untersuchungen sollen über 30 Jahre hinweg fortgeführt werden. Die Kosten dafür werden aus einem Fonds bestritten, der durch den japanischen Staat und die Betreiberfirma Tepco der havarierten Atomanlagen aufgelegt wurde.
(The Mainichi, 03.10.2012, http://mainichi.jp/feature/20110311/news/20121003ddm001040029000c.html)

(1) Anmerkung der Red.: Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 traten natürlich bereits früher Schilddrüsenkrebserkrankungen auf, die Zahl der Erkrankungen stieg steil an. In den 10 Jahren vor Tschernobyl hatte es jährlich 1 bis 2 Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern gegeben. Ein und zwei Jahre danach waren es dann in der Ukraine 7 bis 8 und in Belarus 4 bis 5 Neuerkrankungen bei Kindern jährlich. Die Zahl der Neuerkrankungen bei Erwachsenen war in Belarus bis dahin auf mehr als 200 jährlich angestiegen. In den 5 Jahren von 1986 bis 1994 waren es dann insgesamt in Rußland 24, in der Ukraine 208 und in Belarus 333 Neuerkrankungen an Schilddrüsenkrebs bei Kindern und bei Erwachsenen in Belarus 2907.
[hier zitiert nach Edmund Lengfelder, Folgen der Tschernobyl-Katastrophe: Karzinome und andere Krankheiten nehmen weiter zu. In: Inge Schmitz-Feuerhake, Edmund Lengfelder (Hrsg.): 100 Jahre Röntgen: Medizinische Strahlenbelastung - Bewertung des Risikos. Gesellschaft für Strahlenschutz, Proceedings, 2. Internationaler Kongreß Berlin 1995, ISBN 3-9805260-0-3.]


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_12_622-623_S01-09.pdf

weitere Informationen siehe: www.strahlentelex.de

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Dezember 2012, Seite 1-9
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2013