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KATASTROPHEN/116: Fukushima - Vorstöße zur Anhebung der Lebensmittelgrenzwerte in Japan (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 680-681 / 29. Jahrgang, 7. Mai 2015 - ISSN 0931-4288

Folgen von Fukushima

Vorstöße zur Anhebung der Lebensmittelgrenzwerte in Japan

von Annette Hack


Zu einer zweieinhalbstündigen Podiumsdiskussion lud die japanische Gesellschaft für Wissenschaftskommunikation (JASC) für den Abend des 3. Februar 2015 nach Ryozenmachi ein. Ryozenmachi ist eine ländliche Kleinstadt, die von Land- und Forstwirtschaft und vom Tourismus, insbesondere dem Wintersport lebt(e), und verwaltungstechnisch Teil der Stadt Dat-eshi in der Präfektur Fukushima ist.

Thema der Abendveranstaltung war ein "Vorschlag zur Einführung eines Lebensmittelgrenzwertes von 1.000 Becquerel/Kilogramm (Erwachsene) bzw. 100 Becquerel/Kilogramm (Kinder) für den Selbstverbrauch der ortsansässigen Bevölkerung, jedoch bei strikter Beachtung des geltenden Grenzwertes für Lebensmittel, die in den Handel gelangen", so der Einladungstext. [1]

Die Organisatoren sagen nicht, auf welche Radionuklide der 'Vorschlag' sich beziehen soll; da sich der geltende japanische Grenzwert von 100 Bq/kg auf die Cäsiumgesamtaktivität (Cs-137 + Cs-134) bezieht, ist hier wahrscheinlich dasselbe gemeint.

Die Diskutanten waren URASHIMA Mitsuyoshi, OCHI Sae, HAKATA Mihoko, HANGAI Terumi und Ludwik Dobrzyński.

URASHIMA Mitsuyoshi ist Kinderarzt und Master of Public Health (Harvard), Leiter des Instituts für Molekularepidemiologie an der Medizinischen Universität Jikeikai, Tokyo - eine der bedeutendsten Ausbildungsstätten für Mediziner in Japan, mit traditionell engen Verbindungen nach England und in die USA. OCHI Sae ist nach Studien am Imperial College London und bei der WHO Leiterin der Inneren Medizin am Zentralkrankenhaus Soma, Lehrbeauftragte für Public Health und Sportmedizin. HAKATA Mihoko ist Zahnärztin und bekannte Rezitatorin klassischer japanischer Dichtung. HANGAI Terumi ist Erziehungsberater und Mediator, der seit 2012 auch Schulvorträge und Beratungen zu Fragen von Radioaktivität und Gesundheit im Auftrag der Stadt Date durchführt. Und schließlich Professor Dr. Ludwik Dobrzyński ist Atomphysiker, in verschiedenen Funktionen seit 1963 am polnischen Zentralinstitut für Kernforschung in Swierk (Polen) tätig gewesen, und ist Mitglied der polnischen UNSCEAR-Delegation seit 2001.

Dem Einladungstext zufolge fanden in Date-shi bereits vorher zweimal Seminare zum Thema 'Kenntnisse über Radioaktivität und Sicherheit von Lebensmitteln' statt, bei denen "die Meinung vorherrschte", man solle doch der japanischen Regierung vorschlagen, einen neuen Grenzwert für im eigenen Haushalt erzeugte und verbrauchte Lebensmittel einzuführen. Auf diese Weise könne die Politik, lokale Produkte lokal zu verbrauchen, durch den Selbstverbrauch "auf der Grundlage selbstbestimmter Gewährleistung und selbstbestimmten Managements der Sicherheit" wieder in Gang gesetzt werden, wobei allerdings der Grenzwert für den Handel mit Lebensmitteln weiterhin strikt beachtet werden solle.

Konkret sollten die im angeblich "weltweit als Standard anerkannten" Codex Alimentarius genannten Werte von 1.000 Bq/kg für Erwachsene und 100 Bq/kg für Kinder auf das Strahlenrisiko hin betrachtet werden. Dazu solle das Konzept des Verlusts an Lebenserwartung (Loss of Life Expectancy) herangezogen werden, wie es zur Zeit auch bei der UNSCEAR untersucht werde. Es werde um Methoden gehen, "die Lebensmittelsicherheit unter Berücksichtigung der Gefühle der ansässigen Bevölkerung zu gewährleisten".

Zum Schluß geht noch ein Dank der Veranstalter an Barbara Schatz, die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses zur Überwachung der Reform der Sicherheitsmaßnahmen bei der Atomenergieerzeugung der TEPCO: Das von der TEPCO finanzierte Büro dieses Ausschusses übernahm die Flug- und Reisekosten der Podiumsteilnehmer als einen "Beitrag zum Wiederaufbau nach dem Atomunfall und zur Risikokommunikation".

"Wir erklären jedoch, daß Konzeption und Inhalt unserer Veranstaltung keine Meinungen aus der TEPCO widerspiegeln", heißt es in der Einladung. Und: "Es wird auch über die von TEPCO zu leistenden Entschädigungen für Verbote des Selbstverbrauchs, der auch ein schwierig zu fassendes wirtschaftliches Problem darstellt, einen freien Meinungsaustausch geben."

Dem der Einladung beigefügten Anhang ist zu entnehmen, daß es in der Präfektur Fukushima Mitte Dezember 2014 eine ganze Reihe von Verzehrsverboten gab: für verschiedene Blattgemüse und Kohlsorten, Mairüben, Wildpilze, wilde Bachforellen und Fleisch von Wildschweinen. Bis auf das Fleisch von Wildschweinen, das praktisch im gesamten Westen der Präfektur nicht verzehrt werden darf, betreffen die Verbote die 20-Kilometerzone um das havarierte Kraftwerk und wenige direkt angrenzende Gebiete sowie das hochverstrahlte Iitate-mura.

Handelsbeschränkungen betreffen dagegen diese und noch mehr Lebensmittel, sowie weitaus mehr Orte in der Präfektur Fukushima, aber oft mit dem Zusatz, "soweit sie nicht unter das Management bzw. die Untersuchungen der Präfektur fallen". Das Fleisch von Wildschweinen und anderen Wildtieren in Verkehr zu bringen, ist für das ganze oder fast das ganze Gebiet der Präfektur Fukushima verboten.

Auch in den Präfekturen Aomori, Miyagi, Yamagata, Ibaraki, Tochigi, Gunma, Saitama, Chiba, Niigata, Nagano und Shizuoka gab es, diesem Anhang zufolge, Mitte Dezember 2014 Verbote, vor allem Wildpilze und andere Wildpflanzen sowie das Fleisch wild lebender Tiere in Verkehr zu bringen, bisweilen mit der Möglichkeit der Freimessung.

Lediglich etwa dreißig Personen waren an dem Februarabend der Einladung gefolgt, um die Diskutanten anzuhören.

Gesundheitsberater Hangai wird in einer Zeitschrift mit der Äußerung zitiert: "Für uns in Fukushima müßten die Verzehrsbeschränkungen abgeschafft werden, laßt uns doch essen, was uns schmeckt...", die Internistin Dr. Ochi mit der Überlegung: "ich mache mir mehr Sorgen wegen der Knochen als wegen Krebserkrankungen. Für starke Knochen sind drei Dinge wesentlich: Essen, Bewegung und Sonnenlicht. Wenn man Strahlenexposition zu vermeiden sucht, vermeidet man auch diese drei. Dann würde die Mortalitätsrate auf das 1,8fache steigen. Mit der Vermeidung der Radioaktivität halst man sich also ein höheres Risiko auf". Der per Video zugeschaltete Wirtschaftswissenschaftler Oka Toshihiro, Professor an der Universität der Präfektur Fukui, vergleicht den Verzehr von 10 Gramm mit 2400 Bq/kg belasteter Pilze mit einer Autofahrt von 10 Kilometern - die Pilzmahlzeit entspreche einem Lebenszeitverlust von 7 Sekunden, die Autofahrt einem von 21 Sekunden. Das Risiko des Autofahrens sei mithin dreimal so hoch wie das der Pilzmahlzeit. [2]

Solche mehr als merkwürdigen Argumentationen wiederholt Frau Dr. Ochi in ihrem Beitrag "Fukushima - die progressivste Speisekultur der Welt" für die Internetzeitschrift der japanischen 'Gesellschaft für medizinische Governance' im März 2015 nicht. [3] Sie berichtet stattdessen, in 'Fukushima' hätten vielfältige Aktivitäten zum "Wiederaufbau der Eßkultur" begonnen, schwärmt von der neuen, in Zusammenarbeit mit der landwirtschaftlichen Hochschule Soma entwickelten Reissorte 'Somawiederaufbau-Reis', trauert mit einem Gastwirt, daß die Zutaten für ein traditionelles Muschelgericht nun aus Hokkaido "importiert" werden müßten, so daß der "Geschmack von Soma" verloren gegangen sei, beklagt das Verschwinden von Mahlzeiten in der Familie, wo sich "mehrere Generationen gut gelaunt um den Eßtisch versammeln". Innerhalb von Familien komme es zu Streitigkeiten, ob man die lokalen Produkte essen oder den Kindern geben könne.

Bei der Veranstaltung am 3. Februar 2015 in Ryozenmachi sei es um die Frage gegangen, ob nicht getrennte Grenzwerte für lokale Spezialitäten, die man selbst verzehre, und in Verkehr gebrachte Produkte, die ein anderer essen werde, sinnvoll wären. Angebautes Gemüse, das den Grenzwert von 100 Bq/kg erreiche, gebe es dank der Zeolit-Düngung und der Dekontaminationsmaßnahmen praktisch nicht mehr.

Mit den für die saisonalen Gerichte erforderlichen Wildkräutern und Waldtieren sehe das anders aus. Aber gerade diese "Küche aus den Bergen" sei Teil der regionalen Kultur, ein Verzehrsverbot daher ein ernster Eingriff in die Identität. Natürlich sei es wichtig, sich vor Radioaktivität zu schützen, aber bis zu Regulierungen dessen, was man selbst verzehrt, solle es doch nicht gehen, resümiert Frau Dr. Ochi die Mehrheitsmeinung unter ihren Zuhörern.

Einen Ausweg aus dem Dilemma weist Ochi zufolge das ALARA-Prinzip der Internationalen Strahlenschutzkommission: 'As low as reasonably achievable' bedeute ja gerade nicht 'As low as possible', man müsse vielmehr den Nutzen des Strahlenschutzes gegen den Schaden durch Strahlenschutzmaßnahmen abwägen.

Als Beispiel führt die Internistin Norwegen an, wo man nach Tschernobyl zum Schutz der Rentierhalter und ihrer Kultur einen Grenzwert von 6.000 Bq/kg für Renfleisch festgesetzt habe. Es sei auch nötig, so Ochi, daß Japan mit seinem entwickelten Warenverkehr einen strengeren Grenzwert als die Ukraine eingeführt habe. [4] Das Problem sei allerdings, daß "Dosismessungen" nur in "Fukushima" durchgeführt würden, und die Grenzwerte für den Handel und für den Selbstverzehr gleich hoch angesetzt würden. "Die Speisekultur von Fukushima und der Stolz darauf müssen bewahrt werden. Die Gegner eines Ausbalancierens von Verzehrsbeschränkungen müssen auch die Identitätsprobleme in die Abwägung einbeziehen, denke ich."

Frau Dr. Ochi skizziert auch die "Meßkultur", die in Fukushima durch die Aktivitäten von Eltern kleiner Kinder entstanden ist. Sie habe an einem ,Positiv-Café' teilgenommen, wo Mütter über die Meßmethode des ,überzähligen Tellers' berichteten. Von jeder Mahlzeit werde eine Portion mehr zubereitet, und die überzähligen Portionen gesammelt und nach einigen Tagen gemessen. Auf diese Weise wollten die Mütter die Strahlenbelastung der Kinder kontrollieren und minimieren. Allerdings verwendeten solche besorgten Mütter meist ohnehin Rohstoffe, die nicht aus lokaler Produktion stammten. Das Messen werde aus der Speisekultur Fukushimas nicht mehr wegzudenken sein.

Die 'Restauration der Speisekultur Fukushimas' beschränkt sich nicht auf Diskussionsveranstaltungen. Der Journalist Ishii Takaaki berichtet in einem Blog der Plattform Agora [5] von einem winterlichen Wildschweinessen, zu dem sich 10 Personen in Tokyo am 19. Dezember 2014 zusammengefunden hatten. "Möchten Sie nicht einen Wildschwein-Topf aus Fukushima probieren? Das Fleisch ist mit 800 Becquerel/Kilogramm belastet", hatte die Einladung per e-mail gelautet. Veranstalter war ein Herr (oder eine Frau) Sawada, der "in Fukushima über Strahlenrisiken aufklärt". Er habe auch Atomkraftgegner und Strahlenschutzaktivisten zu dem Essen eingeladen, aber keiner sei gekommen. Das Fleisch, berichtet Ishii, stammte von zwei Tieren - das eine mit 800 Bq/kg, das andere mit 40 Bq/kg belastet. Es habe geschmeckt und zu Betrachtungen über die Lebensmittelgrenzwerte Anlaß gegeben. Japan, so Ishii, habe seit 2012 die strengsten Grenzwerte der Welt: 10 Becquerel für Trinkwasser, 100 Becquerel für Lebensmittel, 50 Becquerel für Babynahrung. [4] Der "Codex" der WHO setze den Grenzwert bei 1.000 Becquerel, die EU und die USA folgten dem im allgemeinen - zwischen 100 und 1.000 gebe es hinsichtlich der ohnehin sehr geringen gesundheitlichen Folgen keine großen Unterschiede, behauptet der Journalist. Setze man strengere Grenzwerte, schädige man die Lebensmittelerzeuger. Auch in Japan hätten die zuständigen Gremien keine Notwendigkeit für strengere Grenzwerte gesehen, die damalige Gesundheitsministerin habe diese Werte aufgrund des Primats der Politik und entsprechend den Wünschen der Gegner ohne wissenschaftliche Fundierung so festgesetzt.

Besorgt hatten das Wildschweinfleisch die Herren Takano Kinsuke und Hangai Terumi - letzterer Mitveranstalter der oben besprochenen Podiumsdiskussion. Nach dem Unfall von 2011 hätten sich die beiden Kenntnisse angeeignet, sich Meßgeräte gekauft und Erde und Lebensmittel gemessen. Es gebe in Fukushima viele, die mit Radioaktivität nichts zu tun haben wollten, sie aber wollten die Fakten wissen, berichteten beide dem Journalisten. Die Unsicherheit in der Bevölkerung sei so groß, weil es an Kommunikation zwischen Behörden und Bevölkerung mangele, da sei er als "Vermittler zwischen beiden Seiten" notwendig, bemerkte Hangai.

In Zusammenarbeit mit Professor Oka Toshihiro vermittle er den Menschen das Konzept des Verlusts an Lebenszeit. Über den Zusammenhang vieler Ernährungs- und Verhaltensweisen mit der Entstehung von Krebs oder anderen Gesundheitsschäden gebe es eine umfangreiche Forschung, und mit Hilfe dieses Konzeptes könne man zeigen, wieviel an Lebenszeit verloren gehe, wenn man sich einmal so oder so verhalten habe. Natürlich sei das Konzept voller Zahlen, und das Ergebnis variiere, je nachdem wie man die Hypothesen setze, aber er habe in vielen Vorträgen gute Erfahrungen damit gemacht und die Aufmerksamkeit des Publikums gewonnen. Wie Hangai weiter erzählt, sei durch seine Vorträge auch UNSCEAR auf den Ansatz aufmerksam geworden und habe Forschungen zur Anwendung dieses Konzepts zur Erläuterung von Strahlenrisiken begonnen.

Das - trotz Überschreitung des Grenzwertes in Verkehr gebrachte und verzehrte - Wildschweinfleisch beispielsweise würde für jeden der 10 Gäste eine Belastung von 80 Becquerel bedeuten. Auch bei hoher Abschätzung des Risikos bedeute dies für einen Zwanzigjährigen einen Verlust an Lebenszeit von 30 Sekunden, für einen 50jährigen von 5 Sekunden - eine Tasse Kaffee bedeute wegen der Erhöhung des Blasenkrebsrisikos einen Lebenszeitverlust von 20 Sekunden, eine Zigarette verkürze das Leben um 8 Minuten. Damit verglichen sei das Risiko des soeben verzehrten Wildschweins doch gering. Übrigens gebe es bei sehr vielen Lebensmitteln ein Gesundheitsrisiko, belehrt Hangai seinen Zuhörer.

Er selbst setze sich für einen "Verzehrsgrenzwert" ein, damit die Bevölkerung nicht länger in der Wahl der Lebensmittel durch Staat oder lokale Verwaltungen eingeschränkt werde, sondern autonom entscheiden könne. Der Grenzwert für in den Handel gelangende Lebensmittel sollte aber "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" nicht gelockert werden, denn man wolle keinen Streit mit den Gegnern.

Der Journalist Ishii führt den Gedanken dennoch weiter: "Was die Wahl der Lebensmittel einschränkt, ist konkret die zu strenge Regulierung des Handels mit Lebensmitteln auf der Grundlage des Gesetzes zur Lebensmittelhygiene, die die Minshuto-Regierung seinerzeit festlegte. Aufgrund von Vorurteilen und fixen Ideen vertritt ein Teil der Menschen die irrige Meinung: 'die Lebensmittel von Fukushima sind gefährlich'. Selbst wenn das aus der Haltung, die Kinder vor Radioaktivität schützen zu wollen, entstanden ist, werden damit die Risiken doch gewaltig übertrieben und die Freiheit der Wahl behindert. Falls jemand keine Nahrungsmittel aus Fukushima essen möchte, bitte schön.

Die Behauptung, die Lebensmittel aus Fukushima seien gefährlich, gegenüber der Gesellschaft breit auszuwalzen und aufgrund übertriebener Risiken unnötige Regulierungen durchzuführen - das sind gefährliche Handlungen, die anderen Menschen falsche Informationen und irrige Wertvorstellungen aufzwingen. (...) Wir sollten nicht das 'Fukushima' in unseren Köpfen, sondern die jetzige Realität betrachten und auf dieser Grundlage das Strahlenrisiko für Fukushima und für Japan bedenken. Die Nahrung ist dafür wohl ein guter Anfang. Die aus Fukushima im Handel befindlichen Produkte halten die Sicherheitsstandards für Radioaktivität ein. Man kann ohne Bedenken seinen Gaumen daran erfreuen und auf diese Weise den Wiederaufbau Fukushimas unterstützen. (...) Unnötige Bedenken werden angesichts des Wohlgeschmacks der Lebensmittel aus Fukushima ohnehin schnell verfliegen."


Kommentar

Die Katastrophe im Kraftwerk Fukushima Dai'ichi des Betreibers Tepco im März 2011 hat weite Landstriche im Nordosten Japans, aber nicht nur dort, mit radioaktivem Fallout belastet. Dadurch sind gesundheitliche Schäden für Menschen und andere Lebewesen, einschließlich Pflanzen, Insekten und Bakterien entstanden.

Für alle, die von der Bewirtschaftung der Natur leben - Bauern, Fischer, Waldnutzer, aber auch Betreiber touristischer Einrichtungen - kommt die Beschädigung ihrer wirtschaftlichen Existenz hinzu, denn sie konnten zeitweise oder können auf Dauer mit dem Verkauf ihrer Produkte kein Einkommen mehr erzielen.

Erkennbar, und damit bis zum gewissen Grade auch vorhersehbar, werden die gesundheitlichen Schäden allerdings erst durch statistische Betrachtung größerer Mengen von Individuen (in erster Linie Menschen). Die Anzahl von Erkrankungen und Todesfällen, die man auf diese Weise im Rückblick als strahlenbedingt erkennt, wird als 'Risiko' bezeichnet, denn es ist auch für die Zukunft davon auszugehen, daß bei gleicher Belastung innerhalb einer gleich großen Gruppe dieselbe Anzahl an Menschen erkrankt oder stirbt. Das Risiko wird üblicherweise als Zahl angegeben.

Die Regeln der Statistik verbieten es, diese Zahl auf das einzelne Individuum in der betrachteten Gruppe herunterzurechnen. Als Individuum in einer Gruppe von beispielsweise 100.000 strahlenexponierten Personen, von denen 5 später an einer strahlenbedingten Erkrankung sterben werden, habe ich nicht ein Risiko von 5:100.000, sondern ich werde zu den erkrankten 5 Individuen gehören oder nicht. Die Risikokennzahl kann, weil sie eben eine Zahl ist, auch mit anderen Risikokennzahlen verglichen werden. Ein derartiger Vergleich sagt aber nichts über die Gleichwertigkeit der zugrundeliegenden Risiken. "So viel Strahlenbelastung wie ein einfacher Flug von Tokyo nach New York", "nicht mehr als zwei Röntgenthorax-Aufnahmen" sind gerne gebrauchte Vergleiche, um die Risiken durch die Strahlenbelastung nach dem Unfall gewissermaßen alltäglicher zu machen. Tatsächlich handelt es sich aber um zusätzliche Risiken. (Derartige verharmlosende Vergleiche sind natürlich auch in Deutschland und anderen Ländern die Regel, zum Beispiel wenn es um die Rechtfertigung medizinischer Diagnostik geht.)

Einen "Verlust an Lebenserwartung pro Mahlzeit" angeben zu wollen, wie es Oka und Hangai jetzt in Japan offenbar propagieren, ist purer Unsinn und mißachtet die logischen Grundlagen der Statistik und den stochastischen Charakter der Strahlenschäden. Den Vergleich zwischen dem 'Risiko' einer Pilzmahlzeit aus belasteten Pilzen und dem einer Autofahrt von 10 Kilometern kann man nur als Desinformation und Taschenspielertrick bezeichnen, denn beide Risiken sind ganz unterschiedlicher Natur und nur durch die Risiko-Kennziffern, die die beiden Herren weiß Gott wie ermittelt haben, miteinander verbunden. Während die Autofahrt mit einem Unfall und Tod oder Verletzung enden kann oder auch nicht, was von vielen Faktoren, darunter auch vom eigenen und dem Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer abhängt, haben, wie man weiß, auch sehr geringe Mengen an ionisierender Strahlung das Potenzial, Schäden zu verursachen. Der Verlust von Sekunden oder auch Minuten an Lebenserwartung ist keine angemessene Metapher für die 'Chance', auch durch den Verzehr von 'nur' 24 oder 80 Becquerel Cäsiumgesamtaktivität (und wieviel ungemessenem Strontium-90?) an Krebs oder einer anderen Krankheit zu erkranken. Eine Schwelle von unschädlicher Strahlenbelastung gibt es nicht.

Jeder Grenzwert für Strahlenbelastung - ob nun 1 Millisievert/Jahr aus dem Normalbetrieb kerntechnischer Anlagen, ob nun 20 Millisievert/Jahr wie jetzt in den verstrahlten Gebieten Japans, ob 500 Becquerel/Kilogramm Cäsiumgesamtaktivität für die Strahlenbelastung durch Nahrungsaufnahme (Japan 2011) oder 100 Becquerel/Kilogramm (Japan seit 2012) - bedeutet: es werden eine größere oder geringere Anzahl an zusätzlichen Erkrankungen und Todesfälle durch die Strahlenbelastung in Kauf genommen. Anders ausgedrückt: der strahlenexponierten Bevölkerung zugemutet.

Die Entscheidung, wieviel Todesfälle und Erkrankungen hinzunehmen sind, ist eine politische, keine wissenschaftliche Entscheidung. Sie sollte von den potentiell Betroffenen und nicht von der interessierten Industrie oder Regierungs- und Verwaltungsstellen getroffen werden. Zur Zeit ist das aber anders. Außerdem sind alle internationalen Gremien, die Empfehlungen für solche Entscheidungen geben, von den Interessen der Strahlenverursacher und -anwender dominiert.

Grenzwerte regulieren aber nicht nur die zu erwartenden Gesundheitsschäden bzw. deren Minimierung. Sie haben Einfluß auf die wirtschaftliche Produktion und den Warenverkehr, und stellen eine mögliche Grundlage für Entschädigungsforderungen dar. Zudem muß ihre Einhaltung kontrolliert werden, nicht nur um Gesundheitsschäden im vorhersagbaren Maß und möglichst gering zu halten, sondern auch, um das Verbrauchervertrauen - unverzichtbar in Gesellschaften, wo man oft nicht mehr sieht und nicht mehr weiß, wie Lebensmittel erzeugt werden - wieder herzustellen. Als Konsument von Lebensmitteln muß ich mich darauf verlassen können, daß sie zumindest nicht über den Grenzwerten hinaus radioaktiv kontaminiert sind - egal wo und wie ich sie zu mir nehme, ob im Supermarkt, in der Schulkantine, als Bestandteil von Fertignahrung oder im Restaurant in Ryozen-machi. (Daß wir die geltenden Grenzwerte immer noch für zu hoch halten, sei hier allerdings angemerkt).

Es gibt bäuerliche Betriebe und Produktionsgenossenschaften, Schulkantinen, Kindergärten und Restaurants in den verstrahlten Gebieten, die von sich aus niedrigere Grenzwerte für ihre Erzeugnisse bzw. Mahlzeiten festgesetzt haben und einhalten. Das scheint keine unüberwindlichen Probleme zu machen, und solche Projekte verdienen Unterstützung.

Ursache für entstandene, entstehende und künftig zu erwartende Schäden ist die radioaktive Kontamination.



1. http://drurashima.jp/fukushima/index2.html

2. Josei Jishin Nr. 3, 2015, S. 39-41. Der Artikel der freien Autorin Wada Shigeko ist wesentlich durchdachter als die Veranstaltung, über die sie berichtet.

3. MRIC Vol 039, 2. 3. 2015,
http://jbpress.ismedia.jp/articles//42929?page=8

4. Hier irren die Experten. In Japan gilt bisher noch ein Grenzwert für die Nahrungsmittelbelastung mit Radiocäsium in Höhe von generell 100 Bq/kg. In der Ukraine beträgt dieser Wert für Fleisch zwar 200 und für Fisch 150 sowie für Wildbeeren und Pilze 500 Bq/kg, für Gemüse und Babynahrung (40 Bq/kg), Kartoffeln (60 Bq/kg), Obst (70 Bq/kg), Getreide (50 Bq/kg), Brot und Backwaren (20 Bq/kg) liegt er jedoch deutlich niedriger. Diese Werte liegen auch deutlich niedriger als die in der Europäischen Union geltenden: 600 Bq/kg Radiocäsium allgemein und 370 Bq/kg für Milch, Milchprodukte und Babynahrung.

5. Agora, genron platform, 22.12.2014, "Ich habe hoch belastetes Wildschwein aus der Präfektur Fukushima probiert" von Ishii Taka'aki.
http://agoraweb.jp/archives/1625398.html


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_15_680-681_S04-07.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Mai 2015, Seite 4-7
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2015

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