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MEER/009: Wie gut ist "gut"? - Rangeln um Regeln für den Schutz der Meere (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2010


Wie gut ist "gut"?
Ozeanaktivisten und ängstliche Bremser rangeln um Regeln für den Schutz der Meere

Von Stephan Lutter


Die EU-Meeresschutzstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) schreibt einen "guten Umweltzustand" für die europäischen Gewässer ab 2020 vor. Doch was das genau bedeutet, daran scheiden sich die Geister. Umweltverbände forderten verbindliche und anspruchsvolle Beschlüsse, doch die Gegenspieler wollen die Meere weiter als Müllkippen und Industriepark nutzen.

Seit im Juli 2008 die neue Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL, Richtlinie 2008/56/EG) der EU in Kraft getreten ist, schwappt wie eine salzige Woge die quälende Frage durch Amtsstuben, interministerielle und internationale Arbeitsgruppen, was unter einem "guten Umweltzustand" (GUZ) zu verstehen ist. Die Richtlinie schreibt den EU-Mitgliedstaaten nämlich vor, bis 2020 Maßnahmen umzusetzen, die geeignet sind, den GUZ in ihren Meeresgewässern zu erreichen. Die Richtlinie enthält dazu elf sogenannte Deskriptoren (siehe Kasten). Um die nähere Auslegung mittels Indikatoren und Attributen bemühte sich schon mehr als einem Jahr ein ganzer Schwarm von Fachleuten. Mitgliedstaaten und EU-Kommission mussten bis zum 15. Juli 2010 auf solche Kriterien einigen. In dem sogenannten Komitologieverfahren redete auch das Europäische Parlament noch ein Wörtchen mit. Nunmehr sind die Mitgliedstaaten gehalten, bis 2012 zu ermitteln, wie weit ihre Gewässer vom GUZ entfernt sind.


Kriterienkatalog lässt Spielräume

Zwar sind die am 2. September des Jahres von der Kommission veröffentlichten Kriterien ein Ergebnis wissenschaftlicher Arbeitsgruppen (task groups) unter der Ägide des Internationalen Rates für Meeresforschung und des Gemeinsamen Forschungszentrums der EU. Doch in den Arbeitsgruppen der Kommission wurde an den unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten zu diesen Vorschlägen erneut deutlich, wer den Meeresschutz mehr oder weniger ernst nimmt und wer Kosten für Schutzmaßnahmen einsparen will oder eine bestimmte Klientel bedient. Es gab sogar Stimmen, die den heutigen Zustand der Meere in einigen Punkten für gut befinden. Das Hickhack um den GUZ war dabei kein Streit um Neptuns Bart. Hier wurde für die nächsten zehn Jahre vorgezeichnet, wie ambitioniert Programme zum Schutz von Nordsee, Atlantik, Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer aufgelegt und umgesetzt werden müssen - bis hin zu möglichen Beschwerdeverfahren und Klagen gegen faule Mitgliedstaaten vor dem Gerichtshof der EU.


Umweltschützer vermissen Verbindlichkeit und strikte Ziele

Die Naturschutzverbände versuchten in diesem Prozess den Messpegel möglichst hoch legen. Sie wollten dafür sorgen, dass anspruchsvolle Beschlüsse, Maßnahmen und Standards, wie sie bereits von der Nordseeschutzkonferenz und regionalen Meeresschutzabkommen wie OSPAR erarbeitet wurden, in verbindliches und strafbewehrtes EU-Recht übergehen. Überdies muss die MSRL mit Vorschriften anderer europäischer Regelwerke wie der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) oder der Chemikalienverordnung REACH vernetzt werden. Gute Formulierungen für die GUZ-Deskriptoren 1, 3, 4 und 6 können als ökologischer Hebel für die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) der EU dienen, die ebenfalls bis 2012 geplant ist.

Der Verlauf der Gezeitenlinie zwischen Verbänden und Behörden, zwischen aktiven Befürwortern und ängstlichen Bremsern des Meeresschutzes bei den Mitgliedstaaten und ihrer Wirtschaft soll an einigen Fallbeispielen verdeutlicht werden.


Der Seeteufel steckt im Detail

Das Kind war schon mit Verabschiedung der MSRL ins Meer gefallen: GUZ-Deskriptor 8 für Schadstoffe stellt das Vorsorge-, Minimierungs- und Emissionsprinzip gründlich auf den Kopf und fällt hinter internationale Abkommen aus den 1990er-Jahren zurück, die ein Ende des Eintrags gefährlicher Stoffe ins Meer bis 2020 anstrebten. Stattdessen gibt er Wind auf die Segel aller Staaten und Industrien, die schon immer beim Immissionsprinzip (Auffüllprinzip) bleiben wollten und so viel Chemie einleiten möchten, dass die Flundern gerade noch keine Pickel bekommen.

Die GUZ-Deskriptoren zu biologischer Vielfalt und Lebensräumen (1.), Fischbeständen (3.), Nahrungsnetzen (4.) und Meeresboden (6.) können nur gesamtheitlich und in ihren Wechselbeziehungen behandelt werden. Dazu müssten aber auch die großen EU-Fischereinationen ihr Schubladendenken aufgeben und kommerzielle Speisefischbestände wie Kabeljau oder Thunfisch als Teil des Ökosystems statt nur als Wirtschaftsgut betrachten.

Im Gegensatz zum "günstigen Erhaltungszustand" in der FFH-Richtlinie und dem "guten ökologischen Zustand" der WRRL kennt die MSRL nur "gut" oder "schlecht". Das erschwert es, die Richtung zu beschreiben, in die sich ein Meeresökosystem oder seine Teile unter diversen menschlichen Eingriffen oder als Folge von Schutzmaßnahmen bewegen.

Vielen Kriterien für den GUZ mangelt es an klaren strategischen Zielen, die die gewünschte Richtung der Veränderungen im Ökosystem erkennen lassen. Stattdessen hat die Festschreibung eines gewünschten Zustands Vorrang. Kaum beeinflusste Meeresgebiete mit ursprünglichem "sehr guten" Zustand sind zwar rar geworden, können in küstenfernen Zonen und Teilen der Tiefsee aber noch eingegrenzt werden. Sie müssen unbedingt als Referenzgebiete dienen.

Ebenso sollten von vermeidbaren menschlichen Einwirkungen freie Referenzgebiete Referenzgebiete in Randmeeren wie Nord- und Ostsee eingerichtet werden, um den Weg zum GUZ sichtbar zu machen. Besonders augenfällig ist diese Notwendigkeit bei Deskriptor 6 zur Integrität des Meeresbodens: In der Nordsee gibt es kaum noch Weichböden, die nicht von Bodenschleppnetzen und Baumkurren durchpflügt wurden. Bestenfalls mit lückenhaften historischen Bezugsdaten kann der natürliche Zustand der Lebensgemeinschaften dort beschrieben werden kann. Der von den Verbänden vorgetragenen Idee von Referenzgebieten widersetzt sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten bisher notorisch, obwohl sogar die Richtlinie selbst Meeresschutzgebiete als wichtiges Instrument hervorhebt.


Ökologische Prozesse und Schlüsselfunktionen aufwerten

Die verabschiedeten Kriterien strotzen von statischen Zustandsgrößen. Wichtiger wäre es jedoch, für die GUZ-Deskriptoren 1 und 4 komplexe Prozesse zu definieren, die auf eine Verschlechterung oder Verbesserung in der jeweiligen Meeresregion hinweisen. So gilt zum Beispiel die Dynamik hin zu Kleinfischbeständen und Vermehrung von Quallen in Meeren gemäßigter Breiten als Anzeichen für massiven Fischereidruck die Nahrungskette hinunter, oft unterstützt durch übermäßigen Nährstoffeintrag und gegebenenfalls Klimawandel.

Während sich nachweislich zwei Drittel unserer Fischbestände außerhalb "sicherer biologischer Grenzen" befinden, wird wie beim jährlichen Fangquotenpoker bereits darum gefeilscht, wie viele Fischbestände prozentual in einer Meeresregion gesund sein müssen - nicht etwa alle, wie von den Verbänden gefordert -, damit der GUZ nach Deskriptor 3 als erreicht gilt. Ob es schließlich in der EU bald weniger traumatisierte Delfine und mehr Schweinswale ohne Gehörschäden geben wird, hängt davon ab, ob sich bei der Anwendung von GUZ-Deskriptor 11 zu Energie und Unterwasserlärm überholtes Grenzwertdenken durchsetzt - oder ob kumulative Wirkungen berücksichtigt werden, etwa durch Erstellung von Lärmkarten nach dem Vorbild von Großstädten, in denen alle Lärmquellen erfasst sind: aus Schifffahrt, Offshoreindustrie, seismischen Tests und militärischen Sonaren.


Testfall Meeresschutzgebiete und Meeresraumplanung

Wie es um den Schutz der europäischen Meeren tatsächlich steht, lässt sich am besten in der Fläche ablesen. Allein im Nordostatlantik stehen nur etwa 1% der Meeresfläche unter Naturschutz, davon entfällt der Großteil auf die Küstenzone und die Hoheitsgewässer. In den offshore-Gebieten oder gar der Tiefsee und Hohen See (internationale Gewässer) bisher weitgehend Fehlanzeige!

Nur wenige EU-Staaten, z.B. Deutschland, Schweden, Vereinigtes Königreich, Niederlande, haben bisher integrierte Meeresraumpläne vorgelegt, in denen Nutzungs- und Schutzprioritäten in ihrer gesamten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) bis zur 200-Seemeilengrenze festgelegt werden. Und selbst in diesen Fällen hat der Flächenschutz oft noch das Nachsehen hinter den Interessen der Offshore-Industrie, Sand- und Kiesgewinnung, Fischerei und dem Raumbedarf für Schifffahrtsstraßen. Zwar gibt es Länder wie Deutschland, die in vorbildlicher Weise rd. 30% ihrer Meeresfläche in Nord- und Ostsee schon seit Jahren als marine Natura-2000-Gebiete ausgewiesen haben. Dennoch ist darin bis heute noch keiner wirtschaftlichen Nutzung Einhalt geboten. Fischerei und sogar Sand- und Kiesgewinnung sowie seismische Erkundungen für Gasbohrungen werden ungehindert fortgesetzt. Der WWF hält dies für nicht vertretbar und hat daher zusammen mit NABU und BUND in Brüssel Beschwerde eingelegt.

In den Wirtschaftszonen anderer EU-Staaten geht der Wettlauf zwischen Schutz und Nutzung ungehindert weiter. Der Aufforderung der Kommission, bis Ende 2008 eine vollständige Meldung mariner Natura-2000-Gebiete vorzulegen, kamen sie nicht nach. Bei den so genannten Biogeografischen Seminaren für den Atlantik, die Ostsee, das Mittelmeer und das Schwarze Meer, die die Kommission von März 2008 bis Juni 2009 veranstaltete, legten die Umweltverbände umfassende Schattenlisten potenzieller Schutzgebiete vor, damit wie vorgeschrieben zwischen 20 und 60% der in den Anlagen der FFH-Richtlinie aufgeführten Arten und Lebensräume effektiv geschützt werden. Ein Beispiel ist der betreffende Bericht des WWF für die Nordsee (www.wwf.de/northseareport). Als Ergebnis der Seminare wurden die Schutzgebietsmeldungen der meisten Mitgliedsstaaten von der Kommission als unzureichend eingestuft, sie müssen nun nachmelden. Der WWF hofft, dass andernfalls bald blaue Briefe aus Brüssel eintreffen und Sanktionen bis hin zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zum Schutz der Meere ähnlich rigoros wie bei entsprechenden früheren Versäumnissen an Land angewandt werden.

Doch auch damit wäre noch kein effektiver Schutz der Meeresnatur gewährleistet. Managementpläne für die neuen Meeresschutzgebiete müssen erst binnen einer Frist von sechs Jahren aufgelegt werden. Als besonders schwierig gestaltet sich dabei die Regulierung der Fischerei: Zum einen sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, einen vorteilhaften Schutzstatus in den ausgewiesenen Gebieten herzustellen, zum anderen sind ihnen durch die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) der EU die Hände gebunden. Nur in Einzelfällen haben Vorschläge zur Einschränkung der Fischerei in marinen Natura-2000-Gebieten bisher den Rat der EU-Fischereiminister passiert, nämlich dann, wenn der zu erwartende Schaden an Tiefseeriffen und Kaltwasserkorallen durch schwere Bodenschleppnetze ganz offensichtlich erschien. Komplizierter wird es schon, wenn eine ganze Reihe von Schutzgebieten mit verschiedensten Schutzgütern vor dem Fischereieinfluss bewahrt werden soll. Ein solcher Antrag an die EU-Kommission wird erstmals von Deutschland zu erwarten sein, gefolgt von den Niederlanden. Man darf auf diesen Test gespannt sein.

Der Autor ist beim WWF in Hamburg für internationale Meerespolitik und Meeresschutz zuständig


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Der "gute Umweltzustand" in der Meeresstrategierichtlinie

die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der EU enthält elf qualitative Deskriptoren zur Festlegung des "guten Umweltzustandes" (Art. 3 Nr. 5, Art. 9 Abs. 1 und 3 sowie Art. 24):

1. Die biologische Vielfalt wird erhalten. Qualität und Vorkommen von Lebensräumen sowie Verbreitung und Häufigkeit der Arten entsprechenden vorherrschenden physiografischen, geografischen und klimatischen Bedingungen.

2. Nicht heimische Arten, die sich durch menschliche Tätigkeit ansiedelten, kommen in für die Ökosysteme nicht abträglichem Umfang vor.

3. Alle kommerziell befischten Fischund Schalentierbestände liegen innerhalb sicherer biologischer Grenzen, Alters- und Größenverteilung zeugen von guter Gesundheit des Bestandes.

4. Alle bekannten Bestandteile der Nahrungsnetze weisen eine normale Häufigkeit und Vielfalt auf. Ihr Niveau sichert den langfristigen Bestand der Art und ihre volle Reproduktionskapazität.

5. Die vom Menschen verursachte Eutrophierung ist auf ein Minimum reduziert. Das betrifft insbeson-dere deren negative Auswirkungen wie Verlust der biologischen Vielfalt, Verschlechterung des Zustands der Ökosysteme, schädliche Algenblüten und Sauerstoffmangel am Meeresgrund.

6. Der Meeresgrund ist in einem Zustand, der Struktur und Funktionen der Ökosysteme sichert und insbesondere auf benthische Ökosysteme keine nachteiligen Wirkungen hat.

7. Dauerhafte Veränderungen der hydrografischen Bedingungen haben keine nachteiligen Auswirkungen auf die Meeresökosysteme.

8. Aus den Konzentrationen an Schadstoffen ergibt sich keine Verschmutzungswirkung.

9. Schadstoffe in zum Verzehr bestimmtem Fisch und anderen Meeresfrüchten überschreiten nicht die durch EU-Recht oder andere einschlägige Regelungen festgelegten Konzentrationen.

10. Eigenschaften und Mengen der Abfälle im Meer haben keine schädlichen Auswirkungen auf die Küsten- und Meeresumwelt.

11. Die Einleitung von Energie und Unterwasserlärm wirkt sich nicht nachteilig auf die Meeresumwelt aus.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2010, S. 15-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2010