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AGRARINDUSTRIE/065: Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung - Eine Systemfrage (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2012

Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung - Eine Systemfrage

von Kathrin Birkel



Der aktuell diskutierte Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung ist vordergründig ein Verbraucher- und gesundheitspolitisches Problem. Doch wer den Antibiotikaeinsatz restriktiv reguliert, lockert eine der zentralen Schrauben des labilen Systems der Intensivtierhaltung. Kampagnen zu Antibiotika-Resistenzen können ein Weg sein, das überhitzte Wachstum in der deutschen Tierproduktion zu beenden.

An einem nasskalten Dezembertag im letzen Jahr betrat ich einen Discounter in Hamburg. Wie ein normaler Verbraucher lief ich durch die Gänge zur Kühltheke, wo ich schnell fand, wonach ich suchte: zwei Packungen frische Hähnchenschenkel. Das »Qualitätsfleisch aus Deutschland« war ein echtes Schnäppchen. Die insgesamt 1.200 Gramm schlugen mit 5,78 Euro zu Buche. 5,78 für sechs stattliche Hühnchenteile. Billig ist Teil des Systems. Aber ist billig auch gleich gut und günstig?

Vier Wochen später erlangten die Hähnchenschenkel nationale Berühmtheit. Der BUND hatte sie, zusammen mit 19 weiteren Proben; auf MRSA (Methicillin-resistente Staphylococcus aureus) und auf so genannte BESBL (Extended Spectrum Beta-Laktamasen)-produzierende Bakterien untersuchen lassen. Bei beiden Keimarten handelt es sich um Bakterien, die gegen humanmedizinisch sehr wichtige Antibiotikaklassen resistent sind. Falls die Keime tatsächlich Infektionen auslösen - zum Beispiel Wundinfektionen, Harnwegsinfektionen oder Blutvergiftungen - kann den Patienten mit nur noch wenigen Antibiotika geholfen werden.

In elf der zwanzig Frischfleisch-Proben wurden wir fündig. Diese Nachricht beschäftigte die Medien (»Das Huhn ist tot, die Keime leben noch« war nur eine der vielen schönen Bildunterschriften in diesen Tagen); sie erhitzte die Gemüter auf der Grünen Woche, die kurze Zeit später stattfand; sie motivierte Menschen, sich an der zweiten »Wir haben es satt«-Demo zu beteiligen, der sich letztendlich circa 23.000 Menschen anschlossen; und sie bewegte die zuständige Ministerin, Ilse Aigner, dazu, entschiedene Maßnahmen im Bereich des Antibiotikaeinsatzes anzukündigen.

Für einige Menschen war jedoch nicht ersichtlich, warum sich der BUND überhaupt mit diesem Thema auseinandergesetzt und es zur Kampagne gemacht hatte. War nicht der BUND eine Umweltorganisation, Antibiotikaeinsatz aber ein gesundheits-, vielleicht auch ein verbraucherpolitisches Thema? Also etwas für die Verbraucherzentralen oder Foodwatch?


Tierproduktion in Deutschland - mehr, größer, intensiver, konzentrierter

In den letzten zehn Jahren war die Nutztierhaltung in Deutschland gekennzeichnet durch einen drastischen Anstieg der Produktion, eine weitere Intensivierung der Haltung und eine Konzentration der Betreiber. Um die Situation am Beispiel Geflügel einmal in Zahlen darzustellen: Von 2003 bis 2010 stieg der Selbstversorgungsgrad in Deutschland von 74 Prozent auf 101 Prozent, Tendenz steigend. Immer stärker wird auf den Export gesetzt. So schraubte sich die deutsche Ausfuhr von Lebendtieren beim Geflügel im Jahr 2010 auf 264 Millionen (ein Anstieg um 98 Prozent im Vergleich zu 2001) und die von Geflügelfleisch auf satte 393.000 Tonnen (ein Zuwachs von sogar 154 Prozent). 99 Prozent der in Deutschland verkauften Masthähnchen entstammen der Intensivtierhaltung, sagt die Geflügelwirtschaft. Für ihre Körpermasse, die innerhalb von vier Wochen von 60 Gramm auf rund 1600‍ ‍Gramm hochschnellt, steht ihnen die Fläche eines Papiertaschentuchs zur Verfügung. Die Tiere teilen sich auf immer weniger Betriebe auf: Im Zeitraum 2003 bis 2010 schrumpfte die Zahl der Masthuhnbetriebe von 11.580 um über die Hälfte auf 4532. Während die Anzahl kleinerer Bestände im letzten Jahrzehnt beträchtlich sank, stieg die Zahl der Bestände mit über 50.000 Hühnern von 250 (1999/2000) auf 384 (2010).

Die Konsequenzen, die sich aus diesen Kennzahlen ergeben, sind bekannt: Die wachsenden Flächen, die die industrielle Tiermast hierzulande in den Ländern des Südens für die Erzeugung des Eiweißfutters in Beschlag nimmt; die ökologischen Folgen, die durch die Produktion in Deutschland entstehen (zum Beispiel durch Überdüngung); die soziale Brutalität der Dumpingexporte von Geflügelteilen, die den hiesigen Verbrauchern nicht angeboten werden. Die ultrageringe landwirtschaftliche Wertschöpfung und der daraus resultierende Ausschluss bäuerlicher, nicht-industrieller Betriebe aus der Tiererzeugung in Deutschland. Und schließlich: Das unvorstellbare und doch offensichtliche Leid der Tiere, die die Produktionszyklen durchlaufen müssen.


Intensivtierhaltung ohne Antibiotikaeinsatz nicht machbar

Offensichtlich ist aber auch, dass das System der Nutztierhaltung in Deutschland mittlerweile derartig überhitzt ist, dass nur noch wenige Schrauben den Kollaps verhindern. Der Einsatz von Antibiotika ist eine dieser Schrauben. Ohne Antibiotika und ihren strukturellen Einsatz wäre Intensivtierhaltung so nicht möglich. Zu gestresst und anfällig sind die Tiere, als dass sie ohne Antibiotikaeinsatz bis zur Schlachtung durchhalten könnten. Zu dicht stehen sie aufeinander, als dass sich Keime nicht in Nullkommanix verbreiteten.

Die im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Studien aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zeigen, wie wichtig Antibiotikaeinsatz für die Intensivtierhaltung ist. Laut der Studie aus Niedersachsen wird dort beispielsweise bei 82 Prozent der Masthuhnbetriebe, 77 Prozent der Mastschweinbetriebe und 100 Prozent der Mastkalbbetriebe Antibiotika eingesetzt. Bei manchen Putenbetrieben lag die durchschnittliche Therapiehäufigkeit bei satten 81‍ ‍Einzelgaben pro Tier.

Gelingt es, den Antibiotikaeinsatz einzuschränken, sind die Akteure aus der Tierindustrie gezwungen, etwas am System zu ändern. Ziel des BUND sind in erster Linie bessere Haltungsstandards für die Tiere. Hierdurch würde zum einen das Leid der Tiere gemindert. Notwendig würden Haltungsformen, die in kleineren Beständen und mit kleinerer Besatzdichte arbeiten. Haltungsformen, in denen die Würde und Gesundheit der Tiere gewahrt bleibt.

Export- und Profitmaximierung müssten sich diesen Gegebenheiten unterordnen, da eine auf Antibiotikaeinsatz gestützte Turboproduktion eben nicht mehr möglich wäre. Eine tiergerechtere Produktion hätte einen angemessenen Preis zur Folge. Hierdurch würde die überhitzte Nachfrage hierzulande sinken, und auf den Exportmärkten könnte Deutschland sich nicht mehr am Kampf um das größte Wachstum im Billigsegment beteiligen. Gleichzeitig gilt es, die Nachfrage nach Fleisch aus Ökolandbau und alternativen Haltungen über die bislang beschämende Ein-Prozent-Hürde beim Marktanteil zu steigern. Wenn auf diesem Wege der bisherige Trend umgekehrt werden könnte - statt Wachstum in der industriellen Tierhaltung, Senkung der Dichte und des Gesamtumfangs - kämen auch landwirtschaftliche Umweltziele endlich wieder in Sichtweite.


Der »Antibiotikaskanda|« und die Folgen

Nach Jahren der politisch geförderten Exportfixierung der Fleischbranche erstaunt es nicht, dass die von Ilse Aigner angekündigten Maßnahmen zur Senkung des Antibiotikaeinsatzes vor allem Regelungen umfassen, die kosmetisch wirken und bisher die Haltungsbedingungen bisher unangetastet lassen. Stand der Vorschläge des BMELV ist derzeit: Der Antibiotikaeinsatz soll noch immer nicht zentral erfasst und ausgewertet werden. Es soll kein klares Senkungsziel geben. Und vor allem sollen die unakzeptablen Mindeststandards in der Intensivtierhaltung weiterbestehen dürfen, obwohl sie den Großeinsatz von Antibiotika erst notwendig machen. Das stößt nicht nur bei den einschlägigen NGOs auf Unverständnis. Auch die Länder sind sich einig, dass, neben direkten gesetzlichen Änderungen zum Antibiotikaeinsatz, eine »Neudefinition von Tierhaltung mit europaweit klaren und umfassenden Standards einer tiergerechten Haltung« unumgänglich ist.

Immerhin hat die immer lautere gesellschaftliche Diskussion zum Thema Intensivtierhaltung der Bundesregierung und den Ländern gleich mehrere Baustellen aufgedungen. Überarbeitet werden sollen das Arzneimittelgesetz, das Tierschutzgesetz und das Baurecht.

Jetzt kommt es ganz besonders auf den Einsatz der NGOs an, die Novellen engagiert und konzertiert voranzutreiben und die Verknüpfung zur GAP herzustellen. Der BUND hat dazu Argumentationsvorschläge in seiner Recherche »Subventionen für die industrielle Fleischerzeugung in Deutschland« vorgelegt, die noch im Rahmen der Kampagne »Meine Landwirtschaft« ergänzt werden können.

Die Diskussion über den Missbrauch von Antibiotika in der Intensivtierhaltung hat eine neue »Window of opportunity« geöffnet, gerade auch wegen der großen öffentlichen Aufmerksamkeit. Es gilt, diese Konzentration und den Druck weiter aufrecht zu erhalten, und die politische Sensibilität dafür zu nutzen, das System der Nutztierhaltung in Deutschland im besten Sinne nachhaltig zu verändern.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Agrarpolitik) beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
"Hühner vor dem Kanzleramt". Die Aktion wurde von der Kampagne "Meine Landwirtschaft" und Campact organisiert. Anlass war die BUND-Studie zu Antibiotikaresistenten Keimen im Hühnerfleisch.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2012, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2012