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WALD/651: Lebendige Wälder - Unser Wald muss wilder werden (BUNDmagazin)


BUNDmagazin - 3/2010
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland - BUND
Friends of the Earth Germany

TITELTHEMA
Lebendige Wälder

Von Severin Zillich


Werden und Vergehen: Zwischen diesen Polen spielt sich das Leben in seiner wunderbaren Vielfalt ab. Der dominierende Lebensraum unserer Breiten ist der Wald. Ihn finden wir in verschiedenster Gestalt, vom rauen Bergwald über die ausgedehnten Buchenwälder des Tieflandes bis zu den Auwäldern, in denen sich das Leben besonders üppig entfaltet. Viele heimische Waldtypen sind heute bedroht und bis auf kleine Reste verschwunden. Am bedrohtesten aber ist - unabhängig davon, welche natürlichen Einflüsse einen Wald an seinem Standort geprägt haben - der unversehrte Wald. Von einem wirklich wildwüchsigen Wald haben wir kaum eine Vorstellung. Wie auch? Es fehlt hierzulande an jeder Anschauung. Wir Deutschen und wir Mitteleuropäer haben da etwas gutzumachen. Der BUND will, dass sich größere Teile unseres Waldes wieder natürlich entwickeln können - um sein immenses Potenzial für die biologische Vielfalt zu nutzen.


Biologische Vielfalt

Unser Wald muss wilder werden

Nur an ganz wenigen Orten in Deutschland lässt sich heute kleinflächig erahnen, wie ein Wald ohne Einfluss des Menschen funktioniert. Zwar werden inzwischen 1 bis 2% der deutschen Wälder nicht mehr genutzt. Doch viele dieser Wälder wurden noch vor kurzem forstlich bewirtschaftet. Sie sind oft weit entfernt von ihrem natürlichen Erscheinungsbild. Selbst auf diesen 1 bis 2% wird es viele Generationen dauern, bis sich wieder ein dynamisches Nebeneinander verschiedenster Altersstadien und Waldzyklen eingestellt hat; bis all die Baum- und Pflanzenarten zurückgekehrt sind, die in einem strukturreichen Naturwald ihre Nische finden; und bis vor allem einzelne Bäume so mächtig, alt und morsch geworden sind, dass sie zusammenbrechen und damit der Vielzahl holzzersetzender Pilze und Insekten den Weg ebnen. Diese bilden das Gros des biologischen Reichtums natürlicher Wälder.

Viele der Holz- und Mulmbewohner, die früher ihren festen Platz im natürlichen Kreislauf hatten, sind aus unserem Wirtschaftswald verschwunden. Käfer wie der Eremit oder Pilze wie der Igel-Stachelbart sind heute stark gefährdet, weil die Forstwirtschaft alle Bäume lange vor ihrer natürlichen Zerfallsphase fällt und verwertet. Doch wenn der BUND fordert, einen größeren Teil unserer Wälder wild wachsen zu lassen, so nicht, um einige Spezialisten unter den Flechten, Pilzen oder Käfern für die Nachwelt zu erhalten. Nein: Ganze Lebensgemeinschaften mit Tausenden von Arten sind auf liegendes und stehendes Totholz im Wald angewiesen, auf Lichtungen, die ein umgestürzter Baumveteran gerissen hat, auf intakte Böden und vom Menschen weiträumig ungestörte Refugien. Bäume mit Faulstellen, starken Ästen, Schürfwunden oder Baumhöhlen sind überlebensnotwendig auch für Mittelspecht, Raufußkauz, Zwerg- und Halsbandschnäpper, für Bechsteinfledermaus und Haselmaus - sie alle sind auf Altbäume und Totholz angewiesen. Baumhöhlen sind Kinderstube und Überwinterungsort. Moderholz dient als Unterschlupf für Salamander und Kröten, Eidechsen und Ringelnattern. In hohlen Baumstrünken versteckt sich die Wildkatze.


Ökologischer = ökonomischer

Die Gesamtzahl der Waldbewohner in Mitteleuropa wird auf 40 000 Arten geschätzt. Bis zu 15 000 Arten lassen sich auf einem einzigen Hektar naturnahen Laubwaldes feststellen - fünfmal mehr als in den sterilen Nadelholzforsten, die noch immer so weite Teile Deutschlands prägen.

Seit Jahrhunderten verändert der Mensch den Wald nicht nur, indem er Bäume schlägt, bevor sie natürlich altern und sterben. Vor allem hat er die je nach Standort kleinräumig differenzierten Waldökosysteme großflächig durch Monokulturen schnellwüchsiger »Brotbäume« wie Fichte und Kiefer ersetzt. Diese »Holzäcker« mit meist gleichaltrigen Bäumen nur einer Art sind für einen Großteil unserer natürlichen Waldbewohner unbesiedelbar. Nicht nur das: Sie sind so anfällig für Stürme oder »Schadinsekten«, dass eine nachhaltige Holznutzung gar nicht möglich ist (obwohl die Förster sie seit bald 300 Jahren für sich beanspruchen). Mit jeder Art, die wir - bewusst oder unbewusst - aus dem natürlichen Netzwerk entfernen, wird ein Wald instabiler. Dies hat - nach etlichen verheerenden Sturmschäden - auch die Forstwirtschaft zur Kenntnis nehmen müssen.

Welcher Wald an welchem Standort wirklich langfristig stabil und damit nachhaltig nutzbar ist, kann uns nur die Natur lehren. Was wir wissen, ist, dass zwei Drittel unserer Wälder von Natur aus Buchen- und Buchenmischwälder wären, über 20% Eichenmischwälder und nur 1,35% Nadelwälder. Worüber wir jedoch viel zu wenig wissen:

Wie sieht ein natürlicher, von Menschen unbeeinflusster Wald aus? Um das zu erfahren, haben die Forstverwaltungen 1970 begonnen, Naturwaldparzellen und -reservate anzulegen. Leider gibt es davon viel zu wenige. Und diese nutzungsfreien Flächen sind in der Regel zu klein und zu schlecht vernetzt. Sie vermögen daher nur ansatzweise zu leisten, was heute ökologisch und ökonomisch geboten ist: Ein Netz großflächig ungenutzter Wälder, ergänzt um Programme für mehr Totholz und wertvolle Biotopbäume im Wirtschaftswald. Nur so hat die biologische Vielfalt in unserem wichtigsten natürlichen Lebensraum eine Chance.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Unter den Käfern gibt es besonders viele Arten, die totes und vermoderndes Holz besiedeln. Naturnahe Wälder kennzeichnen (von oben) Schluchtwald-Laufkäfer, Alpenbock und Eremit sowie (S. 15) Kopfhornschröter und Blauer Laufkäfer. (A'bock/Bl. L.: W. Willner, K'schr.: Konrad Lackerbeck)
Ein Wald darf sich frei vom Menschen entwickeln: Hier im Serrahn (Müritz-Nationalpark - siehe S. 28)[*] findet seit zwanzig Jahren keinerlei Eingriff mehr statt. Seit 2006 werden Teile des Waldes jedes Jahr zur gleichen Zeit fotografiert, um den Wandel zu dokumentieren.

[*] Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
siehe www.schattenblick.de → Infopool → Umwelt → Lebensräume
SCHUTZGEBIET/667: Nationalpark Müritz - Wälder, Moore, Seen (BUNDmagazin)


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Quelle:
BUNDmagazin 3/2010, S. 12-13 + 15
Herausgeber:
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
Friends of the Earth Germany
Am Köllnischen Park 1, 10179 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2010