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WASSER/231: Flüsse sind auf dieser Welt einfach unersetzlich (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2018
Lebensadern unserer Erde
Flüsse - begradigt, gestaut, zerstört.

Flüsse sind auf dieser Welt einfach unersetzlich
Warum beschleunigen wir den Artentod mit Staudämmen und Kraftwerksbau?

von Tobias Schäfer


Nichts beschleunigt das Artensterben so dramatisch wie die weltweite Zerstörung der Flüsse. Und nirgends überschreitet die Menschheit schon jetzt so drastisch die Grenzen der planetaren Tragfähigkeit wie beim Verlust der biologischen Vielfalt. Aber die Ausbeutung boomt, als gäbe es kein Morgen: Immer neue Staudämme blockieren die Lebensadern des Planeten, immer mehr hydro-elektrische Kraftwerke plündern die Schatzkammern der Evolution. Dabei ist der Homo sapiens doch vernunftbegabt, und mehr noch: empathiefähig. Ein Appell an unser Mitgefühl.


Es geht nicht nur um Leben und Tod. Es geht um Überleben und Aussterben. Es geht ums Ganze. Mit atemberaubender Vehemenz werden Flüsse und Flusslandschaften auf unserem Globus zerstört. Wollte man die biologische Vielfalt gezielt vernichten, man würde es womöglich genau so anstellen. Mit unbegreiflicher Wucht richten wir das hin, was die Erde zum blauen Planeten macht. Nirgends ist die Vielfalt größer und nirgends grassiert das Artensterben schneller als in Flusssystemen. Wenn ein Landlebewesen ausstirbt, so zeigte eine Studie für Nordamerika, sind schon 5 Arten im Süßwasser verschwunden.[1]

Flüsse formen den Planeten. Auf ihrem langen Weg spülen sie Gebirge Richtung Meer und stellen Verbindungen und Austausch in alle denkbaren Richtungen her: Hoch, runter, rechts, links, vor, zurück, damals, heute. Vom Meer aus betrachtet sind sie Zuflüsse und Wanderwege bis in die Berge und zurück: "Ein Rheinsalm schwamm den Rhein bis in die Schweiz hinein", dichtete Christian Morgenstern 1910. Es waren Abertausende Lachse im Rhein.

Flüsse sind ein ständiges Zusammenspiel von Wasser und Wald, Steinen und Leben, von Kies, Sand und Schlamm, Totholz nicht zu vergessen. Sie sind steter Wandel, manchmal tief, manchmal weit, manchmal seicht. Flüsse sind Landschaften und nicht bloß Linien, wenngleich viel zu oft viel zu eingedeicht. Sie ziehen sich als Korridore über die Kontinente bis in die Küstengewässer, sie prägen Täler und Auen durch Abflussgeschehen und Ausufern. Dies alles sind die Voraussetzung für die immense Vielfalt von Arten und Formen, von Lebensräumen und ökologischen Nischen, die Flusssysteme auf diesem Globus beherbergen.

Flüsse sind lebendig, seit Anbeginn. Laut Schöpfungsbericht wimmelte am 5. Tag das Wasser selbst vor Leben. Das Paradies soll ein Garten mit 4 Flüssen gewesen sein. 4, damit keine Weltgegend leer ausgeht. Nicht von ungefähr ist der Fluss die Metapher für das Leben schlechthin. Was für einen Fluss hatte Heraklit wohl vor Augen, als er "Alles fließt" gedacht hat?

Weg ist weg
Jede 2. Fischart auf dem Globus ist ein Süßwasserfisch, insgesamt geht man von etwa 15.000 Arten aus. Dabei bedecken die Süßwasser-Lebensräume nur 1 Prozent der Erdoberfläche. "Süßwasser-Ökosysteme gehören zu den komplexesten, dynamischsten und vielfältigsten der Erde", fasst die Alliance for Freshwater Life zusammen.[2] Und sie gelten als am allerstärksten bedroht.

Dass Süßwasserökosysteme in einem nie dagewesenen Tempo und Ausmaß einbrechen und so ihre genetische und funktionale Vielfalt verlieren, beschreibt die Allianz als Folge von Wasser- und Landnutzungen, die diese Folgen in Praxis und Politik in Kauf nehmen. Trotz aller Bekenntnisse werden weltweit die Ziele zum Aufhalten des Artensterbens im Süßwasser verfehlt, schlimmer noch: "Auf der globalen Agenda ist die Biodiversität im Süßwasser abwesend."

Der Populationsrückgang schreitet bei den Arten im Süßwasser doppelt schnell fort wie im Meer oder an Land. 1 von 3 Arten ist vom Aussterben bedroht. Aussterben heißt: Alle sind tot. Auch die letzten ihrer Art. Die Entstehung der Arten ist ein bisschen kniffelig, aber Aussterben ist ganz einfach. Weg ist weg. Für immer. Keine Art kommt jemals wieder.

Die Roten Listen und der Ostflügel des Berliner Naturkundemuseums sind voll von solchen Tragödien. Beim Artensterben herrscht gerade Prime Time, und wir sitzen in der ersten Reihe. Brandaktuell ist in Europa z. B. der Aal dran. Auch er ist vom Aussterben bedroht, nicht anders als der Berggorilla, wird aber allerorten mit Wasserkraft durch den Wolf gedreht und verendet elend, quasi als Beifang.

Und der Hausen, der größte unter den Stören und der größte Süßwasserfisch der Welt ist eigentlich in der Donau zuhause - bald wohl nicht mehr. Die Störe haben die Dinosaurier überlebt. Aber an uns gehen sie zugrunde. Womöglich könnten uns Arten, die so alt sind, einiges erzählen über globalen Wandel und wie man damit zurechtkommt. Mit welchem Recht rotten wir solche Lebewesen aus?

Wann ist ein Fluss ein Fluss?
Wenn wir lebendige Flüsse erhalten wollen, wenn wir es ernst meinen mit dem Schutz der Natur, dann müssen wir dringend handeln: Wir müssen Staudämme abreißen und Turbinen abschalten, Deiche öffnen und Auen zurückgewinnen. Wildflüsse müssen wild bleiben. Es gilt, den Sedimenttransport in unseren Flüssen wiederzubeleben und wieder mehr flusseigene Dynamik zuzulassen - um der Vielfalt, Eigenart und Schönheit willen. Wir müssen den Blick weiten auf Auenwälder und Flusslandschaften, in Flusskorridoren und Einzugsgebieten denken und lernen, mehr unter die Wasseroberfläche zu schauen.

Sich auf das Wesen der Flüsse besinnen heißt: Flüsse wieder Flüsse sein lassen. Wann ist ein Fluss ein Fluss? Wenn er fließt. Wenn er sich wandeln und erneuern kann. Wenn er lebendig ist.

Die Tier- und Pflanzenarten der Flüsse sind Ergebnis einer Evolution in sehr dynamischen Systemen. Ein Lachs schlüpft in einer kiesigen Laichgrube. Wenn ihn bald darauf die Strömung flussabwärts verdriftet, muss er zügig ein ruhigeres Habitat mit Nahrung und Verstecken finden, z. B. Wurzelballen toter Bäume. Später wandert er Richtung Meer und nach einigen Jahren zurück, um zu laichen.

Damit der Lachs ein Kiesbett findet, muss der Fluss Sediment transportieren und sortieren. Damit ist der Bogen geschlagen zur Geologie und Beschaffenheit des Einzugsgebietes, zu Gefälle und Gestalt des Talraums und zur Abflussdynamik, dem Puls des Flusses gewissermaßen.

Wanderfische wie Lachs, Aal oder Stör zeigen: Es geht bei Flüssen um ein ganzes Gefüge von Lebensräumen, das in stetem Wandel begriffen ist. Es geht um das Verbundensein dieser Habitatkomplexe über das gesamte Flusssystem hinweg. Ein Fluss ist ein Kontinuum. Entscheidend ist die sogenannte funktionelle Konnektivität der Flusslebensräume: Aus Sicht jeder einzelnen Art geht es um unterschiedliche essentielle Habitate, um deren Qualität und räumliche Anordnung sowie um ihre Erreichbarkeit.

Wie sich diese Vielfalt und Komplexität etwa im Amazonas mit geschätzt 5.000 (!) Fischarten in einem Flusssystem organisiert, grenzt an ein Wunder und ist weitgehend unerforscht. Auf Platz 2 liegt der Mekong mit rund 1.200 Fischarten. Aber die Menschheit ist wie besessen dabei, diesen unfassbaren Reichtum unwiederbringlich auszulöschen, bevor wir überhaupt einen Begriff davon haben.

Für ein paar Jahrzehnte Billigstrom
Dennoch, es gibt Dinge, die Mut machen: In den USA, lange die Staudammbaunation Nr. 1, ist nach dem größten Staudammabriss der Geschichte der Elwha River wieder zum Leben erwacht und die Lachse kehren zurück. Das wachsende Netzwerk der 'Wild and Scenic Rivers' garantiert dauerhaften Schutz freier Flüsse. Hiervon lässt sich lernen. 'Dam Removal Europe' zeigt auf, wie Flüsse wieder fließen und Wanderfische wieder wandern können.

In Europa haben wir epochale Sünden beim Verbau unserer Flüsse begangen. Aber haben wir nicht gerade deswegen die Verantwortung, anderen beizustehen, nicht dieselben Fehler oder noch viel größere zu machen?

Hydro-elektrische Kraftwerke sind darauf angelegt, dem fließenden Wasser genau die Energie zu entziehen, auf die lebendige Flüsse angewiesen sind. Wasserkraft ist so gesehen eine "extraktive Industrie". Mit erneuerbar hat das nur wenig zu tun. Für die Energieausbeutung ist nahezu alles, was einen Fluss zum Fluss macht, hinderlich. Ausleitungskraftwerke leiten das Wasser oft über Kilometer ab. Würde man Artensterben und die Umweltzerstörung einpreisen, wäre dieser Strom wohl kaum bezahlbar. Staudämme haben eine technische Lebensdauer von lediglich ein paar Jahrzehnten. Und dann?

Flüsse sind Fluss, nicht Stau
Wenn der Artentod über die Grenzen des Planeten geht, und wenn Flüsse die größte Vielfalt beherbergen - ist es dann nicht eine moralische Pflicht, mörderische Staudämme zu verhindern?

Vielleicht sind wir aber auch bloß empfindungslos, eingelullt von Gefasel von Entwicklungspfaden und Erneuerbaren. Aber Staudämme sind Kahlschlag. Staudämme sind Grabsteine. Staudämme sind Mauern. Als Berliner möchte ich behaupten: Die Mauern müssen weg. Auch die Mauern in den Köpfen. Was kann uns die Augen öffnen, was kann unsere Herzen daran erinnern, dass Flüsse in sich Erneuerung sind? Flüsse sind Fluss, nicht Stau.

Die Flüsse selbst können es. Schauen wir sie an, hören wir ihnen zu, kosten wir ihre Süße. Denn ohne Mitgefühl werden wir auch nicht zur Vernunft kommen. Oder um es nochmal mit Herbert Grönemeyer zu sagen: Flüsse weinen heimlich / Flüsse brauchen viel Zärtlichkeit / Und Flüsse sind so verletzlich / Flüsse sind auf dieser Welt einfach unersetzlich.


Autor Tobias Schäfer arbeitet für die Stiftung Living Rivers und ist langjähriges Mitglied der Water Working Group im Europäischen Umweltbüro (EEB). Er ist Mitbegründer von flow : europe e. V., der ein Filmfest aus Liebe zum Wasser veranstaltet.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.


Anmerkungen

1. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1046/j.1523-1739.1999.98380.x

2. www.allianceforfreshwaterlife.org.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Grafik "Ökologische Belastungsgrenzen"
Beim Artensterben in Flüssen schießen wir immer weiter über die planetaren Grenzen hinaus. Der Rückgang bei den Süßwasserarten ist dramatischer als bei jeder anderen Gruppe.

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Quelle:
Rundbrief 4/2018, Seite 16 - 17
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
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Telefon: 030/678 1775 910, Fax: 030/678 1775 80
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Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2019

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