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LAIRE/165: E10-Diskurs - Hungernde haben keine Lobby (SB)


Vor dem "Benzingipfel" zur Einführung des Ethanol-Sprits E10

Gesellschaftliche Produktionsbedingungen bleiben unhinterfragt


Die Einführung des Superkraftstoffs E10 an deutschen Tankstellen ist anscheinend auf ganzer Linie mißlungen, die Autofahrer mißtrauen dem Sprit, so heißt es. Warum einen Treibstoff tanken, der möglicherweise den Motor zerstört und weniger leistet als anderes Superbenzin? Mineralölwirtschaft, Autoindustrie und Bundesregierung schieben sich reihum den Schwarzen Peter für die "Konsumverweigerung" zu; Lobbyorganisationen wie der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC), der Verband der Biokraftstoffindustrie (VDB), die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) sowie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Deutsche Bauernverband (DBV) begleiten das Verschiebespiel mit einem überaus dissonanten Chor: E10 wird die Lebensmittelpreise steigen lassen, so die Ernährungsbranche, der Treibstoff ist gar nicht klimafreundlich, wettert der Umweltverband, die Bauern begrüßten die Einführung von E10, halten deren Vertreter dagegen, Autofahrer seien verwirrt, ob sie den Sprit tanken können, merken andere Lobbyorganisationen an, und was an interessengestützten, sicherlich auch um Aufklärung bemühten Ansichten mehr verbreitet wird.

Nur für die Hungernden, da findet sich offensichtlich keine Lobbygruppe. Da hat jede einzelne der Organisationen ihre Grenze. An der Grundfeste der Verwertung von Arbeit und Kapitalakkumulation wird nicht gerüttelt. Fest verankert im gesellschaftlichen Wertgefüge und freigehalten von den existentiellen Nöten der Menschen in den armen Ländern, sind sich die Beteiligten anscheinend unausgesprochen einig darin, daß die Bestimmungen zur E10-Einführung der Bundesregierung, die ihrerseits EU-Vorgaben folgt, keine Auswirkungen auf die Ernährungslage der Menschen in den armen Ländern hat oder daß sie das nicht zu kümmern braucht.

Unbestritten bleibt jedoch, daß rund eine Milliarde Menschen nicht genug zu essen hat und eine weitere Milliarde gezwungen ist, sich mangelhaft zu ernähren. Je nach Einschätzung verhungern jährlich zwischen zehn und 35 Millionen Menschen. Zeitgleich wird in Deutschland und anderen Ländern Nahrung in Verbrennungsmotoren verfeuert. Und da soll keinerlei Zusammenhang bestehen?

Auf welchen Wegen auch immer - den Hungernden wird Nahrung vorenthalten. Auch wenn der um seinen hubraumstarken Fetisch besorgte deutsche Autofahrer, um ein Klischee aufzugreifen, wohl kaum unmittelbar an den hungerbäuchigen Kindern in Niger, Honduras oder Indien vorbeirauscht, allein aus der räumlichen Entfernung zu den eklatanten Notregionen in der Welt die Schlußfolgerung zu ziehen, daß ein Nahrungsmittel wie Mais, aus dem Ethanol destilliert wird, in Wirklichkeit kein Nahrungsmittel sei und somit niemandem vom Teller genommen wird, ist bloßes Wunschdenken und verschleiert die eigene Beteiligung an den globalisierten Produktionsverhältnissen.

Es ist die gleiche Wirtschaftsordnung, nach der hierzulande und in den armen Ländern Agrosprit hergestellt wird, um damit Fahrzeuge anzutreiben, die dafür sorgt, daß die Länder des Südens ihrer Entwicklungschancen beraubt werden. Sie werden unter Beteiligung örtlicher Profiteure entweder zu Ressourcenstaaten, billigen Produktionsstandorten oder Absatzräumen für Waren aus den reichen Ländern erklärt, aber weder sollen sie sich zu ernsthaften Konkurrenten um hegemonialen Einfluß entwickeln noch sollen sie sich grundsätzlich von dem ganzen Verwertungsgefüge befreien. Beides wird hintertrieben, die dazu eingesetzten Mechanismen sind historisch gewachsen und überaus wirksam.

Selbst wenn das für E10 verwendete Ethanol nicht aus Mais oder Zuckerrohr hergestellt würde, sondern auch Pflanzenresten, bestünde noch immer der Widerspruch, daß eine Gesellschaft zu Lasten der anderen lebt, ein Umlastungsprinzip, das auch die Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Gesellschaft widerspiegelt.

Das vorläufige Scheitern der E10-Einführung in Deutschland ist kein allgemeines Problem, sondern eines der Privilegierten. Wohingegen für viele Mitglieder der "industriellen Reservearmee" der Besitz eines eigenen Autos außerhalb jeglicher Erwerbsperspektive liegt. Für sie entfällt das Problem, welchen Sprit sie tanken sollen ... dafür haben sie andere, gewiß nicht geringfügigere Probleme als der Autofahrer.

7. März 2011