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LAIRE/233: HarvestPlus - Hunger, versteckt (SB)


Am Beispiel "HarvestPlus"

Wie mit der Bezeichnung "versteckter Hunger" der Hunger versteckt werden soll



Wenn es gelänge, Getreide, Hülsenfrüchte und Gemüse weit über ihren natürlichen Gehalt an Nährstoffen hinaus mit lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen anzureichern, könnten viele Menschen adäquat versorgt, Krankheiten vermieden und Leben gerettet werden. Eine solche Versorgung würde sich auch äußerst positiv auf die ökonomische Situation insbesondere der einkommenschwachen Haushalte in den Entwicklungsländern auswirken.

Mit dieser Vorstellung wird in Forschungslaboren und Freilandversuchen weltweit Pflanzenzüchtung betrieben, bezuschussen milliardenschwere Stiftungen die Entwicklung nährstoffreicher Lebensmittel und unterstützen globaladministrative Institutionen Pilotprojekte zur qualitativen Aufwertung der Grundnahrungsmittel für Notleidende.

Befindet sich demnach die Weltgesellschaft auf bestem Wege, die menschheitsgeschichtliche Geißel des notorischen Nahrungsmangels zu überwinden? Erfüllt sich nach Tausenden von Jahren der kulturtechnischen Weiterentwicklung des Ackerbaus endlich die Hoffnung, mittels der Landwirtschaft den biologischen Zwang, verzehren zu müssen, wirksam entgegentreten zu können? Oder wird beispielsweise durch die sogenannte Biofortifikation, jene "Anreicherung des Nährstoffgehalts von Nahrungsmitteln durch Pflanzenzucht", wie es bei einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Initiative zur Pflanzenforschung [1] heißt, lediglich die Abhängigkeit des Menschen von der Nahrungszufuhr ausgenutzt, um einerseits der Wirtschaft zu attraktiven Profiten zu verhelfen und andererseits das administrative Repertoire an bevölkerungspolitischen Maßnahmen zu verfeinern?

Im Spannungsfeld zwischen ökonomischem Profitinteresse, wissenschaftlicher Fortschrittsgläubigkeit, zur Philanthropie verklärten Anwandlungen der Stiftungsgründung und globaladministrativem Verfügungsstreben sind Initiativen und Einrichtungen zur Aufwertung von Nahrung angesiedelt, die Namen tragen wie CGIAR Micronutrients Project, ProVitaMinRice Consortium, Future Harvest, HarvestZinc Fertilizer Project und HarvestPlus. Letztgenanntes Programm gilt als eines der Flaggschiffe der "Nährstofforschung" und ist der CGIAR (Consultative Group on International Agricultural Research - z. Dt.: Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung) zugeordnet.

Im Oktober 2002 hatte die CGIAR das Biofortification Challenge Program genehmigt, im selben Jahr sagte die Weltbank seine Finanzierung in Höhe von drei Millionen Dollar für die ersten zwölf Monate zu. Dabei ging es bei dem Programm, das dem CGIAR Research Program on Agriculture for Nutrition and Health (A4NH) zugeordnet ist, noch nicht darum, von null auf hundert in die Forschung einzusteigen, sondern es sollten zunächst die Arbeitsvoraussetzungen geschaffen werden. Es wurden Sponsoren aufgetrieben, administrative Strukturen geschaffen sowie Forscher und Institutionen in das Programm eingebunden. Das nennt sich heute nicht mehr Biofortification Challenge Program, weil man offenbar annahm, daß dadurch schlafende Hunde geweckt, sprich: die Gentechnikgegner auf den Plan gerufen werden könnten, sondern HarvestPlus Challenge Program oder kurz HarvestPlus.

Die CGIAR schreibt über die Gründungszeit der Initiative: "Wir entschieden uns, das Biofortification Challenge Program in HarvestPlus umzubenennen, um die Öffentlichkeit effektiver zu erreichen. Wir hatten den Eindruck, daß das wichtig ist, um erstens eine Unterstützung der Geber für ein Zehn-Jahresprogramm sicherzustellen, um uns zweitens gegen kontroverse Maßnahmen wegen der Entwicklung transgener Pflanzen zu wehren bzw. diese zu erklären, und um drittens eines der Ziele des Challenge Programms, die Erhöhung des Bekanntheitsgrads des Future Harvest Centers, zu erfüllen." [2]

Die Mehrheit, aber nicht alle der in das Programm involvierten Wissenschaftler waren mit der Namensänderung einverstanden. HarvestPlus war ihnen zu unpräzise.

Die Bill and Melinda Gates Foundation stiftete sieben Millionen Dollar als erste Tranche für den eigentlichen Start, der auf das Jahr 2004 angesetzt wurde. Heute arbeitet die Initiative mit Personen innerhalb der Regierungsapparate und der Privatwirtschaft aus über 40 Ländern zusammen. Involviert sind mehr als 200 Agrar- bzw. Ernährungsforscherinnen und -forscher in 15 Institutionen, die ihrerseits mit Hunderten von Partnerorganisationen kooperieren. Koordiniert werden die wissenschaftlichen Tätigkeiten vom Center for Tropical Agriculture (CIAT) und dem International Food Policy Research Institute (IFPRI). [3]

Diese breit angelegte, netzwerkartige Verankerung in einer Reihe von Institutionen liefert einen deutlichen Hinweis darauf, daß wir es bei der gezielten Nährstoffanreicherung von Grundnahrungsmitteln durch HarvestPlus mit einer der schwergewichtigeren Forschungsinitiativen der heutigen Zeit auf dem Gebiet der Ernährung zu tun haben. Hier soll mit modernen Züchtungsmethoden der Natur etwas abgerungen werden, das diese ohne menschliches Zutun womöglich niemals preisgeben würde. Die Idee dahinter ist alles anderes als neu. Seit die ersten Menschen festgestellt haben, daß kräftige Grassamen tendenziell ebenso kräftigen Nachwuchs hervorbringen, und daraufhin Selektion betrieben, hat sich daran im Prinzip nichts geändert. Nur die technischen Möglichkeiten des Eingriffs und die Geschwindigkeit, mit der Züchtung betrieben wird, haben sich erheblich gewandelt.

Heute wird auf einer relativ feinen biologischen Ebene zu manipulieren versucht, beispielsweise indem man Goldpartikel mit art- und sogar gattungsfremdem Zellkernmaterial befrachtet und damit anschließend Saatgut beschießt, in der Hoffnung, den Kern der Zelle zu treffen und Erbgutveränderungen zu erzielen, die bestimmte Eigenschaften der Pflanze - beispielsweise einen höheren Nährstoffgehalt - hervorbringen. Dieses "Schrotschußverfahren" steht im Mittelpunkt der sogenannten grünen Gentechnik, die aus verschiedenen Gründen umstritten ist. Einer davon betrifft die Unwägbarkeiten, die sich aus der Verbreitung gentechnisch veränderter Organismen in der Umwelt und dem Verzehr der Produkte für die menschliche und tierische Gesundheit ergeben. Auch im Rahmen des HarvestPlus-Programms zur Biofortifikation von Nahrungspflanzen werden gentechnische Züchtungsmethoden verwendet, sie sind allerdings nicht der Schwerpunkt.

HarvestPlus verfolgt die "Vision", den sogenannten versteckten Hunger, womit der Mangel an nährstoffreicher Nahrung gemeint ist, zu reduzieren und binnen 15 Jahren Milliarden Menschen mit Mikronährstoffen in ihren Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Dabei konzentrieren sich die Forscher auf drei Nährstoffe, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als diejenigen ausgewiesen werden, an denen der größte Mangel herrscht: Eisen, Zink und Vitamin A. Diese werden in Bohnen (Eisen, DR Kongo und Ruanda), Hirse (Eisen, Indien), Kassawa (Vitamin A, DR Kongo und Nigeria), Mais (Vitamin A, Nigeria und Sambia), Süßkartoffel (Vitamin A, Uganda und Mosambik), Reis (Zink, Bangladesch und Indien) und Weizen (Zink, Indien und Pakistan) eingebracht.

Wenn HarvestPlus das Flaggschiff der Biofortifikationsforschung ist, dann ist der Goldene Reis dessen Galionsfigur. Er wurde von Ingo Potrykus (ETH Zürich) und Peter Beyer (Universität Freiburg) entwickelt und enthält eine relativ hohe Konzentration von Provitamin A in den geschälten Körnern. Die Lizenzrechte des "golden rice", der in herkömmliche Reisarten eingekreuzt werden soll, besitzt der Konzern Syngenta. Der erhebt keine Lizenzgebühren, sofern der Goldene Reis an ärmere Kleinbauern abgetreten wird.

Damit tritt der Konzern den Kritikern der Grünen Gentechnik entgegen, die darauf aufmerksam machen, daß die gentechnische Veränderung als Geschäftsmodell konzipiert und keineswegs primär dazu gedacht ist, Menschen vor dem Hungertod zu retten. Dieses Argument der Kritiker trifft vielleicht nicht für den Goldenen Reis zu, allerdings kann auch Syngenta nicht leugnen, daß es im Rahmen der vorherrschenden Wirtschaftsordnung unvernünftig wäre, auf all seine Lizenzrechte zu verzichten, um den armen Menschen zu helfen. Mit anderen Worten, die angekündigte freie Verfügbarkeit des Goldenen Reises wird eine Ausnahme bleiben. Im übrigen hätte man Düngemittelunternehmen wie K+S Kali, Omex Agrifluids und Mosaic Company oder Wirtschaftsverbände wie International Zinc Associations und International Fertilizer Industry Association wohl kaum für eine Beteiligung am HarvestZinc Fertilizer Project [4], einem Teilprojekt des HarvestPlus-Programms, gewinnen können, wenn nicht unmittelbar oder perspektivisch ein in klingender Münze zu rechnender Gewinn in Aussicht gestanden hätte.

Die Kritik am Goldenen Reis bezieht sich nicht allein darauf, daß hier Methoden der Grünen Gentechnik zur Anwendung kommen, die wiederum synonym für ein strenges Lizenzsystem stehen, das den Bauern Knebelverträge aufnötigt, durch die beispielsweise die jahrtausendealte Tradition des freien Nachbaus von Saatgut unter Strafe gestellt ist. Kritisiert wird, daß die Anreicherung mit Nährstoffen wie Provitamin A gar nicht nötig wäre, wenn die unter Vitamin-A-Mangel leidenden Menschen überhaupt genügend abwechslungsreiche Nahrung erhielten.

Mit der Nährstoffaufwertung von Grundnahrungsmitteln wird von dem fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruch abgelenkt, daß einige Menschen ausreichend zu essen haben, aber weltweit schätzungsweise zwei Milliarden Einwohner chronisch hungern oder mangelernährt sind. Je nach Berechnungsgrundlage verhungern jedes Jahr zwischen neun und 18 Millionen Menschen.

Weiter ließe sich argumentieren, daß der Goldene Reis, so er denn jemals in andere Reissorten eingekreuzt und erfolgreich flächendeckend angebaut wird, nur der Vorreiter für eine gesellschaftliche Entwicklung ist, in der viele Menschen nicht genügend zu essen haben und andere mit Mikronährstoffen in ihrer Nahrung versorgt werden sollen. Die wird in Zukunft nicht kostenlos zu haben sein, sondern muß entweder von den Empfängern selber, irgendwelchen Hilfsorganisationen oder den Regierungen bezahlt werden. Letzten Endes könnte es sogar darauf hinauslaufen, daß die Früchte der Pflanzenzüchtung, die zur Zeit noch dank gestifteter Forschungsstellen betrieben wird, von Lebensmittel- und Agrokonzernen gewinnbringend vermarktet werden.

Und nicht nur das. Begleitend zu den Forschungen der Biofortifikation von Grundnahrungsmitteln wird aufs genaueste ermittelt, welche Nährstoffe in welchen Mengen ein Mensch für sein Überleben braucht und worauf er angeblich verzichten kann. Analog zur Bestimmung des täglichen Kalorienbedarfs wurden Parameter der Mikronährstoffversorgung und somit der Bedarf verschiedener Menschengruppen festgelegt. In der Weltgesellschaft des 21. Jahrhundert mit ihren irgendwann voraussichtlich acht, neun oder zehn Milliarden Einwohnern, in der die Produktion der Nahrungsmenge nicht mehr im gleichen Maße gesteigert werden kann wie in der Vergangenheit, könnte sich der von heutigen Wissenschaftlern herausgearbeitete Nährstoffbedarf des Menschen in dessen Anspruchsberechtigung verkehren, mit der dann eine administrative Zuteilung von Nahrung und Nährstoffen nach Gruppenzugehörigkeit begründet werden könnte in der Art wie: Kategorie 1 (Flüchtlinge), Kategorie 2 (Arbeitslose), Kategorie 3 (Arbeiter, Angestellte), Kategorie 4 (Manager, Politiker, Hochleistungssportler, Wissenschaftler).

1960 standen rechnerisch jedem Menschen 0,44 Hektar landwirtschaftliche Fläche zur Verfügung, 1990 waren es 0,27 Hektar, im Jahr 2025 werden es voraussichtlich nur 0,17 Hektar sein. [5] Unklar ist, inwiefern in diesen Angaben die vielfältigen Bodenverluste beispielsweise aufgrund der Versiegelung durch Infrastrukturen, des Meeresspiegelanstiegs und allgemein der Degradations- und Erosionskräfte bereits eingerechnet wurden. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang aber nicht die absoluten Zahlen, sondern der klare Trend. Die Apologeten der Grünen Gentechnik und der Biofortifikation von Grundnahrungsmitteln würden vermutlich argumentieren, daß es aufgrund solcher Prognosen um so wichtiger sei, den Fortschritt in der Nahrungsproduktion nicht durch "unnötige" Regularien zu behindern, denn nur wenn die Experten ihr volles Potential ausschöpften, ließen sich die Probleme des Hungers und des versteckten Hungers lösen.

Da wird jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Schon heute könnten auf der Erde genügend Nahrungsmittel produziert werden, um alle Menschen ausreichend zu ernähren (womit nicht gemeint ist, daß sie nur knapp über die Runden kommen). Das setzte aber eine vollkommen andere Gesellschaft voraus, ja, vielleicht müßte sogar die Vergesellschaftung an sich hinterfragt werden. War es doch bereits in frühen Gesellschaftsformen üblich, daß die eigentlichen Produzenten der Nahrung, die Bauern, von den herrschenden Kräften qua ihrer überlegenen Gewaltmittel versklavt und beraubt wurden.

Hat sich daran etwas bis heute geändert? Sind nicht ausgerechnet Hunderte von Millionen Kleinbauern in den Entwicklungsländern derart arm, daß sie Hunger leiden? Der krasse Nahrungsmangel hält zwar seit einigen Jahren verstärkt auch in den Städten Einzug (als Folge wiederum der Landflucht), aber das eigentliche Hungergebiet ist nach wie vor der ländliche Raum. Wie kann das sein, wenn dort die Nahrung erzeugt wird?

Aufs Allereinfachste heruntergebrochen, bzw. mit grobem Stift gezeichnet: Es müssen gesellschaftliche Bedingungen existieren, durch die sichergestellt wird, daß Städter genügend zu essen haben und Landbewohner nicht. In Anbetracht von Hunderten Millionen hungernden Kleinbauern kann man den Abtransport der Nahrung in die urbanen Räume nur als Raub bezeichnen, vom Ergebnis her betrachtet gar nicht so verschieden vom Abhängigkeitsverhältnis zwischen den eigentlichen Nahrungsproduzenten und den Nutznießern zur Zeit der mittelalterlichen Leibeigenschaft.

Die Forschungen zur Biofortifikation zielen nicht darauf ab, dieses Verhältnis zu hinterfragen. Den gesellschaftlichen Widerspruch aufzuheben, ist in der Ernährungswissenschaft kein Thema und würde weder von der Weltbank noch den an HarvestPlus beteiligten Forschungseinrichtungen gefördert - und ebenfalls nicht von der Bill and Melinda Gates Foundation. Wie sollte es auch, hat doch die Weltgesellschaft, in der das Wirtschaftsmodell der Kapitalakkumulation präferiert wird, es einem Menschen wie Bill Gates überhaupt erst ermöglicht, so viel Reichtum anzuhäufen, daß er einen Teil dessen wieder abgeben und so als Stiftungsgründer an gesellschaftlichem Ansehen gewinnen kann.

Die Aufwertung von Nahrung mit Vitaminen und Spurenelementen trägt auch deshalb zur Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung bei, weil so getan wird, als würde damit ein wesentlicher Aspekt des Hungerproblems gelöst. Das wird es aber nicht, denn dazu reicht es nicht, Programme wie HarvestPlus ins Leben zu rufen, sondern die Hungernden müßten überhaupt erstmal ausreichend mit Nahrung versorgt werden. Wenn die dann besonders gehaltvoll ist, spricht nichts dagegen, wobei die Motivation, weswegen Biofortifikation betrieben wird, nicht so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Es geht nicht allein darum, Menschenleben zu retten oder Krankheiten zu vermeiden, sondern laut einem von der Weltbank initiierten Bericht auch darum, "die Produktivität zu steigern". Da wird die Rechnung aufgemacht, daß die Einführung des Goldenen Reises in den Philippinen das Potential hat, zwischen 23.000 und 137.000 verlorene Lebensjahre (DALY - disability-adjusted life years) wettzumachen und daß dies der Steigerung "der Arbeitsproduktivität von ungelernten Arbeitern zwischen 0,09 und 0,53 Prozent" entspricht. [6]

Vom Standpunkt eines Haushalts aus betrachtet, der Subsistenzwirtschaft betreibt und dessen arbeitsfähige Mitglieder so geschwächt sind, daß sie die Feldarbeit nur mit halber Kraft verrichten können, wäre die Steigerung der Produktivität selbstverständlich ein Segen, da sich dies unmittelbar in einer Verbesserung der Nahrungsmenge oder auch Einkommensmöglichkeit auf dem örtlichen Markt niederschlüge. Beispielsweise ist vom südlichen Afrika bekannt, daß die HIV/Aids-Epidemie in zweifacher Hinsicht die Armut fördert, zum einen weil arbeitsfähige Familienmitglieder aus Krankheitsgründen ausfallen, zum anderen weil sie in der Regel von anderen Familienmitgliedern gepflegt werden müssen.

Sollte sich aber der allgemeine Trend von der Subsistenzwirtschaft zur Produktion von "Cash Crops", also Agrarerzeugnissen, die für den Export bestimmt sind, fortsetzen, erhielte die Fähigkeit der Kleinbauern, aufgrund der Versorgung mit nährstoffangereicherten Nahrungsmitteln eine höhere Produktivität entfalten zu können, eine andere Bedeutung. Dann könnte man vermuten, daß hier eine neue Runde der Verwertung menschlicher Arbeitskraft eingeläutet wird, vergleichbar mit der Zeit der Industrialisierung, während der aus den Kleinbauern Arbeitskräfte für den aufblühenden Bergbau (Eisen, Kupfer, etc.) "gemacht" wurden. Beispielsweise wurden die Bauern in Rhodesien (das heutige Simbabwe) gewaltsam von ihrem angestammten Grund und Boden vertrieben, in Lagern zusammengefaßt, so daß sich die Bergbaugesellschaften aus diesem "Menschenpool" die kräftigsten Männer aussuchen konnten.

Daß solch eine utilitaristische Einstellung gegenüber anderen Menschen keineswegs überwunden ist, zeigen jüngste Äußerungen von Manfred Schmidt, Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), im "Spiegel" [7]. Man solle nicht alle Flüchtlinge, die Asyl beantragen, abwehren, meinte er. Unter ihnen seien "Studenten und hochqualifizierte Facharbeiter". Man könne eine neue Vorstufe des Asylverfahrens einrichten, in der geprüft werde, ob ein Flüchtling als Arbeitsmigrant in Frage komme. Ein Vorschlag, den die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), begrüßte und der auch die Vorstellungen des sächsischen Innenministers Markus Ulbig (CDU) trifft.

Solange Menschen nach ihrem ökonomischen Nutzen beurteilt werden, wird weder der versteckte noch der offene Hunger aus der Welt geschafft. Es wird nur allzu leicht vergessen, daß die Hungernden dieser Welt ökonomisch nahezu uninteressant sind, ja, daß sie in der ökonomischen Bilanz gar nicht auftauchen. Die gegenwärtig 842 Millionen Hungernden auf der Welt haben zweifellos einen gewaltigen Bedarf an Nahrung, aber dennoch sind sie kein Nachfragefaktor, weil sie sich die Nahrung gar nicht leisten können.

Wenn also die Anhänger der Grünen Gentechnik damit werben, daß nur dann eine Chance besteht, den Hunger in der Welt erfolgreich zu bekämpfen, wenn die Vorbehalte gegenüber der gentechnischen Manipulation von Nutzpflanzen (oder gegenüber der Biofortifikation von Grundnahrungsmitteln, wäre hier zu ergänzen) ausgeräumt werden, dann tun sie gerade so, als seien die Unternehmen keiner ökonomischen Ratio unterworfen. Die nötigt ihnen das Streben nach Profit auf, und der kann nur erwirtschaftet werden, wenn an einem zu vertreibenden Produkt Mangel besteht. Die freie Verfügbarkeit dagegen ist der Tod allen Profitstrebens. Das schließt selbstverständlich auch kostenlose, nährstoffreiche Agrarerzeugnisse wie Kassawa, Reis oder Hirse ein.

Hier gelangen wir wieder an den Ausgangspunkt unserer Erörterungen. Da die gesellschaftliche Ordnung verändert werden müßte, damit Milliarden verarmte Menschen die mit Zink, Eisen und Vitamin A aufgewertete Nahrung erhalten, stellt sich die Frage, warum diese Veränderung nicht bereits eingeleitet wurde, um den offenen Hunger zu bekämpfen? Warum werden die Bedürftigen nicht schon längst mit herkömmlicher Nahrung versorgt, anstatt eine Technologie zur Nährstoffanreicherung zu entwickeln, die vielleicht erst in zehn Jahren greift?

Diese Frage stellt sich auch deshalb, weil bis dahin voraussichtlich weitere 100 bis 200 Millionen Menschen verhungert oder an vermeidbaren Krankheiten gestorben sein werden, und es läge nicht allein an den von einigen beteiligten Forschern bemängelten administrativen Auflagen und Behinderungen ihrer Arbeit, die dafür verantwortlich wären. Denn auch wenn im Idealfall sämtliche Auflagen für die Pflanzenzüchter wegfielen (wofür hier keinesfalls geworben werden soll), vergingen Jahre bis zu einem brauchbaren Zuchtprodukt. Darum sei hier noch einmal gefragt: Wenn die Weltbank oder die Ministerien verschiedener Länder, die an dem Programm HarvestPlus beteiligt sind, so sehr um das Wohl der Menschen besorgt sind und den Anspruch erheben, ihnen zu einer gehaltvollen Nahrung verhelfen zu wollen, warum wurde dieses Vorhaben nicht in den letzten, zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, in denen über 800 Millionen Menschen Hunger litten, erfüllt?

Warum werden seit Jahrzehnten die zuvor gesetzten Ziele zur Beendigung des Hungers laufend den Gegebenheiten angepaßt und neu formuliert? Zur Zeit der Grünen Revolution in den 1970er Jahren hatte es geheißen, bis Ende des Jahrtausends werde kein Mensch mehr Hunger leiden müssen. Das Ziel wurde bekanntlich völlig verfehlt. Dann, im Jahr 2000, wurden von der internationalen Staatengemeinschaft die Millenniumsziele vereinbart. Die sehen unter anderem vor, bis zum Jahr 2015 die Zahl der Hungernden in der Welt zu halbieren. Damit hat man die andere Hälfte dem Hungertod überantwortet. Da stellt sich sofort die Frage, wer über Leben oder Tod entscheidet und nach welchen Kriterien er den Daumen reckt oder senkt.

Doch selbst das gegenüber früheren Absichtserklärungen deutlich bescheidenere Millenniumsziel wird weit verfehlt, sollte es nicht plötzlich Manna vom Himmel regnen. Inzwischen wird von der FAO (Food and Agriculture Organization) in Rom die Zielmarke 2030 zur Halbierung der Zahl der Hungernden verbreitet. Bis dahin fließt noch viel Wasser den Tiber runter, und es wird den Nachfolgern der heutigen Hungeradministratoren überlassen bleiben, abermals die Zielmarke zu verschieben und durch Pseudoerklärungen wie, "Kriege und Aids" machten "die Erfolge im Kampf gegen den Hunger zunichte" [8], letztlich die Hoffnung zu verbreiten, es seien solche relativ überschaubaren Faktoren, die den Erfolg der Hungerbekämpfung vereiteln. Würden dagegen die Grundlagen der Hungerentstehung in Angriff genommen, bestünde die Gefahr, daß die Profiteure der vorherrschenden Gesellschaftsordnung ihre Privilegien aufgeben müßten. Da sei HarvestPlus vor.


Fußnoten:

[1] http://www.pflanzenforschung.de/de/themen/lexikon/biofortifikation-1913

[2] HarvestPlus (Biofortification Challenge Program): Lessons Learned
http://www.cgiar.org/www-archive/www.cgiar.org/pdf/agm03/agm03bus_harvestplus_bcp.pdf

[3] http://www.harvestplus.org/content/about-harvestplus

[4] http://www.harvestzinc.org/

[5] http://www.weltbevoelkerung.de/informieren/unsere-themen/bevoelkerungsdynamik/mehr-zum-thema/bevoelkerung-und-ernaehrung.html

[6] http://www.goldenrice.org/PDFs/Anderson_CIES_2004.pdf

[7] http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/bundesamts-chef-will-ausgebildeten-fluechtlingen-asylverfahren-ersparen-a-927498.html

[8] http://www.agenda21-treffpunkt.de/archiv/03/11/WHHhunger.htm

17. Oktober 2013