Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → MEINUNGEN


LAIRE/274: Insektizide - keine eierlegende Wollmilchsau ... (SB)



Unter dem zunehmenden Zwang zur Produktivitätssteigerung ist der landwirtschaftliche Anbau Deutschlands einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Er ähnelt mehr und mehr einer Hydrokultur unter freiem Himmel. Zugespitzt formuliert, liefert der Boden nur noch das Substrat, in das die Pflanzen ihre Wurzeln versenken können, um Wasser und Nährstoffe aufzunehmen. Letztere entstehen immer weniger aus den organischen Anteilen, die der Boden natürlicherseits enthält, da er von einem aktiven Biom bereitgestellt wird, sondern werden vorwiegend als Stickstoff künstlich eingebracht. Und das in einem so großen Ausmaß, daß in Folge dieser regelrechten Überdüngung die natürliche organische Zersetzung beeinträchtigt wird und schließlich auf Kunstdünger gar nicht mehr verzichtet werden kann. Jedenfalls nicht in der konventionellen industriellen Landwirtschaft.

Weitere Merkmale dieser großflächigen "Hydrokultur" namens Landwirtschaft werden durch die Züchtung gleichförmig wachsender Getreidearten und das Ausräumen der Landschaft von allen agrarökonomisch nicht unmittelbar verwertbaren und der Profitmaximierung im Wege stehenden Einflüssen und Flächen wie Fließgewässern, die noch nicht begradigt sind, wild wachsenden Büschen, Bäumen und Hainen sowie von Wildkräutern besetzten Wegstreifen, etc. bestimmt.

Bestäuber werden für die wichtigsten landwirtschaftlichen Anbauprodukte - Mais, Weizen und Kartoffeln - nicht gebraucht. Womöglich wird der Schutz der Fluginsekten deshalb vernachlässigt. Nun haben Forscher des Entomologischen Vereins Krefeld festgestellt, daß in den letzten rund 30 Jahren die Zahl der Insekten um über 70, teils über 80 Prozent abgenommen hat. Darüber berichteten sie im Oktober 2017 im Wissenschaftsjournal PLOS One [1]. Das ist insofern noch eine beschönigende Zahl, als daß die Messungen in Naturschutzgebieten vorgenommen wurden. Auf den Äckern selbst, auf denen pro Jahr allein in der Bundesrepublik rund 30.000 Tonnen Chemikalien landen, lebt kaum ein Insekt. Also fallen auch sie über die Kante. Die Obst- und Gemüseanbauer klagen zwar, denn sie benötigen die Bestäuber, doch dafür springt dann die ebenfalls industrialisierte Imkerei mit Zuchtbienen ein, die ihrerseits einen Druck auf wildlebende Bienenarten ausüben und ihnen die letzten verbliebenen Wildblüten streitig machen. [2]

Vielleicht ist das einer der Gründe, weswegen man in Schleswig-Holstein an einem sonnigen, windarmen Nachmittag an einem großen, knallgelben, in voller Blüte stehenden Rapsfeld vorbeigehen kann und trotz intensiver Suche darauf kein einziges Insekt entdeckt. Als hätte es diese Kerbtiere nie gegeben. Als fände das alles auf einem anderen Planeten statt ...

Tut es auch, nur daß dieser von seinen Bewohnern nach wie vor Erde genannt wird. Er ist aber nicht mehr der gleiche Planet, wie er vor dreißig oder fünfzig Jahren um die Sonne kreiste. Die Hydrokultivierung der Äcker ist weiter vorangeschritten, und die Insekten verschwinden. Und das nicht etwa nur auf jenem insektenlosen Rapsfeld in der schleswig-holsteinischen Agrarwüste, sondern in Gebieten, die in irgendeiner Form unter Naturschutz stehen und somit gar nicht intensiv bewirtschaftet werden. Doch in deren Nachbarschaft wird Landwirtschaft betrieben, was einen möglichen Verursacher des Insektensterbens in den Fokus rückt, nämlich den Einsatz von Agrarchemikalien. Die tragen meist unaussprechliche Namen wie Thiamethoxam, Imidacloprid und Clothianidin - alle drei sogenannte Neonicotinoide - oder Pendimethalin und Prosulfocarb, die zu den Herbiziden zählen.

Ein Landwirt hat zwar aus ökonomischen Gründen auch das Interesse, nicht mehr Chemikalien als erforderlich einzusetzen, aber eben auch nicht weniger. Das heißt, er wird seine Felder mindestens bis an den Rand heran oder knapp darüber hinaus mit Chemikalien besprühen, und er wird dies wahrscheinlich prophylaktisch tun, um einem Schädlingsbefall von vornherein entgegenzuwirken. Ob beim Sprühen immer windarme Zeiten genutzt werden, wie es vorgeschrieben ist, steht auf einem anderen Blatt.

Wind, Wetter, Verdunstung und Tiere können die Agrarchemikalien auch in weiter entfernte Gebiete tragen. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt. Jene Neonicotinoide wiederum werden hauptsächlich prophylaktisch auf die Samen aufgebracht (Beizung) und wandern nach der Keimung in sämtliche Pflanzenteile. Ein erheblicher Teil der chemischen Substanz jedoch - je nach den lokalen Bedingungen bis zu 98,4 Prozent [3] - wird von der Pflanze gar nicht aufgenommen, sondern verbleibt im Boden und läßt sich noch bis zu drei Jahre nach der Ausbringung nachweisen. Da Neonicotinoide sehr wasserlöslich sind, schädigen sie nicht nur in der unmittelbaren Umgebung die Bodenlebewesen, sondern werden bei Regen weggeschwemmt, gelangen in Fließgewässer und können dann auf Insekten treffen, die sich in vermeintlich nicht-exponierten Gebieten aufhalten.

Es ist bekannt, daß Insekten sehr empfindlich auf solche Chemikalien in der Luft oder auf, bzw. in den Pflanzenbestandteilen reagieren. Zum Beispiel sind einige der Neonicotinoide für Wild- und Honigbienen bis zu zehntausendmal giftiger als das aus dem Verkehr gezogene, berüchtigte DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan). Daher stellt sich die Frage, ob der in einer Reihe von wissenschaftlichen Studien und auch bei direkten Beobachtungen festgestellte Insektenschwund mit- oder gar hauptursächlich auf die "gute landwirtschaftliche Praxis", zu der eben auch der Pestizid- und Herbizideinsatz gezählt wird, zurückgeht.

Die Ergebnisse der teils von der Industrie finanzierten Untersuchungen zur Toxizität der Neonicotinoide auf Bienen ist zwar uneinheitlich, doch liegen ausreichend fundierte wissenschaftliche Studien vor, die die Europäische Union veranlaßt hat, den Gebrauch dieser weit verbreiteten Agrarchemikalien einzuschränken. Selbst wenn diese nicht tödlich (letal) sind, konnte ebenfalls in Studien gezeigt werden, daß auch subletale Effekte Bienen und andere Insekten so sehr schwächen, daß sie krankheitsanfälliger werden, verkümmern und vorzeitig verenden.

Konkret können Neonicotinoide bei Bienen Orientierungslosigkeit auslösen, so daß sie nicht mehr in ihren Stock zurückfinden, und auch den Schwänzeltanz durcheinanderbringen, so daß eine Biene ihren Artgenossen im Stock falsche Informationen über Futterquellen weitergibt. Die Ausbreitung der unter Imkern gefürchteten Varroa-Milbe kann durch Neonicotinoide noch verstärkt werden. Ein Befall des Stocks mit der Milbe führt bei den Bienen zur Schwächung der Immunabwehr - eine Nebenwirkung, die allerdings auch direkt durch Neonicotinoide ausgelöst werden kann.

Geologen diskutieren noch darüber, ob das gegenwärtige Zeitalter Anthropozän genannt werden sollte und falls ja, ab wann es eingesetzt hat. Wissenschaftlich gerechtfertigt wäre die Neubestimmung dann, wenn es einen Einfluß gibt, der sich geologisch weltweit niederschlägt und kein vorübergehendes Phänomen ist. Das Insektensterben - sowohl der Arten als auch der Individuen -, das wiederum zeitgleich zum generellen Artensterben stattfindet, würde die Kriterien erfüllen. Zumal der dringende Verdacht besteht, daß der Insektenschwund für den beobachteten, weitreichenden Rückgang der Vögel mitverantwortlich ist.

Eigentlich sollte in der Europäischen Union das Vorsorgeprinzip gelten. Sich darauf berufend könnte man sehr viel strengere Richtlinien oder sogar Verbote hinsichtlich noch immer zugelassener Pestizide erlassen, auch wenn bislang nicht bis ins letzte geklärt werden konnte, wie sehr sie das Insektensterben in Deutschland begünstigen. Der Anfangsverdacht ist jedenfalls auch und gerade gegenüber Neonicotinoiden hinreichend, ein Verbot zu rechtfertigen.


Fußnoten:

[1] http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0185809

[2] https://www.weltagrarbericht.de/aktuelles/nachrichten/news/de/32992.html

[3] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5420372/pdf/10646_2017_Article_1790.pdf

14. Februar 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang