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ATOM/376: Gorleben - Regierung erfährt Schützenhilfe durch EU-Kommissar Oettinger (SB)


EU-Kommission legt Richtlinienentwurf für Verbringung von Atommüll vor


Seit Jahren schwelt auf der Brüsseler Bühne und hinter den Kulissen eine Auseinandersetzung zwischen der EU-Kommission und den Mitgliedsländern, wer über die Verbringung von nuklearem Abfall befindet. Die Energiekompetenz ist national organisiert, doch schon die frühere EU-Kommissarin für Verkehr und Energie Loyola de Palacio (1999 - 2004), die eine Anhängerin der Atomenergie war, erweckte den Eindruck, sie wolle die Souveränität der Staaten untergraben. Dabei biß sie letztlich auf Granit, was sicherlich auch auf den von ihr eingeschlagenen mitunter harschen Tonfall zurückzuführen war.

Der heutige EU-Energiekommissar Günther Oettinger spricht sich ebenfalls klar für die Nutzung der Atomenergie aus. Er wiederholt jedoch nicht den Fehler seiner Vorgängerin und wählt in seinem am Mittwoch offiziell vorgestellten Richtlinienentwurf [1] vorsichtigere Formulierungen. So heißt es dort: "Die letztgültige Verantwortung für den Umgang mit abgebrannten Brennelementen und radioaktivem Abfall bleibt bei den Staaten. Darüber hinaus ist es ein anerkanntes ethisches Prinzip, daß die Gesellschaft vermeiden sollte, zukünftigen Generationen unangemessene Belastungen aufzubürden." [2]

Indem Oettinger ein übergeordnetes ethisches Prinzip für sich reklamiert, tut er so, als gelte das für die Nationalstaaten nicht oder zumindest nur ungenügend - ansonsten hätte es keiner Erwähnung bedurft. In der Mitteilung Loyola de Palacios vom November 2002 heißt es zum gleichen Thema: "Die Union sollte sich vergewissern, dass die Entscheidungen der Mitgliedstaaten innerhalb einer vernünftigen Frist und in Achtung künftiger Generationen gefällt werden." [3]

In dieser Mitteilung wird auch auf eine angebliche Lücke im Euratom-Vertrag hinsichtlich des Schutzes kerntechnischer Anlagen verwiesen sowie darauf, daß mit dem Beitritt zehn neuer Mitgliedstaaten zur Europäischen Union "ein Thema in den Brennpunkt gerückt" ist, "das bei den vorherigen Erweiterungen eine untergeordnete Rolle spielte - die Atomwirtschaft". Dem Nuklearsektor müsse bei der Erweiterung der Europäischen Union "besondere Aufmerksamkeit" gewidmet werden. Außerdem wird in der Mitteilung von der "etwas paradoxen Situation" gesprochen, daß "Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich nuklearer Sicherheit in Drittstaaten international anerkannt und begrüßt werden, ihre internen Handlungsmöglichkeiten jedoch beschränkt sind". Alles in allem forderte die EU-Kommissarin gemeinsame Normen aller EU-Mitglieder, was vermutlich einer Kompetenzverlagerung in Richtung Europäische Union den Weg bereiten sollte.

Die EU-Kommissarin berührte gern die Grenzregion zwischen ihrer Kompetenz und der der Unionsmitglieder. In einem Interview mit dem Magazin "Focus" äußerte sie sich deutlicher als in den offiziellen Schreiben. Sie werde in jedem Fall von allen EU-Mitgliedstaaten verlangen, innerhalb einer Frist nationale Endlager für Nuklearabfälle zu benennen, erklärte sie laut verifox.de. [4] Alle EU-Länder müßten bis 2008 Standorte festlegen.

Dem Ansinnen hatte der damalige deutsche Umweltminister Jürgen Trittin widersprochen, da er sich nicht vorzeitig auf Gorleben als Endlagerstandort festnageln lassen wollte. Schließlich hatte er eigens einen Arbeitskreis Endlager ins Leben gerufen, dem auch zivilgesellschaftliche Kräfte angehörten, um Kriterien für die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Stoffe zu erarbeiten. De Palacio wird mit den Worten zitiert: "Mit seinem Widerstand verhindert der Deutsche mehr Sicherheit zum Nutzen der Bürger in ganz Europa. Sie werde deshalb ihre Atompolitik weitertreiben - 'ob es Trittin passt oder nicht'. Der Grünen-Politiker freue sich zu früh, wenn er die Atomkraftpläne der EU-Kommission für tot erkläre." [4]

Zwei Jahre zuvor hatte sich selbst der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement gegen den Zeitdruck de Palacios gewandt, wobei es ihm aber auch darum ging, die milliardenschweren Rücklagen der Atomwirtschaft vor dem Zugriff de Palacios zu schützen, wie das Magazin "Focus" schrieb. [5] Selbst wenn Oettinger etwas sanftere Töne anschlägt als de Palacio, tritt er in ihre Fußstapfen, indem er konkrete Zeitvorgaben macht. Sobald die Richtlinie angenommen ist, sollen alle Unionsmitglieder, die über Kernbrennstoff oder Atommüll verfügen, binnen vier Jahren Pläne für ein Endlagerkonzept vorlegen.

Der Vorstoß des EU-Kommissars kommt nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, da erneut ein Castor-Transport auf den Weg zum geplanten Endlager Gorleben gebracht wird und sich dagegen Widerstand formiert. Der Salzstock soll zwar "nur" auf seine Tauglichkeit hin erkundet werden, aber in der Vergangenheit wurden die Erkundungsarbeiten bereits so dimensioniert, daß die Anlage gegebenenfalls relativ leicht zu einem Endlager ausgebaut werden kann. Auch der Aufbau einer Pilotkonditionierungsanlage in der Nähe des Salzstocks Gorleben spricht für die Existenz von Plänen der Regierung, die sich anscheinend längst für den wendländischen Standort entschieden hat und nicht gewillt ist, nach einem anderen Endlagerstandort zu suchen.

Geologen haben schon vor Jahrzehnten gewarnt, daß sich der Salzstock nicht als Endlager eignet, da Salzgestein wegen der Wärmeentfaltung eine Dynamik entfaltet, wodurch es zu Wassereinbrüchen kommen kann. Die jüngsten Berichte über eine Explosion im Salzstock noch zu DDR-Zeiten sowie auf westlicher Seite festgestellte Erdgas- und Erdölvorkommen wecken nicht gerade Vertrauen darin, daß die von der schwarz-gelben Bundesregierung wieder aufgenommene "Erkundung" Gorlebens nach fachlichen Kriterien erfolgen wird. Andernfalls wären die Pläne vom Tisch. Doch das alles bekümmert den früheren baden-württembergischen Landesvater und Parteifreund der Bundeskanzlerin offenbar nicht. In Oettingers Richtlinienentwurf wird zwar die Kompetenz der Energiepolitik der EU-Staaten nicht in Frage gestellt, doch wird ein umfangreiches Maßnahmenpaket präsentiert, zu was sie sich verpflichten sollen.

Mit dem Vorschlag, innerhalb von vier Jahren nach Annahme der Richtlinie Pläne zur Endlagerung radioaktiven Abfalls vorzulegen, erhöht die EU-Kommission den Druck auf die Bundesregierung. Allerdings dürfte diese den Druck gerne an die Atomkraftgegner weitergeben, die durch ihre Proteste den reibungslosen Ablauf der Nuklearwirtschaft nachhaltig stören. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich das demnächst in verschärften Repressionen gegen Anti-Atomdemonstranten niederschlüge.

Weltweit existiert noch kein einziges sicheres Endlager für hochradioaktive Substanzen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht. Dennoch haben die Regierungen damals die Weichen in das nukleare Zeitalter gestellt und behalten die Richtung bis heute unverdrossen bei. Die von der Bundesregierung geplante Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke um durchschnittlich acht Jahre wird die Menge an Atommüll, für den noch kein plausibles Entsorgungskonzept vorliegt, weiter erhöhen.

Wer wie der EU-Kommissar von Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen spricht, sollte eigentlich einen raschest möglichen Ausstieg aus der Atomenergienutzung fordern. Und wer über die Sicherheit radioaktiver Endlager spricht, kann damit nicht nur die nächste und übernächste Generation gemeint haben, was eigentlich schon nicht mehr überschaubar wäre, sondern müßte Hunderte von Generationen vorausblicken und die Sicherheit des Endlagers garantieren. Man braucht sich nur die Mauscheleien um das Endlager Asse und die katastrophalen Folgen anzuschauen, um zu der Gewißheit zu gelangen, daß die Sicherheit eines Endlagers für hochradioaktive Stoffe nicht mal für die gegenwärtige Generation gewährleistet wäre.

Aus hegemonialen Gründen liegt es nahe, daß der administrative Apparat der Europäischen Union bestrebt ist, seine Kompetenzen zu erweitern und auf einem so herrschaftsförmig bedeutenden Gebiet wie das der Energiepolitik zu vervollständigen. Wie bei keinem anderen Energieträger erfordert die Handhabung von Uran eine umfassende Sicherheitsarchitektur und liefert auf diese Weise dem Staat reichlich Anlässe, seine Repressionstechniken weiter auszubauen.


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Anmerkungen:

[1] "Proposal for a COUNCIL DIRECTIVE on the management of spent fuel and radioactive waste", Brussels, 3.11.2010 COM(2010), 618 final 2010/0306 (NLE), 3. November 2010
http://ec.europa.eu/energy/nuclear/waste_management/doc/2010_11_03_proposal_directive_radiactive_waste.pdf

[2] Schattenblick-Übersetzung. Im englischen Original:
Ultimate responsibility for the management of spent fuel and radioactive waste rests with the States. Furthermore, it is an accepted ethical principle that the society should avoid imposing undue burdens on future generations (...)

[3] "Nukleare Sicherheit im Rahmen der europäischen Union", KOM(2002) 605 endgültig; MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT UND DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Brüssel, den 6. November 2002
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2002:0605:FIN:DE:PDF

[4] "EU-Kommissarin kritisiert Trittins Haltung zu Atomendlager", dpa, 26. Juli 2004
http://www.verivox.de/nachrichten/eu-kommissarin-kritisiert-trittins-haltung-zu-atomendlager-6805.aspx

[5] "Zoff um Atommüll", FOCUS Magazin, Nr. 47 (2002), 18. November 2002
http://www.focus.de/magazin/archiv/periskop-zoff-um-atommuell_aid_206168.html

4. November 2010