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ATOM/384: Tokio im Jahr 2020 - Stadt der Geister? (SB)


Trinkwasser in der japanischen Hauptstadt bereits für Babys ungeeignet


Am 11. März 2011 wurde das japanische Atomkraftwerk Fukushima I von einem Tsunami überspült und geriet daraufhin außer Kontrolle. Bis heute konnte die Gefahr eines Super-GAU, der zudem womöglich nicht auf einen der dort vorhandenen sechs Reaktorblöcke beschränkt bliebe, nicht behoben werden. Keine zwei Wochen liegt der Beginn der Katastrophe zurück, schon wird über mögliche Schadenssummen spekuliert, oder es wird prognostiziert, daß das Atomkraftwerk möglicherweise unter einem Sarkophag verschlossen werden muß.

Jegliche Einschätzungen und Prognosen zur finanziellen Schadenshöhe verschleiern allerdings den Umstand, daß die eigentliche Katastrophe noch bevorsteht. Die Strahlenschäden durch Fukushima I weisen inzwischen große Ähnlichkeiten mit denen des Tschernobyl-GAU von 1986 auf, wie die Online-Publikation telepolis unter Berufung auf den Präsidenten der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, berichtete. [1]

Demnach haben die japanischen Behörden "Beta-Gamma-Kontaminationen zwischen 200.000 und 900.000 Becquerel (Bq) pro Quadratmeter (...) in einer Entfernung von 16 bis 58 km Entfernung" um Fukushima I registriert. Das entspricht in etwa den Hot spots, also stark radioaktiven Stellen in der Ukraine. Als hochverstrahlt galten den russischen Behörden diejenigen Örtlichkeiten, an denen mehr als 555.000 Bq pro Quadratmeter gemessen wurden, schreibt telepolis. Die japanischen Strahlenwerte sind teilweise höher. Dabei liegt der Unfallbeginn keine zwei Wochen zurück, woraus abzuleiten ist, daß die Verstrahlung sowohl räumlich als auch hinsichtlich ihrer Intensität noch zunehmen wird.

Doch schon jetzt wird von den Behörden bekanntgegeben, daß elf Gemüsesorten aus der Umgebung des Akw radioaktiv stark belastet und zum Verzehr ungeeignet sind und daß das Trinkwasser in der Hauptstadt Tokio für Babys nicht mehr geeignet ist. In einer Wasseraufbereitungsanlage, welche die Metropole und fünf weitere Städte beliefert, wurde radioaktives Jod 131 mit einem Belastungswert von 210 Becquerel pro Liter Trinkwasser gemessen. Der Grenzwert für Kleinkinder liegt bei 100 Becquerel, der für Erwachsene bei 300 Becquerel.

Könnte man die radioaktive Belastung beim jetzigen Stand einfrieren, würde Tokio nach und nach entvölkert. Sämtliche Familien mit jungen Kindern würden in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten wegziehen, sofern es ihnen irgend möglich ist, und es würde keinen Zuzug von jungen Familien geben. Tokio wandelte sich zunächst zu einer Stadt der Alten und anschließend zu einer Geisterstadt.

Nun läßt sich der Stand der Strahlenbelastung nicht einfrieren. Jod 131 hat eine Halbwertszeit von acht Tagen und wird relativ zu anderen radioaktiven Stoffen rasch wieder aus dem Trinkwasser verschwinden ... sofern nicht neues Jod 131 eingetragen wird. Oder Cäsium. Oder Plutonium und andere Transurane. Von dieser Möglichkeit muß man jedenfalls ausgehen angesichts der unkontrollierten Vorgänge in mehreren Kraftwerksblöcken von Fukushima I. Es gibt vermutlich keinen Experten auf der Welt, der annimmt, daß die Verstrahlungsgefahr in den nächsten Tagen gebannt wird. Bleibt sie aber oder nimmt zu, wird der Großraum von Tokio entvölkert. Ein Gebiet so groß wie Schleswig-Holstein.

Da der Wind nicht unvermittelt bei Tokio endet, drohen in den nächsten Wochen auch südlicher gelegene Regionen Japans sowie Nord- und Südkorea, Teile Chinas und Sibiriens radioaktiv kontaminiert zu werden. Wie stark die Belastung sein wird, läßt sich nicht abschätzen, aber daß mindestens in Japan ganze Landstriche abgeschrieben werden müssen, ist anzunehmen.


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Nachfrage I: Hat es mit Alarmismus zu tun, wenn an dieser Stelle die Frage aufgeworfen wird, warum ein profitorientiertes, börsennotiertes Unternehmen wie der japanische Atomkonzern TEPCO die alleinige Verantwortung dafür erhält, eine möglicherweise menschheitsgeschichtlich bedeutsame Katastrophe zu beheben?

Nachfrage II: Wer hat es zugelassen bzw. nicht verhindert, daß ein profitorientiertes, börsennotiertes Unternehmen wie der japanische Atomkonzern TEPCO überhaupt eine möglicherweise menschheitsgeschichtlich bedeutsame Katastrophe auslösen kann?

Anmerkungen:

[1] "Die wirkliche Katastrophe beginnt erst in Fukushima", telepolis, 23. März 2011
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/34/34414/1.html

23. März 2011