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ATOM/412: Union of Concerned Scientists - Sicherheitsempfinden der Akw-Betreiber und Behörden zu lax (SB)


US-Atomaufsichtsbehörde lebt von der Gnadenfrist

Atomkraftwerke bedenklich unsicher, aber noch ist nichts Gravierendes passiert


Vor kurzem hat die US-amerikanische Atomaufsichtsbehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission) die Genehmigung zum Bau von zwei neuen Atomkraftwerken erteilt. Weitere Anlagen sollen folgen. Damit will die US-Regierung ihre Abhängigkeit von Erdölimporten, die zumeist aus politisch unsicheren Regionen stammen, verringern. Wohingegen der Nachschub mit dem Energieträger Uran als zuverlässig gilt, stammt er doch aus eigener Produktion oder eng mit den USA verbündeten Ländern wie Kanada und Australien.

Die Vereinigten Staaten unterhalten rund 100 Atommeiler, verteilt auf 60 Standorte. Wenngleich es dort seit dem Beinahe-GAU (größter anzunehmender Unfall) von Harrisburg 1979 offiziell keinen schweren Unfall mit der Freisetzung radioaktiver Strahlung gegeben hat, stellen die Meiler eine potentielle Gefahr für Umwelt und Gesundheit dar. Auch die japanischen Akws zählten bis zur Zerstörung des Nuklearkomplexes Fukushima Daiichi, der aus sechs Meilern und beigeordneten Zwischenlagern besteht, am 11. März 2011 durch ein Erdbeben und anschließenden Tsunami nach Angaben ihrer Betreiber als die sichersten der Welt. Erst nach dem Unfall kam heraus bzw. wurde zugestanden, daß die Reaktoren technologisch veraltet waren.

Die US-amerikanische Wissenschaftlervereinigung Union of Concerned Scientists (UCS) hat Anfang dieses Monats eine Studie mit dem Titel "The NRC and Nuclear Power Plant Safety in 2011 - Living on Borrowed Time" [1] herausgegeben, in der sie die Tätigkeit der Atomaufsichtsbehörde und die Sicherheit der Atomkraftwerke am Beispiel von 15 Beinahe-Unfällen (near-misses), zu denen die NRC im vergangenen Jahr besondere Ermittlungen durchgeführt hatte, analysiert. Im Durchschnitt mehr als ein solcher Unfall pro Monat sei für eine seit langem eingeführte Technologie zu hoch, schreibt Studienautor David Lochbaum. Dessen fachliche Kompetenz gilt als unstrittig. Der Leiter des Projekts zur Nuklearen Sicherheit (Nuclear Safety Projects) der UCS hat 17 Jahre lang in Atomkraftwerken gearbeitet und war bei der Atomaufsichtsbehörde Fachberater für Fragen zu Siedewasserreaktoren.

Die Beschreibungen der 15 Beinahe-Unfälle liefern einen Eindruck, wie man ihn vermutlich in jedem anderen Industriezweig auch gewinnen wird. Materialermüdungen, Fehlverhalten der Belegschaft, Ausfall wichtiger Funktionen sind in der industriellen Produktion an der Tagesordnung. Genau das ist das Problem. Bei Atomkraftwerken sollte so etwas nicht passieren. Zwar können sich Unfälle in anderen Wirtschaftssektoren ebenfalls zu schwerwiegenden Katastrophen entwickeln, wie 1984 der Giftgasaustritt aus der Chemiefabrik Union Carbide in der indischen Stadt Bhopal, bei dem Schätzungen zufolge 20.000 Einwohner sofort und an den langfristigen Folgen gestorben sind, gezeigt hat, dennoch bilden Atomkraftwerke eine eigene Gefahrenkategorie. Vom gesundheitsschädigenden Abbau des Natururans in Ländern wie Niger bis zur vollkommen inkompetenten und fahrlässigen Einlagerung atomarer Abfälle in der Asse wurde die besondere Gefährlichkeit des Hantierens mit Strahlenmaterial deutlich. Selbst bei einem störungsfreien Akw-Betrieb wird Strahlung freigesetzt, sei es durch die Kühlsysteme, sei es bei den jährlichen Wartungsarbeiten, wenn zum Brennelementewechsel der Reaktordeckel gelüftet wird und das radioaktive Gas Radon entweicht.

Unfälle in Verbindung mit Strahlenmaterial sind oftmals von weitreichender, grenzüberschreitender Bedeutung. Die Geschichte der nicht-militärischen Nutzung der Kernenergie zeigt sich zugleich als eine Geschichte schwerer bis schwerster Unfälle. Geradezu katastrophale Vorfälle wie der im britischen Windscale 1957, Three Mile Island 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 bilden herausragende Eckpunkte, zwischen denen wiederum zahlreiche kleinere Vorfälle mit Strahlenfreisetzung anzusiedeln sind.

Die Studie der US-amerikanischen Vereinigung besorgter Wissenschaftler beurteilt nun jene 15 Beinahe-Unfälle aus dem vergangenen Jahr, bei denen zwar keine Radioaktivität entwichen ist und somit niemand zu Schaden kam, die aber unter leicht veränderten Voraussetzungen zu katastrophalen Ereignissen hätten auswachsen können. Zu vielen dieser Vorfälle sei es nur deshalb gekommen, weil die Akw-Betreiber Sicherheitsprobleme entweder toleriert oder unzureichende Maßnahmen zu ihrer Behebung ergriffen hätten, schreibt Lochbaum.

Als ein Beispiel nannte er einen Vorfall im Akw Oconee in South Carolina, in dem 1983 ein Sicherheitskühlsystem für den Reaktor installiert worden war. Aber erst 2011, ein Vierteljahrhundert später, hätten Arbeiter einen Fehler im System erkannt; es wäre bei einem Unfall nutzlos gewesen. Brisanterweise ist das Akw Oconee baugleich mit dem Akw Three Mile Island, bei dem 1979 im Block 2 eine partielle Kernschmelze eintrat. Ursache: mangelnde Kühlung ...

Weitere Beispiele aus der Liste der Vorfälle: In den Akws Braidwood und Byron in Illinois hatten sich Arbeiter seit 1993 angewöhnt, Wasser aus einem Sicherheitssystem abzulassen, um auf diese Weise der Korrosion aufgrund des Einleitens von unbehandeltem Seewasser vorzubeugen. Bei einem Unfall hätte das Sicherheitssystem nicht angemessen funktioniert. Im Akw Callaway, Missouri, war eine Notfallpumpe im Rahmen von Routinetests immer weiter verschlissen worden. Der Pumpenhersteller hatte empfohlen, das Aggregat nur bei geringerer Geschwindigkeit laufen zu lassen, doch war diese Empfehlung ignoriert worden.

Im Akw Cooper in Nebraska City wurden Detektoren, die nur darauf ausgelegt waren, den Reaktorkern bei niedriger Strahlung zu überwachen, einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt. Im Akw North Anna in Richmond, Virginia, hat ein Erdbeben von einer Stärke, für die das Akw nicht ausgelegt war, zur automatischen Schnellabschaltung beider Reaktoren, die zu dem Zeitpunkt unter Vollast liefen, geführt. Im Akw Turkey Point in Miami, Florida, war ein Ventil ausgefallen und hatte den Zufluß von Kühlflüssigkeit für die Motoren zur Kühlung des Reaktors und für ein Abklingbecken mit gebrauchten Brennstäben unterbunden.

Lochbaum, der als "Nuklearveteran" der Nutzung der Atomenergie offenbar nicht prinzipiell ablehnend gegenübersteht, lobt die Tätigkeit der NRC, übt aber auch Kritik. So dürften 47 Reaktoren elektrischen Strom produzieren, obgleich die bis in die achtziger Jahre zurückreichenden Brandschutzmaßnahmen nicht erfüllt seien. 27 Reaktoren liefen ungeachtet dessen, daß ihre mangelnde Erdbebensicherheit seit 1996 bekannt sei. Für acht Reaktoren gelte beides. Zu den großen Nuklearkatastrophen sei es wegen einer Handvoll bekannter, aber nicht behobener Probleme gekommen. Die Betreiber der US-Atomkraftwerke, in denen im vergangenen Jahr jene Beinahe-Unfälle auftraten, hätten beinahe alle Probleme im Vorfeld beheben können, so Lochbaum. Daraus zieht er den Schluß, daß weder die Akw-Betreiber noch die NRC die Lektionen aus der Vergangenheit "vollständig verinnerlicht" haben.

Abgesehen von der Kritik des UCS-Autors zeigen die 15 Beispiele für Beinahe-Unfälle, die in ähnlicher Form in jedem Staat, der Atomenergie produziert, auftreten, daß die Technologie prinzipiell brisant ist. Die UCS setzt sich dafür ein, daß die Atomaufsichtsbehörde ihre Verantwortung wahrnimmt und sich die Betreiber der Kernkraftwerke an die Bestimmungen halten. Wenngleich nichts gegen diese Forderungen spricht, müßten die Forscher konsequenterweise über ihre Argumentation, daß beim gleichzeitigen Ausfall mehrerer Funktionen eines Akw die Gefahr einer Nuklearkatastrophe wächst und die Atomaufsichtsbehörde im vergangenen Jahr von der Gnadenfrist gelebt hat, hinausgehen. Denn auch wenn in einem Meiler alles bestens läuft, kann es zu "unglücklichen" Koinzidenzen mit fatalen Folgen kommen.

In der Marktwirtschaft stellt der Energieverbrauch an sich einen Wert dar. Je höher der Verbrauch, um so mehr Profite lassen sich erwirtschaften. Das offenbart eine Denkweise und ein Technologieverständnis, in dem Aufwand und Verschleiß unhinterfragt als fortschrittlich gehandelt werden. Daß mit Atomkraftwerken vor allem das Ausmaß des Brandes seit der ersten Nutzbarmachung des Feuers in irgendeiner Höhlenecke durch unsere Vorfahren fortgeschritten ist und daß dies die Menschen nicht etwa von der Fessel und Abhängigkeit, ihre nunmehr beton- und stahlverkapselten Feuerstellen hüten zu müssen, befreit, sondern umgekehrt sie immer mehr dieser Tätigkeit unterworfen hat, wird von den Apologeten der nuklearen Risikotechnologie wohlweislich verschwiegen.



Fußnoten:

[1] "The NRC and Nuclear Power Plant Safety in 2011: Living on Borrowed Time", David Lochbaum, Union of Concerned Scientists, März 2012
http://www.ucsusa.org/assets/documents/nuclear_power/nrc-nuclear-safety-2011-full-report.pdf

1. März 2012