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KLIMA/538: Grönlands Gletscher in den Startlöchern ... (SB)


Systemrelevante Folgen der Erderwärmung



Aus mehreren wissenschaftlichen Studien der jüngeren Zeit geht hervor, daß das Klimasystem der Erde schneller ablaufende und weitreichendere Veränderungen erfahren könnte als bislang angenommen. Die Forscher rechnen vor allen Dingen mit einer rascheren Erderwärmung. Die jüngste Meldung zu diesem Thema besagt, daß die Gletscher Grönlands viel empfindlicher auf den Meeresspiegelanstieg reagieren und darauf mit einer höheren Fließgeschwindigkeit bzw. einem stärkeren Abschmelzen antworten werden, als in früheren Computersimulationen berechnet wurde.

Die früheren Einschätzungen haben mit den speziellen Satellitendaten zur zerklüfteten Küstenzone aus Land-, Eis- und Wasserflächen Grönlands zu tun. Die Radar-Messungen ergaben bislang in vielen Regionen kein eindeutiges Höhenprofil vom Felsgestein unterhalb des Eispanzers, die Daten wurden gewissermaßen durch den engen räumlichen Wechsel von zerklüftetem Untergrund und Eis verwischt. Eine Forschergruppe der Universität von Kalifornien in Irvine (UCI) und der NASA hat nun aufgrund neuer Berechnungen "entdeckt", daß sich im Küstenbereich unter dem Eispanzer Grönlands bis zu hundert Kilometer lange Täler fingerartig landeinwärts erstrecken. Da die Talsohlen jeweils unterhalb des Meeresspiegels liegen, rechnen die Forscher damit, daß sich die Gletscher im Zuge der Erderwärmung schneller zurückziehen werden.

Die Gletscherschmelze hat bereits zugenommen, da die Wassertemperatur der Meereströmungen entlang der Küste steigt. Wenn nun der subtropische atlantische Meeresstrom an den Kalbungsgebieten Hunderter Gletscher in Süd- und Westgrönland vorbeizieht und die Eismassen "abrasiert", dann werden dabei die Gletscher in Richtung Aufsetzlinie von Eis auf Gestein unterhöhlt. Das verhältnismäßig warme Wasser dringt somit an der Grenzschicht zwischen Eis und Gestein landeinwärts vor, löst dadurch gewissermaßen die "Bremse" der Gletscher, die daraufhin schneller als zuvor ins Meer abfließen.

Hatte unter den Forschern bislang die Vorstellung vorgeherrscht, daß die Gletscherschmelze nach einer anfänglich schnelleren Phase wieder abgebremst wird, sobald das Meer die Gletscherzunge nicht mehr von unterwärts anschmelzen kann, da es schon bald auf Gestein trifft, geht die Forschergruppe nun von einem anderen Szenario mit einer weit im Landesinnern anzusiedelnden Aufsetzlinie aus. Studienleiter Mathieu Morlighem von der UCI sagte laut einem Bericht von ScienceDaily.com: "Eingedenk der sehr differenzierten Topographie, die wir unterhalb des Eises entdeckten, ziehen sich die Gletscher Grönlands wahrscheinlich schneller und tiefer landeinwärts zurück als vorausgesehen - und auch über einen längere Zeitraum. (...) Das hat weitreichende Implikationen, denn die Gletscherschmelze wird einen größeren Beitrag zum weltweiten Meeresspiegelanstieg leisten." [1]

Das geschieht nicht von heute auf morgen, solche Vorgänge sind von zahlreichen Faktoren abhängig. Die Glaziologen rechnen in längeren Fristen als einem Menschenleben. Dennoch rückt der Zeitpunkt, an dem laut Prognosen das grönländische Eis vollständig abgeschmolzen ist, was mit einem sieben Meter höheren Meeresspiegel einherginge, näher.

Bei einer Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur von 1,5 Grad Celsius dauert es vielleicht 10.000 Jahre, bis der Eispanzer Grönlands verschwunden ist, sagte Anders Levermann, Professor für die Dynamik des Klimasystems und Leiter des Forschungsbereichs Nachhaltige Lösungsstrategien am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, gegenüber dem Schattenblick. "Wenn man aber deutlich darüber ist, beispielsweise bei fünf Grad, dann geht das entsprechend schneller." [2]

Hier wäre natürlich zu fragen, was "entsprechend" bedeutet. Von welchen Fristen sollte man ausgehen? Und wie belastbar sind eigentlich die neuen Berechnungen der US-Forscher? Sie können zwar auf eine größere Menge an Daten zurückgreifen, die aufgrund der Überflüge im Rahmen des Projekts "NASA Operation IceBridge" ab dem Jahr 2009 gewonnen wurden, aber jene verwaschenen Flächen im Radarbild werden lediglich mathematisch "geschlossen". Es bedarf womöglich noch der Bestätigung durch andere Wissenschaftler, daß der von der Forschergruppe um Mathieu Morlighem verwendete "mass conservation algorithm", in dem Messungen zur Eisdicke mit Informationen zu Geschwindigkeit und Richtung der Eisbewegungen sowie Abschätzungen der Schneefallmenge und der Oberflächenschmelze kombiniert wurden, anerkannt wird.

Dieselbe Forschergruppe hat vor kurzem Berechnungen zu den Eisverhältnissen auf der Südhälfte der Erde veröffentlicht, zur Westantarktis. Schon seit längerem wird dort von Wissenschaftlern ein beschleunigter Anstieg der Wassertemperatur und eine raschere Gletscherschmelze beobachtet. Eric Rignot von der Universität von Kalifornien in Irvine und seinen Kollegen schreiben in den "Geophysical Research Letters" [3], daß die Kettenreaktion der Gletscherschmelze in der Westantarktis vermutlich nicht mehr zu stoppen sein wird.

Der riesige Thwaites-Gletscher, der eine Fläche von 182.000 Quadratkilometern einnimmt und in die Amundsensee mündet, droht zu kollabieren. Das hat zur Folge, daß nicht nur er, sondern auch die bislang von ihm abgestützten Eismassen im Landesinnern der Westantarktis ins Rutschen geraten und abschmelzen. In diesem Jahrhundert werden die Eisverluste noch gering sein und weniger als jährlich 0,25 Millimeter zum Meeresspiegelanstieg beitragen. Aber bereits in 200, spätestens aber 900 Jahren könnte der Gletscher vollständig zerlegt sein, prognostiziert ein weiteres Forscherteam um Ian Joughin von der Universität von Washington in Seattle im Magazin "Science". Dann würde allein hierdurch der Meeresspiegel um mehr als 1 mm pro Jahr ansteigen. [4]

Nach einem kompletten Eisverlust des Thwaites-Gletscher läge der Meeresspiegel 60 Zentimeter und nach dem Abschmelzen der gesamten westantarktischen Eismasse sogar 300 bis 400 Zentimeter höher.

So folgenschwer der Eintritt eines solchen Szenarios auch wäre, ganz und gar das Antlitz der Erde verändern würde vor allem das Abschmelzen des ostantarktischen Eisschilds. Dort lagern die mit Abstand größten Eismassen des Planeten, und sie lagern sicher. Dachte man zumindest lange Zeit. "Entkorken der Ost-Antarktis führt zu Anstieg des Meeresspiegels", titelte am 5. Mai 2014 das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung seine Presseerklärung. [5] Matthias Mengel, Leitautor einer in "Nature Climate Change" [6] veröffentlichten Studie, und seine Kollegen haben neue Computerberechnungen durchgeführt, in die - ebenso wie in der oben erwähnten Studie zu Grönland - neuere Daten zum Untergrund der Antarktis Eingang fanden.

"Das Wilkes-Becken der Ost-Antarktis ist wie eine gekippte Flasche. Wenn der Korken gezogen wird, entleert sie sich", erklärte Mengel. Demnach würden die Gletscher ins Fließen geraten, wenn jener "relativ kleine" Korken aus Eis an der Küste vom Meerwasser weiter abgetragen wird und die Aufsetzlinie der Neigung des Untergrunds folgend landeinwärts wandert. Die Pegelstände in den Häfen würden in diesem Fall durchschnittlich 300 bis 400 Zentimeter steigen.

"Der vollständige Meeresspiegelanstieg wäre letztlich bis zu 80 mal größer als der durch das anfängliche Abschmelzen des Eiskorkens", sagte Ko-Autor Anders Levermann. "Bislang galt nur die Westantarktis als instabil, aber jetzt wissen wir, dass ihr zehnmal größeres Gegenstück im Osten möglicherweise auch in Gefahr ist." Wir haben vermutlich bislang die Stabilität der Ost-Antarktis überschätzt, so Levermann, der auch einer der Leitautoren des Meeresspiegelkapitels im aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change) ist.

Den hier erwähnten neueren Studien sind in der Regel andere Studien vorausgegangen. Ob die aktuellen Untersuchungen von Rignot, Morlighem, Mengel und Joughin noch Eingang in den 5. Sachstandsbericht, den der IPCC in drei Teilen veröffentlicht hat (die Veröffentlichung des vierten, zusammenfassenden Teils ist für September angekündigt), gefunden haben, ist ungewiß. Von den früheren Sachstandsberichten her weiß man jedoch, daß einige Annahmen nach wenigen Jahren von der realen Klimaentwicklung fast schon überholt wurden oder daß zumindest die zuvor als Worst-case-Szenario bezeichnete Prognose zum Temperaturanstieg schon bald darauf im mittleren Prognose-Bereich anzusiedeln war.

Das sogenannte 2-Grad-Ziel, demzufolge eine globale Erwärmung bis zum Jahr 2100 um nicht mehr als zwei Grad Celsius gegenüber dem Beginn des Industriezeitalters vor rund 200 Jahren zunehmen soll, kann laut dem IPCC zwar noch eingehalten werden, aber nur, wenn die Politik nicht zögert und die erforderlichen Klimaschutzmaßnahmen ergreift. Werden dagegen weiterhin so viele Treibhausgase wie gegenwärtig emittiert, dann wird die Durchschnittstemperatur am Ende des Jahrhunderts rund vier Grad höher sein.

Oder vielleicht noch höher? Diese Möglichkeit mag sich so recht niemand ausmalen, denn bereits bei zwei Grad dürften Entwicklungen eintreten, die nicht mehr aufzuhalten sind und den Treibhauseffekt massiv verstärken. Der Verlust des Meereises in der Arktis wäre so ein Mechanismus, da die helle Eisfläche bislang die Sonneneinstrahlung reflektiert hat. Auch das Auftauen des sibirischen Permafrostbodens hätte weitreichende Konsequenzen für das Klima, da durch diesen Prozeß größere Methanmengen freigesetzt werden.

Methan ist ein mindestens zwanzig Mal so wirksames Treibhausgas wie das bekannteste Treibhausgas, Kohlendioxid. Die Erde würde sich also durch die Methanausgasungen weiter erwärmen, was wiederum das Auftauen des Permafrostbodens beschleunigte. Vielleicht wurde diese Entwicklung bereits eingeleitet. Rußland verzeichnet eine im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich starke Erwärmung. Allein 2013 hat dort die Durchschnittstemperatur 1,5 Grad höher gelegen als im Vorjahr, berichtete Klimaretter.info. [7]

Die Eisschmelze auf Grönland und in der Antarktis, der Verlust des Meereises in der Nordpolarregion und die Erwärmung des Permafrostbodens in Rußland sind Folgen einer klimatischen Entwicklung, die der Mensch schon vor langer Zeit beeinflußt hat und deren Voraussetzungen natürlich nicht mehr rückgängig zu machen sind. Aus der Sicht zukünftiger Generationen gilt das gleiche mit Blick auf die heutige Zeit.

Prof. Ottmar Edenhofer, Chefökonom am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, sagte am 14. April 2014 anläßlich der Vorstellung des dritten IPCC-Teilberichts an der TU Berlin gegenüber dem Schattenblick: "Wir müssen anerkennen, dass wir in einer Welt irreversibler Risiken leben. Die Risiken des ungebremsten Klimawandels unterscheiden sich fundamental von den Risiken der Vermeidung. Die Risiken der Vermeidung kann man handhaben. Wenn man beispielsweise bei der Bioenergie einen Fehler macht, kann man das korrigieren. Anders dagegen das Klimasystem: Was wir bis 2050 an Kohlenstoff in der Atmosphäre ablagern, bestimmt das Klima in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und darüber hinaus." [8]

Aber welche Mengen an Kohlenstoff bis 2050 in der Atmosphäre abgelagert werden, wird nicht zuletzt von den politischen Entscheidungsträgern bestimmt, die in den zurückliegenden internationalen Klimaschutzverhandlungen unter Ägide der Vereinten Nationen wenig dafür getan haben, daß die globale Erwärmung gestoppt wird. Die Schadensfolgen des Klimawandels werden auf eine so umfangreiche Weise "systemrelevant" und so hohe Kosten verursachen, daß dagegen die milliardenschwere Rettung der vor einigen Jahren als systemrelevant bezeichneten Finanzinstitutionen aus der Portokasse gezahlt werden konnte.


Fußnoten:

[1] http://www.spacedaily.com/reports/Greenland_will_be_far_greater_contributor_to_sea_rise_than_expected_999.html

[2] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0035.html

[3] doi: 10.1002/2014GL060140

[4] http://www.sciencemag.org/content/344/6185/735.abstract

[5] http://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/entkorken-der-ost-antarktis-fuehrt-zu-anstieg-des-meeresspiegels

[6] www.nature.com/nclimate/journal/vaop/ncurrent/full/nclimate2226.html

[7] http://www.klimaretter.info/forschung/hintergrund/16436-russlands-wissenschaft-schlaegt-alarm

[8] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0096.html

23. Mai 2014