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KLIMA/622: Pariser Abkommen uneindeutig (SB)


Klimaschutz - was heißt "vorindustrielles Niveau"?


Als im November 2015 das Übereinkommen von Paris geschlossen wurde, haben sich die Vertragspartner auf zwei Grenzwerte geeinigt, die noch ziemlich ungenau sind. Wird eine Konkretisierung versäumt, öffnet allein das - neben vielem anderen bei der Ausgestaltung einzelner Klimaschutzmaßnahmen - einen so breiten Interpretationsspielraum, daß sich die Staaten den Klimaschutz schönreden könnten, ohne daß wirksame Schritte zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen gemacht werden. (Einen solchen "Zahlenzauber" (FIAN) globaladministrativer Eckdaten kennt man bereits beispielsweise von der Veränderung der Berechnungsgrundlage der FAO für die Anzahl der weltweit Hungernden.)

Im Klimaabkommen von Paris wurde beschlossen, daß "der Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen" (BMUB). Die Spanne zwischen diesen beiden Globalfaktoren ist riesig. Darüber wurde und wird bereits viel diskutiert; das ist einer der Gründe, weswegen die Klimaforschung nicht von einem "Ziel" spricht, sondern einen Begriff wie "Leitplanke" benutzt.

Nun berichtet eine Forschergruppe im Journal "Nature Climate Change", daß die Bezeichnung "vorindustrielles Niveau" nicht eindeutig definiert und daher interpretierbar ist. Je nach Definition hätte sich die Erde bereits entweder um 1,0 oder 1,2 Grad Celsius erwärmt. Der Unterschied sei keine Nebensache.

Die industrielle Revolution setzte bereits um 1750 ein, darauf bezieht sich auch der Weltklimarat (IPCC) mit seinen Projektionen. Regelmäßige Temperaturaufzeichnungen liegen aber erst seit etwa 1880 vor. Und laut Klimasimulationen hat sich die Erde zwischen 1401 und 1800 um bis zu 0,2 Grad erwärmt. Dieser Wert wird bisher in den CO2-Minderungszielen nicht berücksichtigt.

Übersetzt auf die noch maximal freizusetzenden CO2-Emissionen beträgt das verbliebene Budget entweder 300 Mrd. Tonnen oder eben nur noch 200 Mrd. Tonnen, wenn man die Erwärmung der letzten Jahrhunderte einrechnet. Das bedeutet, daß noch mehr fossile Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas gar nicht erst gefördert werden dürften, will man das Klimaschutzziel von Paris einhalten. Nach Einschätzung von Klimaexperten hat die Menschheit nur noch drei Jahre Zeit, um den Anstieg der Treibhausgasemissionen zu stoppen und eine Trendwende einzuleiten.

Uneingedenk der Diskussion über die Frage, was "Beginn der Industrialisierung" bedeutet, laufen nach Berechnungen der Website Climate Interactive die nationalen Zusagen im Pariser Abkommen zu Klimaschutzmaßnahmen auf einen Temperaturanstieg von 3,3 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau hinaus. Bei einem Weiter-so-wie-bisher käme man sogar auf 4,2 Grad Celsius. Ein solcher Temperaturanstieg ließe eine Welt entstehen, wie wir sie nicht kennen und die wohl auch kein Lebewesen kennenlernen möchte - sieht man vielleicht von Extremophilen ab. Jene Mikroorganismen wurden in hundert Grad heißen hydrothermalen Quellen am Meeresgrund entdeckt ...

In den Environmental Research Letters (12, 2017) berichten Fabienne Dahinden et al., daß die globale Erwärmung das Klima so sehr verändern wird, daß es für den saisonalen Temperaturverlauf und die Jahresniederschlagskurve keine Vergleiche gibt. Bereits bei einer Temperaturerhöhung um 1,5 Grad Celsius - gegenüber dem Zeitraum 1986-2005 gerechnet - wandeln sich 15 Prozent der Landfläche in ein, wie die Autoren es nennen, neuartiges Klima. Bei zwei Grad Erwärmung würden schon 21 Prozent und bei vier Grad Erwärmung mehr als ein Drittel der Landfläche jenem "novel climate" unterworfen. Für die saisonale Niederschlagsentwicklung ließen sich zwar alles in allem gute Analogien auf der gegenwärtigen Erde finden, nicht aber für den saisonalen Temperaturverlauf, und für beide Faktoren zusammen gebe es kaum Vorbilder, insbesondere nicht für die Tropen und Subtropen, heißt es.

Die Forschergruppe betont, daß es ihnen um den Jahresverlauf, nicht um die einzelne Jahreszeit geht, für die sehr wohl gute Analogien existierten. Ungeachtet dessen zeigt auch diese Studie, wie ernst die Lage ist. Weitere Verzögerungen beim Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energieträger, wie sie auch von der Bundesregierung betrieben werden - die ihre Klimaschutzziele voraussichtlich um 14 Prozent bis 2030 verfehlen wird, nachdem CDU und FDP die Regierungsgeschäfte im Braunkohleland NRW übernommen haben -, werden unaufhaltsame globalklimatische Entwicklungen einleiten.

Diesen könnte dann vermutlich nur noch durch Geoengineering, also die gezielte und schnell wirksame Beeinflussung des Klimas, entgegengetreten werden. Das wäre jedoch in vielerlei Hinsicht brandgefährlich. Während die klimatischen Folgen und Nebenwirkungen von Geoengineering bislang wenig bekannt sind, kann man ziemlich sicher sagen, daß die politischen Folgen extrem konfliktträchtig sein werden. Sollte bis dahin noch kein größerer Krieg auf der Erde ausgebrochen sein, würde er voraussichtlich dann entstehen. Jede Unwetterkatastrophe in einem Land würde den Verdacht wecken, daß sie vom Geoengineering eines anderen ausgelöst wurde. Da kann es kein Trost sein, daß bei Ausbruch eines Atomkriegs die globale Erwärmung viele Jahre kein Thema mehr sein wird, da dann auf der Erde der nukleare Winter herrschen wird.

25. Juli 2017


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