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BERICHT/043: Down to Earth - kreativer Widerstand (SB)


Gentrifizierung des Viertels Lavapiés in Madrid

IGC 2012 - Weltkongreß der Geographie vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln



Kaum ein anderes Phänomen wäre wohl besser geeignet, das gewaltige Konfliktpotential der städtebaulichen Umgestaltung Madrids vor Augen zu führen, als die aktuellen Massenproteste gegen die Politik des Mangels [1] der spanischen Regierung. Ist doch von den Verelendungsfolgen der von den kerneuropäischen Führungsstaaten oktroyierten und von der spanischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung in Stellung gebrachten Austeritätsmaßnahmen insbesondere das Wohnen betroffen: Die Mietpreise steigen teils exorbitant, so daß viele Menschen ihre Wohnung nicht mehr halten können. Und wenn sie sich zu hoch verschuldet haben, was vormals durch die Vergabe günstiger Kredite regelrecht gefördert wurde, landen sie auf der Straße - und der Immobilienbesitz gelangt zuhauf in die Hände der Banken und Finanzinstitute! Innerhalb eines Monats haben in Spanien drei Menschen Suizid [2] begangen, nachdem ihnen auf diese Weise ihr Zuhause weggenommen worden war. Tag für Tag werden Einwohner Madrids und anderer spanischer Städte auf die Straße gesetzt - ein deutliches Indiz dafür, wie massiv die Finanz- und Wirtschaftskrise der Eurozone auf die Bevölkerungen abgewälzt wird.

Ungeachtet der innergesellschaftlichen Widersprüche galten die Europäer im globalen Vergleich bislang als privilegiert. Das ändert sich zur Zeit. In Spanien kam es deshalb schon zu heftigen Protesten und am 14. November zu einem landesweiten Generalstreik. Einen Tag darauf sah sich die aus dem franquistischen Lager hervorgegangene Regierungspartei Partido Popular (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy genötigt, ein zweijähriges Moratorium auf Zwangsräumungen von Personen, die in besonders prekären Verhältnissen leben, auszusprechen. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit jemand das Moratorium in Anspruch nehmen kann, sehr eng gefaßt. Somit wurde zwar der Strom an Zwangsräumungen ein wenig verringert, aber noch längst nicht gestoppt. Außerdem bleiben die Menschen, die ihr Obdach verloren haben, weiterhin verschuldet und müssen selber sehen, wie sie die Bürde loswerden. Was ein nahezu aussichtsloses Unterfangen ist bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit laut IWF von 24,9 Prozent.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eva Youkhana und Christian Sebaly
Foto: © 2012 by Schattenblick

Diese hochbrisanten und aktuellen politischen Entwicklungen bilden den Hintergrund eines von der Verwaltung eingeleiteten urbanen Strukturwandels in Madrid, über den die Geographin Eva Youkhana und der Geograph Christian Sebaly, beide von der Universität Bonn, am 29. August 2012 auf dem Weltgeographiekongreß in Köln berichtet hatten. Unter dem Vortragstitel "Enactment of citizenship by creative activism in an immigration neighbourhood of Madrid" (Aneignung von Citizenship [3] durch kreativen Aktivismus in einer Einwanderungsnachbarschaft von Madrid) schilderten sie, wie in der zentrumsnahen Nachbarschaft (barrio) Lavapiés zu nächtlicher Stunde künstlerisch anmutende Grafittis und andere Formen urbaner Kunst gemalt werden. Wobei die Bilder teilweise überhaupt nur nachts zu sehen sind, nämlich immer dann, wenn die Ladenbesitzer die Rolläden ihrer Geschäfte herunterlassen.

In ihrem Vortrag beschränkten sich die Referentin und der Referent auf einen bestimmten Aspekt ihres umfassenderen Forschungsprojekts im Kompetenznetz Lateinamerika [4], den kreativen Aktivismus, der sich abgesehen von der künstlerischen Stadtgestaltung - die Wissenschaft bezeichnet dies als Aneignung des Raums - auch in der Bildung des sozialen und kulturellen Selbstmanagement-Centers La Tabacalera de Lavapiés niedergeschlagen hat. Dabei betonten die Vortragenden, daß sie das Konzept von "citizenship" und "belonging" [5] in einer "raumbezogenen" Art und Weise untersucht haben. Beide Begriffe nehmen in diesem geographischen Forschungsansatz eine besondere Stellung ein. Sie stehen laut Youkhana sowohl für "domination" (Herrschaft) als auch für "empowerment" (Bemächtigung). Etwas weniger abstrakt bedeutet es, daß sich die Einwanderer aus Lateinamerika nicht mit der Rolle der Opfer oder Bittsteller identifizieren, sondern die Umgestaltung ihres sozialen und kulturellen Umfelds aktiv vornehmen.

Lachende Gespenster als Grafitti auf öffentlichem Treppenaufgang - Foto: enplaytime, CC BY-NC-SA 2.0, freigegeben via flickr.com

Lavapiés, 2.7.2010
Foto: enplaytime, CC BY-NC-SA 2.0, freigegeben via flickr.com

Nach einer kurzen methodologischen Einordnung des Forschungsprojekts durch Eva Youkhana übernahm Christian Sebaly das Ruder und steckte zunächst den größeren Rahmen ab, in dem der Strukturwandel in der Stadtlandschaft Madrids erfolgt. Die spanische Hauptstadt habe in den letzten 20 Jahren einen enormen wirtschaftlichen Schub erhalten. Die Wirtschaft sei sehr konkurrenzfähig, besonders das Finanz-, Bau- und Dienstleistungswesen, die Logistik und der Tourismus. Die spanische Hauptstadt bilde nach London und Berlin die drittgrößte Metropole in der Europäischen Union, 17 Prozent der Einwohner seien Immigranten. Begleitet werde diese Entwicklung von Deregulierung und Marktliberalisierung, was man nur als "neoliberale Strategie" bezeichnen könne, damit sich Madrid im globalen Wettbewerb der Weltstädte behaupte, so Sebaly.

Dieser Trend gehe mit einer sozial-territorialen Dynamik sowie einer Umstrukturierung der Stadt einher. Dabei komme dem Stadtzentrum eine wichtige Rolle zu. Aufgrund seines hohen historischen und symbolischen Werts sei es höchst attraktiv. Das Zentrum wandle sich zu einem urbanen Spektakel, zu einem perfekten Raum für Kulturkonsum.

Mehrere Figuren auf Betonmauer - Foto: enplaytime, CC BY-NC-SA 2.0 Unported

Aneignung des Raums durch Grafitti in Lavapiés
Foto: enplaytime, CC BY-NC-SA 2.0 Unported

Ähnlich wie der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, bereits 1984 mit einer Rede im Überseeklub vom "Unternehmen Hamburg" sprach und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Hamburg in Konkurrenz zu anderen Städten meinte, betreibt auch die Stadtverwaltung von Madrid Markenwerbung. Sebaly sprach hier vom "Branding", vom urbanen Unternehmertum, um Investitionen anzulocken und die Stadt als perfekten Ort für Marktinteressen zu präsentieren. Dort würden dann die lokale Verwaltung und die Privatwirtschaft die Entwicklung der urbanen Landschaft bestimmen. Urbanes Management, so Sebaly, sei in Madrid zu einem Geschäftsfeld geworden.

Lavapiés bleibt von der Gentrifizierung nicht verschont. Im Gegenteil, die Nachbarschaft steht sogar im Mittelpunkt entsprechender Bemühungen. In dem ehemaligen Arbeiterviertel und vormaligen jüdischen Viertel von Madrid leben heute hauptsächlich ältere Menschen, eine "Alternativszene" sowie Einwanderer aus über 80 Nationen. Die Gentrifizierung findet hier auf geradezu prototypische Weise statt. Lavapiés ist zur Zeit das mit Abstand wichtigste Rehabilitationsprojekt in der Innenstadt. Die Bezeichnung Rehabilitation wurde vom Bürgermeister gewählt, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß die Lebensverhältnisse der Einwohner verbessert werden und Lavapiés aus der Marginalisierung herausgehoben wird.

Gut gefüllte Halle im Sozial- und Kulturzentrum - Foto: tabacaleralavapies, CC BY-NC-ND 2.0, freigegeben via flickr.com

Im La Tabacalera de Lavapiés wird gefeiert, 3.7.2010
Foto: tabacaleralavapies, CC BY-NC-ND 2.0, freigegeben via flickr.com

Dort hatten sich bereits in den achtziger und neunziger Jahren (bekanntlich notorisch geldknappe) Künstler angesiedelt, mitunter sogar in einem Hausleerstand, sorgten für eine kulturelle Belebung und werteten damit die Attraktivität des Viertels auf. Bei einer Gentrifizierung steigen die Mietpreise, dadurch wird die angestammte Bevölkerung verdrängt, und wohlhabendere Menschen ziehen an ihrer statt ein. Im Troß der Aufwertung folgen anspruchsvollere Läden und so weiter und so fort. Wobei die Gentrifizierung quasi immer im Verbindung mit der Suche des Investitionskapitals nach geeigneten Anlagemöglichkeiten stattfindet. Ein treffender Ausdruck der vermeintlichen "Aufwertung" der Stadt ist das klotzartige "theatro dramatico" im Zentrum von Lavapiés. Das wird von der angestammten Bevölkerung als klares Symbol des Modernismus angesehen und als Mahnung, in welche Richtung sich Lavapiés entwickeln soll.

Youkhana und Sebaly räumten ein, daß Lavapiés durch diese Entwicklung auch dazugewonnen hat. Tourismus und Kultur werteten den städtischen Raum auf, zugleich werde jedoch durch den Wandel die Identität der Madrigenen in Frage gestellt. Die "Madrid-Erfahrung" mit der politischen Intervention und Rehabilitation, Architektur und Kultureinrichtungen sowie großen Stadtentwicklungsprojekten, in die 45 Millionen Euro geflossen sind, ziele im Ergebnis auf eine hübsche Stadt für Europäer und die Kontrolle des öffentlichen Raums.

Das Viertel sei tatsächlich sicherer geworden - nach Ansicht der Behörden tragen dazu sowohl die 48 Überwachungskameras bei, die ab dem Jahr 2003 installiert wurden und gegen deren Installation die Bewohner des Viertels eine Kampagne losgetreten hatten, als auch sehr viele Polizeikräfte, die den städtischen Raum kontrollieren. Die Infrastruktur habe sich verbessert, die örtliche Wirtschaft wachse und es seien neue öffentliche Einrichtungen geschaffen worden. Auf der Negativseite verbuchten die beiden Referenten die gestiegenen Mieten und allgemein höheren Lebenserhaltungskosten, die soziale Spaltung (Segregation) und Gentrifizierung, die Abnahme des öffentlichen Raums und der Mangel an Partizipation - die sozialen Bedürfnisse von Randgruppen würden vernachlässigt.

Auf Hauswand gemalte Hände weisen auf Installation für Überwachungskamera - Foto: unbarriofeliz, CC BY 2.0 Unported, freigegeben via flickr.com

Kreativer Protest, 18.9.2009 Foto: unbarriofeliz, CC BY 2.0 Unported, freigegeben via flickr.com

Im Resümee erklärten die beiden Madrid zu einem Beispiel für eine revanchistische Stadtpolitik, für die Neubewertung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums sowie die Verfestigung der sozialen Unterschiede. Aber auch für kreativen Aktivismus und urbane Kunst, durch die vorherrschender Besitz und Eigentumsrechte in Frage gestellt und neue Formen urbaner Zugehörigkeit produziert würden. Citizenship werde hier von denen verwirklicht, die nicht Teil des Gemeinwesen sind

Der kreative Aktivismus der gegenwärtig noch von vielen Einwanderern geprägten Nachbarschaft Lavapiés stellt letztlich eine Form des Widerstands gegen die vorherrschenden Verhältnisse, in denen Reichtum belohnt und Armut sanktioniert wird, dar. Nicht nur in Deutschland, auch in Spanien und anderen wohlhabenden Ländern sind zivilgesellschaftliche Bewegungen wie "Wem gehört die Stadt?" bzw. "Recht auf Stadt" entstanden. In dieser Frage bzw. Stellungnahme scheint der immer gleiche, da niemals zu Ende gebrachte Sozialkampf hervor, der darauf abhebt, die vorherrschenden Verhältnisse zu stürzen. Daß dies in der Geschichte der Menschheit in der Regel den Konter provoziert hat und sich die vorherrschenden Kräfte eben daran qualifizieren konnten, bedeutet nicht, daß diese nicht alles das fürchten müssen, was sich ihrem umfassenden Hegemonieanspruch zu entziehen trachtet ... und sei es durch urbane Kunst, die mit dem Finger auf die gesellschaftlichen Widersprüche zeigt.


Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils mit dem kategorischen Titel "Down to Earth" versehen, unter
→ INFOPOOL → UMWELT → REPORT → BERICHT und
→ INFOPOOL → UMWELT → REPORT → INTERVIEW.

http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/ip_umwelt_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/ip_umwelt_report_interview.shtml

Einspurige, leicht gewundene Straße zwischen viergeschossigen Wohnhäusern - Foto: SuBurning, CC BY-NC-ND 2.0 Unported, freigegeben via flickr.com

Typisches Straßenbild im aufgehübschten Barrio Embajadores-Lavapiés, 8.9.2012 Foto: SuBurning, CC BY-NC-ND 2.0 Unported, freigegeben via flickr.com


Fußnoten:

[1] Der Bevölkerung wird dies als "Sparpolitik" verkauft, als sei es innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf die wachsende Verschuldung der Beteiligten zielt, möglich oder auch nur erwünscht, sich durch Sparen dem ausgeübten Druck zu entziehen.

[2] Wir sprechen absichtlich von Suizid. An dieser Stelle von Selbstmord zu sprechen verbietet sich. Was ist das "Selbst", wenn Mitglieder einer Gesellschaft durch die vorherrschenden Interessen in so große Not gedrängt werden, daß sie keinen anderen Ausweg sehen, als sich das Leben zu nehmen?

[3] Citizenship (engl.) - Wörtlich "Staatsangehörigkeit", "Staatsbürgerschaft". In diesem sozialgeographischen Kontext ist damit laut dem Kompetenznetz Lateinamerika ein "historisch spezifisches Bündel von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten und Pflichten (T. H. Marshall)" gemeint," wobei diese Trias mittlerweile von einigen um kulturelle Rechte und Pflichten ergänzt wird. Gleichzeitig bezeichnet Citizenship die ständig neue Aushandlung dieses Bündels zwischen politischen Institutionen mit Hegemonialanspruch, Individuen und Gruppen. Citizenship ist also ein dynamisches Konzept: Sowohl die Rechte und Pflichten, die es einschließt, als auch die Frage, wer in welchem Maße (auch jenseits des formalen Rechtsstatus) Nutznießer staatsbürgerlichen Einbezugs sein kann, unterlagen und unterliegen einem laufenden Wandel."
http://www.kompetenzla.uni-koeln.de/fragestellung.html?&L=1

[4] Kompetenznetz Lateinamerika: Die Ausgestaltung und Aushandlung von Räumen: Citizenship und Belonging von lateinamerikanischen Migrant/Inn/en in einem "barrio" (Nachbarschaft) von Madrid. Schwerpunkt der Forschung: Die Prozesse der Inklusion und Exklusion in lateinamerikanischen Gesellschaften. Wobei sich die Bonner Forschungsgruppe mit dem Thema "Die Bedeutung des Raums - Orte, betrachtet als Assemblages von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Der Begriff "Assemblages" wiederum wurde von dem Sozialwissenschaftler Gilles Deleuze aus der Kunsttheorie übernommen. Um ein umfassenderes theoretisches Konstrukt zusammenzufassen: Mit Assemblage ist eine Ansammlung von verschiedenen "Praktiken" gemeint.

[5] Belonging (engl.) - "Zugehörigkeit". Näheres dazu auf der Internetseite von Kompetenznetz Lateinamerika
http://www.kompetenzla.uni-koeln.de/fragestellung.html?&L=1

5. Dezember 2012