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BERICHT/061: Fukushima - Kondolation der Profite, Teil 2 (SB)


"Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima"

Teil 2: Kommentar von Marina Sitrin und Fragen des Publikums

Eine Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung am 22. November 2013



Drei Kernschmelzen und mehrere Explosionen im Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi, aber kein einziger Mensch ist an den direkten Folgen des Unfalls gestorben - das zeige doch, wie sicher Kernkraftwerke sind, gab sich ein halbes Jahr nach Beginn der Katastrophe die Atomlobby auf der Jahrestagung der World Nuclear Association (WNA) in London selbstbewußt. [1]

Daß jedoch bei Kindern aus der Präfektur Fukushima bereits zwei Jahre nach der Akw-Havarie vom 11. März 2011 ein signifikanter Anstieg an Knötchen in der Schilddrüse diagnostiziert wurde und die Bevölkerung, insbesondere die ärmere, wie in einem großmaßstäblichen Menschenversuch mit potentiell tödlichem Ausgang dauerhaft radioaktiv belastete Nahrung zu sich nimmt, war für die Industrievertreter offenbar kein Thema.

Solcher Mißachtung der Unversehrtheit der Bevölkerung durch die Wirtschaft noch nicht genug, wird auch von Organisationen wie dem Wissenschaftlichen Ausschuß der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, UNSCEAR), der Internationalen Atomenergie-Organisation (International Atomic Energy Agency, IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) auf angeblich in der Bevölkerung verbreitete psychosoziale Auswirkungen der Fukushima-Katastrophe verwiesen. [2]


Angst fressen Seele auf ... oder ist es nicht doch die radioaktive Strahlung?

Ist die japanische Bevölkerung also nur verängstigt und bildet sich die Strahlengefahr ein? Oder haben wir es bei dieser Unterstellung bereits mit einem Resultat jenes großflächigen Menschenversuchs zu tun, das da lautet: Die staatliche Ordnung kann selbst dann aufrechterhalten werden, wenn große Menschenmassen einer dauerhaft erhöhten radioaktiven Belastung ausgesetzt werden und somit explizit gegen deren Lebens- und Überlebensinteresse gehandelt wird, sofern ihnen nur permanent, vor allem von vorgeblich neutralen Institutionen, eingeredet wird, daß sie nicht bedroht sind? Neben den oben genannten UN-Organisationen erfüllt auch das Internationale Olympische Komitee (International Olympic Committee, IOC) die Funktion der Beschwichtigung, indem es Tokio den Zuschlag als Veranstalter der Olympischen Spiele 2020 erteilt hat.

Referent während der Fragerunde - Foto: © 2013 by Schattenblick

Sabu Kohso: Es reicht, im Namen Japans sind genug Gräueltaten begangen worden!
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der sich selbst als "antikapitalistischer und anarchistischer Aktivist" bezeichnende Sabu Kohso berichtete in seinem Vortrag "Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima" im Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin von der systematischen Verschleierung der hohen Strahlenwerte in Nahrung und Umwelt durch die japanische Regierung und die Betreibergesellschaft Tepco (Tokyo Electric Power Company). Mit dieser Einschätzung steht Kohso bei weitem nicht alleine dar. Stellvertretend für viele kritische Stimmen sei hier nur der international anerkannte Nuklearexperte Mycle Schneider genannt, der die Einsetzung einer internationalen Task Force für die Bewältigung der Nuklearkatastrophe von Fukushima fordert und ebenfalls davon spricht, daß die Bevölkerung hinters Licht geführt wird. [3]

Vor allem aber berichtete Kohso über die stille Auflehnung der Menschen gegen die vorherrschende Ordnung und deren Profiteure im In- und Ausland, wie der Schattenblick im ersten Teil über den Vortrag näher ausführte. [4]


Selbstorganisation versus Staat

Im folgenden zweiten Teil widmen wir uns dem Kommentar Marina Sitrins zum Vortrag und der anschließenden Diskussions- bzw. Fragerunde mit dem Publikum. Sitrin betonte, wie wichtig es sei, genau zu schauen, was in Japan geschieht. Dort seien in mancher Hinsicht die gleichen Tendenzen zu erkennen wie in anderen Konfliktgebieten der Welt, sowohl was die Entstehung sozialer Bewegungen, die eine Repräsentanz ihrer Interessen ablehnen, betrifft als auch die Reaktion des Staates darauf. Sie selbst habe zu den Zapatistas in Mexiko und Gruppen in Bolivien und Argentinien gearbeitet. In jüngerer Zeit habe sie sich mit der Occupy Movement und mit Bewegungen in Spanien, Griechenland, Tokio und Brasilien befaßt. [5]

Eine Gemeinsamkeit dieser Gruppen besteht darin, daß sie sich selbst organisieren und nicht mehr auf den Staat verlassen. Entweder weil dieser tatsächlich nicht in der Lage ist, die Menschen zu versorgen, weil er es nicht will oder weil die Menschen den Staat ablehnen. Die repräsentative Demokratie wird durch die direkte Demokratie ersetzt, so Sitrin, die von einer tiefen ökonomischen Krise spricht, die verschiedene Länder erfaßt hat, Japan inklusive.

Dessen Regierung vernachlässige nicht einfach nur die Leute, sondern verteile den Strahlenabfall in Müllsäcken im ganzen Land und fordere die Bevölkerung sogar dazu auf, radioaktiv kontaminierte Nahrung zu essen, erboste sich die Kommentatorin, die - selbst eine junge Mutter - die Sorge japanischer Mütter nachvollziehen kann, die nicht wissen, ob sie ihren Kinder verstrahlte oder unverstrahlte Nahrung zu essen geben. [6]

Marina Sitrin ergänzte die Erklärung Kohsos, daß die Auflehnung der Japaner nach Fukushima eher im stillen abläuft, aber warnte, daß man sich nicht vertun soll, denn sie findet statt. Beispielsweise in der Selbstorganisation, die ja schon eine Form der Ablehnung des Staates ist und große Ähnlichkeiten mit den Formen der Selbstorganisation, die man in den oben genannten Ländern beobachten kann, aufweist. In Japan widersetzen sich hauptsächlich Frauen der tief verankerten Kultur des Gehorsams und erklären: 'Nein, wir geben unseren Kindern und den Älteren keine verstrahlte Nahrung zu essen!'

Die Frauen werden stärker, antwortete im weiteren Verlauf der Diskussionsrunde Sabu Kohso auf die Frage, ob er neben dem vielen Negativen aus Japan nicht auch eine positive Nachricht hat. Was seit Tausenden von Jahren als die Natur der Frauen aufgefaßt wurde - zu kochen und zu putzen, etc. -, diese zugewiesene Rolle sei nun politisiert. Immer mehr Frauen suchten die Civic Centers (Bürgerzentren) auf, um dort die Strahlenbelastung von Lebensmitteln messen zu lassen. Zudem wurde auch schon gegen das Schulessen protestiert.

Bestätigung finden die Einschätzungen Sitrins und Kohsos durch jüngste Berichte über Demonstrationen von japanischen Frauen, zuletzt am 26. November in der Einkaufsstraße Ginza in Tokio gegen ein Geheimhaltungsgesetz, von dem anzunehmen ist, daß es der Regierung die Rechtsgrundlage verleiht, Informationen über Strahlengefahren als Staatsgeheimnis zu definieren und jede unerwünschte Veröffentlichung mit einer langjährigen Haftstrafe zu belegen. [7]

Marina Sitrin beim Kommentar, stehend, mit Baby im Arm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Marina Sitrin: Die Krise vertieft sich immer mehr, auch in Japan
Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Anmerkung aus dem Publikum, daß ausgerechnet die gefährlichen Radionuklide Strontium und Plutonium von den Detektoren nicht erfaßt werden, bestätigte Kohso, hielt dem Einwand aber entgegen, daß die Geigerzähler immerhin überhaupt irgendeine Strahlungsart anzeigen, was besser ist, als würden gar keine Messungen durchgeführt. Selbst die Meßstellen der Regierung erfaßten nicht die Kontamination mit Strontium und Plutonium.

Die relativ geringe offene Auflehnung der Bevölkerung gegen die Regierung hat wohl auch mit der Mentalität der Japaner zu tun, wurde seitens des Publikums angemerkt. Dem stimmte Kohso nur bedingt zu. Da sei zwar etwas dran, aber die Antiatombewegung werde nicht durch die nationale Mentalität geschwächt. Vielmehr habe man es hier mehr mit einer Klassenfrage zu tun. In Japan gab es sogar militante Momente, deshalb könne man nicht sagen, daß die Zurückhaltung eine nationale Mentalität ist.


Fundamental antinational

Der gebürtige Japaner, der seit den 1980er Jahren in New York lebt, warnt vor einem aufblühenden Nationalismus. Einige Jahre vor dem Fukushima-Desaster entstand eine xenophische, nationalistische Bewegung, die unter anderem Schulen attackiert, in denen sich koreanische Schüler befinden. Außerdem wird die Bevölkerung regelrecht aufgefordert, Nahrung aus Fukushima zu essen, um die lokale Wirtschaft zu retten. Selbst ein in Japan weithin bekannter Wissenschaftler, dessen Meinung er zutiefst ablehne, habe behauptet, daß ältere Menschen nicht so empfindlich auf radioaktive Strahlung reagieren und deshalb Nahrung aus Fukushima essen sollten, damit das den jungen Leuten erspart bleibt, sagte Kohso.

Er führte diesen Punkt nicht weiter aus, weshalb hier zwei Dinge ergänzt werden sollen, auch wenn sie für manche Leser offensichtlich sind: Es trifft nicht zu, daß ältere Menschen weniger auf radioaktive Strahlung reagieren als jüngere. Sie haben aber nicht mehr ein so langes Leben vor sich, was bedeutet, daß sie im Durchschnitt eher an anderen Krankheiten sterben als erkennbar an einer Strahlenfolge, die sich unter Umständen erst nach vielen Jahren zeigt. Außerdem hat der besagte Wissenschaftler mit seiner Aussage zugegeben, daß Nahrung aus Fukushima gesundheitsschädlich ist.

Der Referent nahm die Gelegenheit wahr, auf seinen eigenen politischen Standpunkt näher einzugehen. Kohso lehnt es ab, daß auf die oben beschriebene Weise eine regionale Wirtschaft "zum Wohle Japans" geschützt werden muß, da in so einer Aussage Japan als soziales Ganzes wahrgenommen wird. "Wir Anarchisten sind gegen diese Vorstellung", sagte er, der Japan nicht als eine Insel, sondern als "Archipel, der mit Asien verbunden ist", beschreibt. Über Okinawa gibt es eine natürliche Brücke von Japan zu Taiwan. Und auch zu Korea besteht eine Verbindung, in dem Fall sogar eine soziale. Noch immer leben viele Einwohner koreanischer Herkunft in Japan. Deren Vorfahren waren vor dem zweiten Weltkrieg als mehr oder weniger versklavte Arbeitskräfte ins Land geholt worden.

Japan als Nation soll zerschlagen werden, wünscht sich Kohso. "Wir haben genug Grausamkeiten erlebt, die im Namen Japans anderen Völkern in Asien und der japanischen Bevölkerung selbst angetan wurden", spielte er unter anderem auf den Expansionismus Japans vor dem Zweiten Weltkrieg mit der verheerenden Okkupation von Teilen Chinas und der innerjapanischen Verfolgung von koreanischstämmigen Mitbürgern, Kommunisten, Sozialisten und anderen mißliebigen Personen an.

Die sich an Kohsos Vortrag und Sitrins Kommentar anschließenden Fragen und Anmerkungen zeigten, daß auch das Publikum nähere Kenntnisse über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in Japan besaß. Was er von der Bewegung Mina de Kimeyo Genpatsu Kokumin Tohyo hält, die versucht, ein nationales Referendum gegen Atomenergie auf die Beine zu stellen, wurde er gefragt. Er sei mit der Bewegung nicht näher vertraut, fände die Idee aber sehr gut, entgegnete Kohso. Allerdings schätzt er die Chancen für einen bloßen politischen Wandel in Japan als nicht sehr hoch ein. Er bevorzugt ein Bottom-up-Organising, eine Bewegung von unten nach oben, nicht umgekehrt, wie es in den 1960er und '70er Jahren selbst von einer linken, autoritären Regierung praktiziert wurde.

Warum mischten sich die USA und andere Staaten, die von der Radioaktivität in Japan betroffen sind, nicht stärker in die Bewältigung der Krise ein, lautete eine weitere Frage aus dem Publikum. Möglicherweise wolle die amerikanische Regierung nicht anerkennen, daß es diese Katastrophe gibt, übernahm Sitrin die Antwort. Denn das würde die Antiatombewegung im eigenen Land stärken. Die sei gegenwärtig nicht besonders entwickelt, was sich aber ändern könnte, würden die USA anerkennen, wie schwerwiegend die Lage in Japan ist. Außerdem müsse sich die US-Regierung die Frage stellen, ob sie selbst in der Lage ist, eine Nuklearkatastrophe dieses Ausmaßes zu bewältigen. Sitrin bezweifelte das.

Zu alternativen Energien, die Kohso als "sehr wichtig" bezeichnet, hatte er nach der Fukushima-Katastrophe nicht gearbeitet. Anfangs waren er und seine Genossen sogar gegen alternative Energien, räumte er ein. Denn sie wurden als Ausrede mißbraucht, um bis heute an der Kernenergie festzuhalten und die Zeit zu überbrücken. Wegen Kontroll- und Wartungsarbeiten ist gegenwärtig kein einziger der 54 Reaktoren Japans am Netz.


Sabu Kohsos Alptraum ... und Traum

Der japanische Anarchist hegt die "apokalyptische Vorstellung", so seine Worte, daß Japan den Nuklearabfall von der ganzen Welt aufnimmt und zu einer "militärisch-pharmakologisch-nuklearenergetischen Gesellschaft" mutiert, in der die Bevölkerung täglich Medikamente erhält, damit sie die Strahlung übersteht. Seine düstere Ansicht sei gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, daß große japanische Elektronikkonzerne versuchen, ihre Nukleartechnologie an andere Länder zu verkaufen, da sie innerhalb Japans nicht mehr expandieren können. Bei solchen Verhandlungen mit Vietnam wurde vorgeschlagen, den radioaktiven Abfall in Japan wiederaufzubereiten.

Die Regierung hat laut Kohso den falschen Kurs eingeschlagen, indem sie den radioaktiven Abfall zu verschiedenen Gemeinden bringt und dadurch großflächig im ganzen Land verteilt. Auch macht das Verbrennen von radioaktivem Abfall überhaupt keinen Sinn, da die Radionuklide nicht verschwinden. Das sei eine dumme Lüge der Regierung, die über die Massenmedien verbreitet wird und die Intelligenz der Menschen beleidigt.

Fukushima habe in Erinnerung gerufen, wie weit der Globus bereits verstrahlt ist, beispielsweise durch den Uranbergbau in Kanada und auf indigenem Land in Australien oder Afrika; zudem hätten die USA in verschiedenen Ländern uranhaltige Munition eingesetzt. Innerhalb der Vereinigten Staaten wiederum sind ebenfalls viele Stellen für lange Zeit radioaktiv kontaminiert, nannte Kohso potentielle Quellen radioaktiver Strahlung. [8] Das sei nicht so sehr ein nationales Problem, sondern es existiere überall. Wenn sich also die Bewegungen weltweit noch mehr zusammenschließen, würde das deutlich zutage treten.

Blick vom Rand in die größte Urantagebaumine der Welt - Foto: Ikiwaner, freigegeben als GNU Free Documentation License 1.2 via Wikimedia Commons

Verbreitung von Uranstaub beim Abbau, Transport und der Verarbeitung
Rössing-Mine bei Swakopmund, Namibia, 2.10.2009
Foto: Ikiwaner, freigegeben als GNU Free Documentation License 1.2 via Wikimedia Commons

Auf der anderen Seite hat Kohso eine Utopie von Japan, das nicht mehr als Nation und nicht mehr kriegerisch auftritt. In dieser Richtung müsse in der Bevölkerung das Bild von ihrem Land verändert werden, das sei jetzt eine gute Gelegenheit, es zu zerlegen. In Japan hat es einmal eine autonome Bewegung von unten gegeben, doch hat sie sich seit dem Jahrhundertwechsel nicht mehr weiterentwickelt. Proteste, wie sie im Jahr 2008 gegen den G8-Gipfel in Japan aufkamen, haben sich nach Fukushima gewandelt. Arbeiter organisieren sich eher auf einer Graswurzelebene. Manchmal kommt es zu Demonstrationen vor dem Bildungsministerium, doch sind die verschiedenen Protestformen nicht miteinander verbunden. Einen positiven Ansatz sieht Kohso darin, daß einige Städte den Strahlenmüll, der ihnen aufgehalst werden sollte, ablehnten. Dabei ist es sogar zu direkten Aktionen gekommen.

Die Nukleararbeiter sollen sich erheben, lautet eine der Kernforderungen von Sabu Kohsos teils konkreten, teils abstrakteren politischen Vorstellungen. Auch wenn es eine verrückten Idee sei, wünsche er sich einen großen Exodus von den kontaminierten Gebieten Japans in den Westen oder den Rest der Welt.


Fazit

Selbstorganisation - wie bei vielen anderen gut gemeinten, positiv besetzten Ideen vermag der Kapitalismus (als Mittel der herrschenden Interessen) diese zu absorbieren und unschädlich zu machen oder gar in seinem Sinne zu instrumentalisieren, das heißt ins Gegenteil zu verkehren. Deshalb ist die Idee der Selbstorganisation nicht per se wünschenswert. Beispielsweise dann nicht, wenn sich der Staat einerseits aus der Verantwortung stiehlt, andererseits seine Ansprüche an die Bürgerinnen und Bürger, die sich selbst organisieren, nicht reduziert. Man denke nur an die Tafeln in Deutschland, über die rund eine Million Menschen regelmäßig Lebensmittel erhalten. Hier nutzt der Staat das persönliche Engagement von Menschen aus, die anderen helfen, und kommt seiner Verantwortung nicht nach, allen Mitgliedern der Gesellschaft eine sichere Existenz zu gewährleisten.

Mit diesen Anmerkungen soll die Idee der Selbstorganisation nicht verworfen, sondern im Gegenteil auf ihren Anspruch hin abgeklopft werden, so daß sie nicht zu einer Selbsttäuschung gerät. Wo staatliche Strukturen zurücktreten oder zurückgedrängt werden, wie das in manchen Regionen, die Marina Sitrin erwähnt hat, der Fall ist, können sich autonome Bewegungen entfalten. Die Frage ist, ob sie sich diesen Platz dauerhaft erobert haben oder ob er ihnen wieder genommen werden kann.

In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Versuche, sich in nicht-hierarchischen Lebenszusammenhängen zu organisieren. Vermutlich erfährt man über viele dieser Ansätze nichts, weil dazu keine Aufzeichnungen existieren; und wenn doch, dürften sie ziemlich verfremdet worden sein, weil die Geschichte schon immer von den vorherrschenden Interessen geschrieben wurde und es auch weiterhin wird. Aus deren Sicht darf es keine Alternativen geben, durch die die eigene Hegemonie in Frage gestellt wird.

Von einem Staat wie Japan, der vergleichsweise straff durchorganisiert ist, wäre zu erwarten, daß er Selbstorganisation bei der Bewältigung der Nuklearkatastrophe von Fukushima nur solange zuläßt, wo es sich nicht vermeiden läßt, ohne einen regelrechten Aufstand zu provozieren. Beispielsweise dürften dem Staat die Bürgermeßstellen ein Dorn im Auge sein, in denen die Bevölkerung ihre Lebensmittel hinsichtlich der radioaktiven Belastung messen kann, lassen solche Einrichtungen doch die Unzulänglichkeit des Staates offenbar werden. Sie symbolisieren seine Schwäche. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die japanische Regierung die Existenz der Bürgermeßstellen nur noch eine Zeitlang duldete.

Spätestens dann stellt sich heraus, daß die Selbstorganisation zumindest in diesem Beispiel lediglich ein zugewiesener, von oben geduldeter Ort war, nicht jedoch ein herrschaftsfreies Gebiet, von dem Sabu Kohso, Marina Sitrin und viele andere Menschen rund um den Globus wider allen Strebens, Menschen solche unvernünftigen Vorstellungen auszutreiben, träumen und das sie verwirklichen.

Riesige Demonstration gegen Kernenergie - Foto: freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

Anti-Akw-Demo, 19. September 2011, Meiji-Schrein, äußerer Garten
Foto: freigegeben als public domain via Wikimedia Commons


Fußnoten:

[1] http://www.rp-online.de/panorama/ausland/fukushima-ein-beweis-fuer-atomsicherheit-aid-1.2017238

[2] http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/78218/1/9789241505130_eng.pdf
und
http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/uno-studie-keine-erhoehte-krebsgefahr-durch-unfall-im-akw-fukushima-a-903101.html

[3] http://www.bbc.co.uk/news/science-environment-23779561

[4] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0060.html

[5] Näheres dazu in einem Interview, das der Schattenblick mit Marina Sitrin geführt hat:
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0064.html

[6] In Japan werden Lebensmittel in zwei Preisklassen angeboten. Landwirtschaftliche Produkte von außerhalb der Präfektur Fukushima sind teurer. Sie sind aber nicht unbedingt strahlungsfrei, denn erstens wird nur ein Bruchteil an Fisch, Gemüse, Obst und Getreideprodukten auf ihre Strahlenbelastung hin gescannt und zweitens wird ursprünglich unverstrahlte mit verstrahlter Nahrung gestreckt. Das ist gestattet, solange nach der Vermischung die zulässigen Grenzwerte der radioaktiven Kontamination nicht überschritten werden. Darüber berichtete der Umweltfotograf Alexander Neureuter in einem Gespräch mit dem Schattenblick:
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0060.html
und
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0061.html

[7] http://mainichi.jp/english/english/newsselect/news/20131201p2g00m0dm037000c.html

[8] Die Vereinigten Staaten sind eines der am stärksten radioaktiv verstrahlten Länder der Erde, und hinsichtlich der Belastung mit Cäsium-137 ist unter allen Meeren der Welt die Ostsee am stärksten kontaminiert.


6. Dezember 2013