Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → REPORT

BERICHT/070: Treffen der Wege - Von Auflösungen auf Lösungen (SB)


Die Farbe der Forschung II

Das Innovationspotenzial von Beziehungen

Symposium am 7./8. März 2014 in Berlin



Zum Vortrag von Ina Praetorius mit dem Thema "Beziehungen leben und denken. Eine philosophische Spurensuche"

Die hierarchisch zweigeteilte Ordnung des Patriarchats ist in ihren Grundzügen mindestens 2400 Jahre alt und trotz der Aufklärung nach wie vor sehr einflußreich. Indes mehren sich die Anzeichen, daß diese Ordnung in Auflösung begriffen ist, und deshalb nenne ich den Zustand, in dem wir uns heute vorfinden, das postpatriarchale Durcheinander ...

Mit dieser annähernd wortgetreu wiedergegebenen Aussage hat die evangelische Theologin Ina Praetorius dem Bedürfnis sicherlich vieler Menschen nach einer ordnenden Hand (in dem angenommenen Durcheinander), nach Anleitung oder, in der abstrakteren Form, nach einem Sinn im Leben eine Stimme verliehen. Praetorius war von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft zu dem zweitägigen Symposium "Die Farbe der Forschung II - Das Innovationspotenzial von Beziehungen" vom 7./8. März in Berlin eingeladen worden, wo sie einige philosophische Denkanstöße zu Beziehungen und wie deren Innovationspotential gefördert werden kann, beitragen sollte.

Beim Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ina Praetorius
Foto: © 2014 by Schattenblick

Zunächst veranschaulichte die Referentin die patriarchale Ordnung mittels der Exegese eines Textauszugs des griechischen Philosophen Aristoteles, dem sie attestierte, daß er seit der Zeit der Antike das Denken im westlichen Kulturkreis maßgeblich beeinflußt hat. Laut dem aristotelischen Weltbild besteht das Lebewesen primär aus Seele und Leib, wobei die Seele (das Herrschende) über den Leib (das Beherrschte) regiert. Die hierarchische Zweiteilung wendet der Philosoph auch auf das Männliche gegenüber dem Weiblichen, den Menschen gegenüber dem Tier, den Freien gegenüber den Sklaven an. Über allen aber, sogar den Freien, steht die Herrschaft des Staates.

Aristoteles' Intention ist so unmißverständlich wie sein Weltbild simpel. Er will damit sagen, daß es ein Oben und ein Unten gibt und daß diese "natürliche" Ordnung von der menschlichen Gesellschaft fortgeschrieben wird. Er hätte vermutlich nicht als Philosoph sein Dasein fristen können, wenn er nicht solch ein staatskonformes Konzept entworfen, sondern sich beispielsweise für die Befreiung der Sklaven, die Aufhebung der Geschlechterrollen oder eine konsequent tierverbrauchsfreie Lebensweise verwendet hätte, um drei der oben erwähnten Dualismen aufzugreifen. Mit einem konträren Weltbild wäre wohl kein Staat zu machen ... und auch keine Philosophie zu betreiben, die diesem eine unumstößliche Überposition zuschreibt.

Praetorius hat einen Textauszug aus Aristoteles' "Politik" (München 1973, S. 53-56) an das Publikum verteilt, wobei sie einzelne Begriffe, die eine hierarchische Konnotation aufweisen, herausgezogen und auf die rechte Hälfte des Blattes geschrieben hat - durch einen Strich getrennt in oben (Mensch/Mann, Seele/Geist, Staat, Regieren, frei/gleichgestellt, Herrschaft) und unten (Weibliches, Körper, regiert werden, abhängig/versklavt, Haus, Tier). Ergänzt wurde diese jeweils wolkenartig angeordnete Sammlung durch weitere, in diesem Fall kursiv gedruckte Begriffe aus anderen klassischen Texten, die laut der Referentin etwas ähnliches aussagen (oben: (Herr-)Gott, Theorie/Kontrolle, Kultur, Geist. Unten: Welt, Natur (nasci), Leidenschaften/Gefühle, Praxis, Materie (Mater)).

Nun wurden alle Teilnehmenden darum gebeten, die Trennungslinie durchzustreichen und sich vorzustellen, wie sich die beiden Begriffswolken miteinander vermischen. Auf diese assoziative Art führte sie das "postpatriarchale Durcheinander" eindrücklich vor Augen.

So konnten auch folgende "Beziehungen" imaginiert werden: Die Frau erhebt sich über Gott, der Mensch unterwift sich dem Tier, der Sklave erringt die Herrschaft über die Freien ...

Wir haben hier absichtlich durch die Wahl provozierender Wortkombinationen die Assoziation auf die Spitze getrieben, um zu verdeutlichen, daß mit der Unterscheidung vom patriarchalen und postpatriarchalen Zeitalter etwas aufgekratzt wird, aber lediglich an der Oberfläche. All die Widersprüche aus der vormals geordneten Welt sind erhalten geblieben, wenngleich in einer nicht mehr klar zu erkennenden Form, da der Trennungsstrich weggenommen wurde. Beispielsweise existiert "Regieren" weiter und daran komplementär gebunden auch "regiert werden".

Nun entfleuchen die Dualismen dem Blick des Beobachters, weil sich die Begriffswolken in der von Praetorius angeregten Imagination "fröhlich" weiterbewegen, und damit drohen auch die in diesem geordneten Weltbild steckenden Widersprüche verschleiert zu werden. Sie werden unbegreiflich, das heißt weniger angreifbar. Die Tilgung des Trennungsstrichs, so zutiefst verständlich der dahinterstehende Wunsch nach Aufhebung alles Trennenden auch ist, eliminiert nicht die zuvor am Beispiel des philosophischen Textes herausgearbeiteten Widersprüche, sondern befördert sie geradewegs auf eine höhere Ebene, auf der sie vermutlich noch wirkmächtiger werden.

Was also könnte jemand tun, dem daran gelegen ist, die Mann-Frau-Dualität, das Herrscher-Sklave-Verhältnis, etc. in Angriff zu nehmen? Die Trennung wegzuradieren funktioniert offensichtlich nicht. Und eine Rückkehr in die hierarchisch geordnete Welt des Aristoteles käme nicht in Frage, die zu überwinden man sich ja angeschickt hat.

Könnte nicht eine logische Konsequenz aus dieser vermeintlichen Zwickmühle sein, sich auf eine Seite des Widerspruchs zu stellen? Das hieße, konsequent die Position des Unterdrückten, des Geschundenen und Verworfenen, des Schwächeren einzunehmen. Nicht, um anschließend den Thron zu erobern, sondern um ihn endgültig zu schleifen.

In seinem Einleitungsvortrag zum Symposium "Die Farbe der Forschung II" hat Benny Haerlin vom Organisationsteam den Begriff "Fehlerfreundlichkeit" aufgebracht. Wie wäre es, dies als Plädoyer für eine Freundlichkeit gegenüber dem auszulegen, was in der zwischenmenschlichen Beziehung wie auch der Gesellschaft allgemein als Schwäche (als Fehler) angesehen wird?

So etwas bliebe nicht ohne handfeste Folgen. Beispielsweise haben sich auf den Philippinen Bauernorganisationen, NGOs und Agrarforscher zum Netzwerk MASIPAG zusammengeschlossen, um sich aus einer eindeutigen Position der Unterdrückung heraus gegenüber dem Okkupationsbestreben kapitalstarker Agrokonzerne und nepotischer Regierungsmitglieder zu behaupten. Über die Schwierigkeiten und Erfolge dieser Bewegung, denen die Rolle der Schwachen zugedacht war, gegen Armut und für Ernährungssouveränität berichtete die Entwicklungsexpertin und MASIPAG-Leiterin Elisabeth Cruzada auf dem Symposium. Wir werden an späterer Stelle näher auf ihren Vortrag eingehen.

Praetorius erklärte, daß sich das Bemühen, etwas im Bereich beispielsweise der Landwirtschaft zu verändern, in einem großen Kontext, einem umfassenden Paradigmenwechsel bewege und strukturell mit Bemühungen der Frauenbewegungen, mit der globalen Debatte um verschiedene Sexualitäten, mit Postkolonialismus, auch mit der Krise des Geldes als allgemeines Tauschmittel und mit politischen Krisen zusammenhänge. Die Referentin darf sich durch Cruzadas und weitere auf dem Symposium gehaltenen Vorträge bestätigt fühlen.

Welche konkreten Konsequenzen aus dem "postpatriarchalen Durcheinander" gezogen werden sollten, ließ Praetorius offen, sie entwarf jedoch generell einige Gedanken, um sich dieser Begrifflichkeit über den Weg der Wortanalyse zu nähern. Das Wort Durcheinander löse vielleicht Gefühle der Unsicherheit, des Ärgers oder auch der Angst aus. Das Durcheinander erzeuge ein Bedürfnis aufzuräumen, eine neue, bessere Ordnung herzustellen, denn ohne diese können Menschen ihrer Meinung nach nicht leben.

Den Begriff Durcheinander könne man anhand dreier möglicher Schreibweisen ausdeuten: "Durcheinander", "durch einander" und "durch ein ander". Letzteres sei grammatikalisch nicht ganz korrekt, räumte sie ein, aber das mache in diesem Fall nichts. "Durch einander" hieß für sie, in Beziehung zu leben und zu denken. Wie genau, werde damit allerdings nicht gesagt. Der Begriff verweise auf einen möglichen Ausweg aus der hierarchisch symbolischen und sozialen Ordnung, aus der wir kämen.

Mit "durch ein ander" komme etwas herein, das lange als Herrgott und oberste Kontrollinstanz über allem gethront habe und heute in dieser pervertierten Form möglicherweise entthront sei. Heute stehe "durch ein ander" für Transzendenz, das Unverfügbare, das Andere, das Überraschende, das Unverhoffte, das Große um uns herum. Wie man es nennen solle? Sie als Theologin habe sich entschieden, Bücher zu schreiben über das Wort "Gott". So eine Entscheidung liege natürlich bei jedem selbst. Doch dieses "Um-uns-herum" werde man nicht in den Griff bekommen, das werde bleiben. Zum Glück würden wir niemals alles begreifen, da wir "durch ein ander" (sind).

Die Wortmeldungen im Anschluß an Praetorius' Vortrag zeigten, wie sehr sich einige Menschen davon angesprochen fühlten. Allein schon dadurch, daß die Referentin ein postpatriarchales Durcheinander postuliert hat, so scheint es, verhalf sie zu einer Einordnung des Geschehens in der Welt und zur Orientierung. Wie auch immer man sich zu den Ausführungen im einzelnen stellt, die Idee des Organisationsteams, eine philosophische Spurensuche in die erste Session des Symposiums zu verlegen und darüber eine Debatte anzuregen, ist eindeutig aufgegangen.


Im Anschluß an den Vortrag stellte sich die Referentin dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.
Sie finden das Gespräch unter:

UMWELT → REPORT → INTERVIEW:

INTERVIEW/077: Treffen der Wege - Reform alter Werte, Ina Praetorius im Gespräch (SB)


Weitere Berichte zum Symposium "Die Farbe der Forschung II":

UMWELT → REPORT → BERICHT:

BERICHT/067: Treffen der Wege - Ökosynaptische Knoten (SB)
Auftakt zu einer Serie von Interviews und Berichten

BERICHT/068: Treffen der Wege - Urknallverständigung (SB)
Gedanken zum Vortrag von Saira Mian "Am Schnittpunkt von Kommunikationstheorie, Kryptographie und Agrarökologie"


18. März 2014