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BERICHT/098: Die Uhr tickt - mit und ohne Instanzen ... (SB)


"Klima - Wandel im Gipfeljahr 2015"

Internationales Symposium zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. Hartmut Graßl am 18. März 2015 an der Universität Hamburg

Die globale Weltbürgergesellschaft macht sich auf den Weg


Von der Öffentlichkeit wenig bemerkt, hat das weitgehende Scheitern der internationalen Klimaschutzverhandlungen beim Gipfeltreffen im Dezember 2009 in Kopenhagen in den Fachkreisen lebhafte Debatten darüber ausgelöst, was falsch gelaufen sein könnte. Und natürlich auch über die Frage, wie eingedenk des seitdem schleppenden Verhandlungsprozesses ein Kurswechsel vollzogen werden kann, damit am Ende dieses Jahrhunderts genau nicht jene desaströsen Klimaverhältnisse Einzug halten, die den gängigen Projektionen zufolge bei einem Weiter-so-wie-bisher unvermeidlich eintreten werden.

Einen sehr guten Einblick in den gegenwärtigen Stand des Klimaschutzdiskurses bot am 18. März 2015 das internationale Symposium "Klima - Wandel im Gipfeljahr 2015. Für ein Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft", das aus Anlaß des 75. Geburtstags des deutschen Atmosphärenforschers Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hartmut Graßl an der Universität Hamburg veranstaltet wurde. Er zählt zu den Wissenschaftlern, die schon vor Jahrzehnten die Bundesregierung aufgefordert haben, Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen. Die gegenwärtig zu beobachtenden Entwicklungen der Erdsysteme gibt den Mahnern recht.


In der vordersten Stuhlreihe des Hörsaals sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

(Von links:) Prof. Ulrich Bartosch, Prof. Hartmut Graßl und Prof. Ottmar Edenhofer hören mit Interesse den Ausführungen zum Konzept des Weltbürgertums zu.
Foto: © 2015 by Schattenblick

Hält der Trend an, daß die Menschheit immer mehr fossile Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) verbrennt und auch durch die Nahrungsproduktion in der Landwirtschaft (Getreideanbau, Viehzucht) im wachsenden Ausmaß klimawirksame Gase freigesetzt werden, wird die globale Durchschnittstemperatur am Ende des Jahrhunderts um mindestens vier Grad über der in der vorindustriellen Zeit liegen. Zum Vergleich: Die afrikanischen Staaten wie auch die meisten Entwicklungsländer auf anderen Kontinenten fordern ein internationales Abkommen, das eine Temperaturerhöhung auf nicht mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau sicherstellt. Und beim internationalen Verhandlungsprozeß unter der Ägide der Vereinten Nation, UNFCCC (United Nations Framework Convention on Climate Change), wurde die Einhaltung des weniger ambitionierten 2-Grad-Ziels vereinbart.

Welche Folgen genau der Unterschied von "nur" 0,5 Grad zwischen diesen beiden Zielmarken hat, läßt sich kaum abschätzen, dürfte sich aber im Bereich von Millionen Katastrophenopfern mehr oder weniger abspielen. Noch um vieles höher werden die menschlichen Verluste und Schadenskosten ausfallen, sollten ein oder mehrere Schwellenwerte bzw. Kippunkte (engl. Tipping Points) überschritten werden und diese in den Erdsystemen Dynamiken freisetzen, wie sie seit Menschengedenken nicht vorgeherrscht haben.

Die Verhandlungen zur Vorbereitung des nächsten großen UN-Klimagipfels im Dezember in Paris sprechen nicht dafür, daß das 2-Grad-Ziel, bzw. diese "Leitplanke", noch eingehalten wird, auch wenn wieder einmal Lippenbekenntnisse abgegeben werden, die vieles in Aussicht stellen, beste Absichten vorschützen und hohe Erwartungen wecken sollen.

Doch Zielmarken des CO2-Ausstoßes zu nennen und diese dann auch einzuhalten, sind zwei Paar Stiefel. Geht es um konkrete Klimaschutzmaßnahmen, das lehren jedenfalls die Erfahrungen aus den zurückliegenden Vertragsstaatenkonferenzen (Conferences of the Parties, COP), dürfte gemessen an den Erfordernissen bei der COP 21 in Paris wenig Brauchbares herauskommen - ungeachtet der Zunahme, mehr noch, der beschleunigten Zunahme des CO2-Gehalts in der Erdatmosphäre. Bereits im Februar wurde an der Forschungsstation Mauna Loa auf Hawaii die symbolträchtige Marke von 400 ppm (parts per million) überschritten. [1]

Das in diesem Jahr auslaufende Klimaschutzprotokoll von Kyoto sieht verpflichtende CO2-Reduktionen nur für die Industriestaaten vor, inzwischen werden diese aber, was den absoluten CO2-Ausstoß betrifft, von Schwellenländern wie Indien und China ein- bzw. überholt. Es müßte also ein Nachfolgeabkommen des Kyoto-Protokolls vereinbart werden, das die neuen Realitäten berücksichtigt, ohne zugleich die historische Verantwortung der Industriestaaten zu vernachlässigen. Außerdem müßten die ärmeren Länder von den wohlhabenderen Staaten unterstützt werden, da sie weder für den CO2-Anstieg verantwortlich sind noch über ausreichend Mittel verfügen, um Anpassungsmaßnahmen gegen die Folgen der Erderwärmung wie beispielsweise Meeresspiegelanstieg, stärkere Stürme, häufigere Dürren und Überschwemmungen, Verbrauch der fossilen Grundwasserspeicher und Verlust der Hochgebirgsgletscher als Trinkwasserquelle vorzunehmen.

Klimaschutz und Anpassung, auch Mitigation und Adaptation genannt, sind im wesentlichen ökonomische Fragen. Ein Kyoto-Nachfolgeprotokoll zu vereinbaren, das nicht so zahnlos bleibt wie sein Vorgänger, setzte voraus, daß die Vertragsstaaten entweder einen kompliziert auszutarierenden Kompromiß finden oder daß die Staatenkonkurrenz überwunden wird (was sich gegenseitig nicht ausschließt). Letzteres würde an den Grundfesten der menschlichen Gemeinschaft, die in Nationalstaaten organisiert ist und darin ein enormes Beharrungspotential aufweist, rühren. Dennoch werden auf seiten der Wissenschaft im Rahmen der Diskussion zur Lösung des politischen Stillstands einerseits und der Notwendigkeit raschen Handelns andererseits Überlegungen angestellt, die Nationalstaaten als politischen Ordnungsrahmen zwar nicht abzuschaffen, ihnen aber Zuständigkeiten abzunehmen, was sich dann in einschlägigen Publikationen in Begriffen wie "Weltinnenpolitik", "Weltregierung", "Weltgesellschaft", "Weltbürgertum" ausdrückt.

So schlug Prof. Ottmar Edenhofer, Stellvertretender Direktor und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), in seinem Input-Vortrag auf dem Symposium nach der Analyse der Ausgangsbedingungen, derzufolge rund 90 Prozent der fossilen Energieträger im Boden bleiben müssen, um die Menge an CO2-Emissionen global auf rund 1000 Gigatonnen zu begrenzen, als klimapolitisches Lenkungsinstrument vor, den Verbrauch von CO2 zu besteuern. [2]

Was aber sollte man mit den Einnahmen aus der CO2-Emissionsbepreisung machen, fragte Edenhofer und gab darauf selbst eine Antwort: "Aus meiner Sicht ist das eine Frage, die man aus einer globalen Perspektive stellen kann, gewissermaßen aus der Perspektive einer Weltregierung." Er rechnet zwar nicht damit, daß diese noch zu seinen Lebzeiten entsteht, aber allein daß er diese Möglichkeit in Betracht zieht, kann als Hinweis darauf verstanden werden, in welche Richtung die Vorstellungen einiger Wissenschaftler laufen. Noch deutlicher wurde dies in den einleitenden Worten von Prof. Dr. Ulrich Bartosch, Vorsitzender der VDW, der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, die zu den drei Veranstaltern [3] des Symposiums zählt:

"Wenn die Pariser Vertragsstaatenkonferenz jetzt langsam auf uns zukommt, dann vielleicht auch so, daß wir auf diese zukommen und alle miteinander an verschiedenen Stellen und vielleicht auch in dieser heutigen Gesprächsform dafür sorgen, daß an dieser Stelle (...) Weltinnenpolitik stattfinden möge, also eine Politik, die die gemeinsame Verantwortung für die Welt nicht als ein Treiben zwischen Staaten oder zwischen Märkten, sondern vor allen Dingen als eine im wahrsten Sinne des Wortes innenpolitische, auch normativ besetzte Aufgabenstellung begreifen und bewegen kann."

Laut Bartosch geht der Begriff "Weltinnenpolitik" auf Carl Friedrich von Weizsäcker zurück, einen der Gründerväter des VDW, der darin ein Gegenkonzept zum atomaren Wettrüsten der Staaten sah. Diese hatten Overkillkapazitäten aufgebaut, mit denen nicht nur der ideologische Gegner, sondern die gesamte Erde mehrfach hätte vernichtet werden können. Trotz eines partiellen Abbaus der Kernwaffen gilt dies noch heute. Der Klimawandel wird von Wissenschaftlern wie Bartosch nun ebenfalls als globale Bedrohung angesehen, gegen die die Menschen von der Basis her zusammenstehen sollen, da sich die Regierungen nach wie vor in Konkurrenz zueinander befinden.

Bevor nun weiter ausgeführt werden soll, in welche Richtung sich die Vorstellungen der Klimaforscher bewegen, sei hier mit Blick auf die Idee des "Weltbürgers" eingeworfen, daß in einer Demokratie die Regierung eigentlich vom Volk, also von der Basis gewählt wird und deren Interesse vertreten sollte. Wenn nun sowohl beim nuklearen Rüstungswettlauf als auch bei den UN-Klimaschutzverhandlungen eine so gravierende Diskrepanz zwischen "denen da oben" und "denen da unten" erkennbar wird, dann verweist dieser Widerspruch auf einen offenkundigen Irrtum im Demokratieverständnis und auch in der politischen Praxis.

Daraus abgeleitet sei an dieser Stelle auf die Gefahr verwiesen, daß eine auf den ersten Blick schlüssig wirkende Idee wie der Aufbau einer Weltbürgerbewegung oder das Betreiben von Weltinnenpolitik - verstanden als Zurücknahme von Verantwortung, die zuvor der Politik übertragen worden war -, den Keim des Scheiterns in sich trägt, sofern die vorherrschenden Interessen vernebelt werden. Systembedingt wären das auf seiten der Wirtschaft die Maximierung des Profits und auf seiten der Politik die Qualifizierung von Verfügungsgewalt.

Das macht den Begriff "Weltregierung" aber problematisch. Wenn heute schon eine Diskrepanz zwischen Regierenden und Regierten existiert, kann das gleiche Verhältnis auch bei einer Weltregierung entstehen, was womöglich schwerwiegende Folgen nach sich zöge. Unter Umständen hätte man es dann mit einer planetarischen Demokratur oder im schlimmsten Fall einer globalen Öko-Diktatur zu tun, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht mehr wie zur Zeit des Ost-West-Konflikts über ein ideologisches Gegenmodell, sondern mittels der "äußeren" Bedrohung durch den Klimawandel gesichert wird, ohne dabei das soziale Grundverhältnis der Menschen, das im Kern von krassen Unterschieden der Lebens- und Überlebensbedingungen bestimmt wird, in Frage zu stellen.


Beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Wir haben es mit einer kulturellen, zivilisatorischen und normativen Herausforderung zu tun."
(Prof. Dr. Dirk Messner, 18. März 2015, Universität Hamburg)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Idee von der Weltbürgerbewegung hat in Deutschland der WBGU, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, am weitesten vorangetrieben. Dessen Studien tragen Titel wie "Welt im Wandel: Energiewende zur Nachhaltigkeit" (2003) [4], "Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel" (2007) [5], und "Welt im Wandel - Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" (2011) [6]. Im vergangenen Jahr brachte der WBGU ein Sondergutachten mit dem Titel "Klimaschutz als Weltbürgerbewegung" [7] heraus, in dem die Autorinnen und Autoren die hier beispielhaft an Aussagen Edenhofers und Bartoschs angedeuteten Vorstellungen einer "Weltregierung" bzw. zur "Weltinnenpolitik" weiter ausgearbeitet haben.

In der Einleitung des Sondergutachtens heißt es: "Der WBGU empfiehlt daher, die CO2-Emissionen aus fossilen Energieträgern bis spätestens 2070 auf Null zu senken. Dies ist ein ebenso ehrgeiziges wie prägnantes Politikziel, denn jedes Land, jede Kommune, jedes Unternehmen und jeder Bürger muß 'die Null schaffen', wenn die Welt als Ganzes klimaneutral werden soll." Es wird von einer "verschränkten Verantwortungsarchitektur" gesprochen, in der "vertikales Delegieren und horizontales Engagieren" keinen Gegensatz bilden.

Zum Hamburger Symposium war mit Prof. Dr. Dirk Messner nicht nur der Direktor des Think Tanks DIE (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik), sondern auch der Vorsitzende des WBGU eingeladen. Wohl kaum ein anderer hätte die Ideen und Vorschläge dieser Einrichtung zur Politikberatung hinsichtlich des Aufbaus einer Weltbürgerbewegung kompetenter vorstellen können.

Erst nach dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen habe man sich näher damit befaßt, wie man eine Gesellschaft erschaffen kann, die so wenig CO2 emittiert, daß das 2-Grad-Ziel eingehalten wird, sagte Messner in seinem Vortrag "Bottom Up oder Top Down: Weltbürgerbewegung und Weltklimapolitik - ein Zusammenspiel?". "Erst seitdem haben wir richtig verstanden, daß die Klimaverhandlungen eigentlich Weltwirtschaftsverhandlungen sind. Wenn man den Klimaschutz wirklich ernst nimmt, müssen wir unsere Wirtschaften weitgehend dekarbonisieren."

Der WBGU sei davon überzeugt, daß eine globale Ordnungspolitik (Top Down) gebraucht wird, aber zugleich seien auch Bottom-Up-Prozesse notwendig. "Wir nennen das Weltbürger, worunter Akteure wie Städte, Unternehmensnetzwerke, Nichtregierungsorganisationen oder auch Forschungseinrichtungen wie meines fallen", so Messner. Lokale und nationale Anstrengungen des Klimaschutzes müßten mit globaler Ordnungspolitik "verschränkt" werden. Denn je mehr lokale und nationale Dynamiken sich in diese Richtung entwickelten, stiegen die Bedingungen für "anspruchsvollere globale Klimaweltinnenpolitik". Die deutsche Energiewende, wenn sie gelänge, könne international einen großen Multiplikatoreneffekt auslösen, verlieh Messner nicht nur seiner Hoffnung, sondern sicherlich der vieler Gäste des Symposiums Ausdruck.

Bevor wir die Idee des Weltbürgertums abschließend aufgreifen, sei hier auf eine unausgesprochene Einschätzung in der Rede Messners eingegangen. Wenn er nahezu wortgetreu aus dem WBGU-Sondergutachten erklärt, daß "jedes Land, jedes Unternehmen, jede Kommune und jeder individuelle Weltbürger" in Richtung null Emissionen bis zum Jahr 2070 gehen müsse, da das Ziel sonst "nicht zu schaffen" ist, dann drückt sich in dieser Behauptung bereits die Ablehnung eines Konzepts aus, das unter anderem Prof. Edenhofer in seiner Funktion als Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe 3 zum 5. Sachstandbericht des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) als mögliche Klimaschutzmaßnahme erwogen hat, nämlich der Atmosphäre aktiv Kohlendioxid zu entziehen und dies vielleicht sogar mit der Bindung von Kohlenstoff in Bäumen oder Biokohle zu verknüpfen.

Im Bericht der Arbeitsgruppe 3 wird dieser BECCS (Bio-energy with carbon capture and storage, z. Dt.: Bioenergie in Verbindung mit Kohlenstoffabscheidung und -lagerung) genannte Ansatz als eine der "Schlüsseltechnologien" zukünftigen Klimaschutzes bezeichnet, obgleich dazu gesagt wird, daß es bislang nur "begrenzte Hinweise" auf das Potential für einen großmaßstäblichen Einsatz von BECCS gibt. [8] Allerdings wird für dieses Verfahren in den USA schon geworben, wie Dr. Rachel Smolker von der Organisation Biofuelwatch gegenüber dem Schattenblick sagte. [9]

Würde man Konzepte zum großmaßstäblichen Einsatz von BECCS verwirklichen, könnte man sich mit der Reduktion von CO2-Emissionen Zeit lassen, lautet demnach das Kalkül. Zu ergänzen ist: Und wenn die Folgen des Klimawandels so verheerend sind, daß die Verzweiflung der Menschheit wächst, dann wären nach Ansicht einiger Teilnehmer der ersten internationalen Konferenz zur Klimabeeinflussung, der "Climate Engineering Conference 2014: Critical Global Discussions", die das in Potsdam ansässige Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) im vergangenen August in Berlin veranstaltet hat, der Einsatz von relativ schnell wirksamen Technologien des Solar Radiation Managements (SDR) sogar dann vorstellbar, wenn ihre Nebenwirkungen noch nicht vollständig erforscht sind. [10]

Es gibt also durchaus andere Überlegungen zum Umgang mit dem Klimawandel, die nicht an den im WBGU-Sondergutachten formulierten Gerechtigkeitsprinzipien - dem Gleichheits-, Vorsorge- und Verursacherprinzip - orientiert sind. Das Gleichheitsprinzip besagt, daß innerhalb des "Budgets", demzufolge global die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2070 auf null zurückgefahren werden, gleiche Emissionsrechte für alle Menschen bestehen. Dem Verursacherprinzip zufolge existieren jedoch unter Einbezug der historischen und gegenwärtigen Emissionen unterschiedliche Verantwortlichkeiten, was bedeutet, daß die Industriestaaten alles in allem einen knappen Anteil am Budget erhalten und viel früher anfangen müssen, ihre klimawirksamen Emissionen zu reduzieren. Das Vorsorgeprinzip wiederum fordert zu einem rechtzeitigen Handeln auf, um irreversible Schäden für zukünftige Generationen zu verhindern. Ein Ausdruck des Vorsorgeprinzips ist die Festlegung auf die 2-Grad-Leitplanke, nach der sich wiederum die Obergrenze an Emissionen richtet (Generationengerechtigkeit).

Ein Weltbürger hätte vielleicht ein Einsehen in die Notwendigkeit, sich an diesen Prinzipien zu orientieren. Aber nicht jeder Mensch möchte ein Weltbürger sein und nicht jeder Nationalstaat ist willens, Zuständigkeiten an andere gesellschaftliche Akteure abzutreten.

Um das Problem an einem sehr zugespitzten Beispiel, das noch über die Ideologie des freien Marktes [11] hinausgeht, zu verdeutlichen: Sozialdarwinistische Vorstellungen oder gar Ideen zur weißen Suprematie werden ganz gewiß auch Konzepte, wie dem Klimawandel zu begegnen sei, hervorbringen. Climate Engineering bzw. Geoengineering könnte von den Anhängern solcher Ideologien das Mittel der Wahl sein, um die globale Erwärmung zu bremsen, sofern sich ihnen nur die Aussicht eröffnet, die ergriffenen Maßnahmen gereichten zu ihrem Vorteil - unabhängig von den Schadensfolgen, die andere Menschen dadurch zu erleiden hätten.

Die globale Erwärmung ist eine direkte Auswirkung dessen, daß das Gemeingut namens Erdatmosphäre übernutzt und als ungeregeltes, kostenloses Endlager für klimawirksame Treibhausgase verwendet wurde und weiterhin wird. Historisch gesehen haben die Industriestaaten die "Aufnahmekapazität" [12] der Atmosphäre für Treibhausgase "besetzt", bildlich könnte man auch sagen, sie haben sich die wenigen zu vergebenden Plätze angeeignet. Den Klimawandel zu leugnen oder Regularien zur Begrenzung der Erderwärmung abzulehnen - sei es auch nur durch die Methode des Abwartens - hieße somit, dies zu ignorieren, sprich: die eigenen, in ihrer Konsequenz räuberischen Interessen durchsetzen zu wollen.

"Es wäre ein Zivilisationsschub, wenn wir es schafften zu lernen, ökonomische Konzepte für neun Milliarden Menschen zu entwickeln, die innerhalb dieses beschreibbaren, begrenzbaren Erdsystems allesamt gut auskommen - eine zivilisatorische Leistung!", sagte Messner gegen Ende seines Vortrags. Dafür erhielt er kräftigen Beifall. Hier war die Botschaft vom "Klimaschutz als Weltbürgerbewegung" eindeutig auf offene Ohren gestoßen. Offen ist allerdings ebenfalls, ob sich Wissenschaft und Politikberatung mit dem "Weltbürger" gegenüber dem heute hegemonialen Menschenbild des Homo oeconomicus durchsetzen können und ob ein nach Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsprinzipien handelnder Homo oecologicus die gesellschaftlichen Widersprüche gelöst oder ob er sie stärker befestigt hat denn je.


Gruppenbild - Foto: © 2015 by Schattenblick

Prof. Hartmut Graßl (7. v. l.) im Kreis der Referentinnen und Referenten
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends/

[2] Eine CO2-Emissionssteuer zu erheben bedeutet, daß bei einem Lebensstil mit hohen CO2-Emissionen höhere Abgaben entrichtet werden müssen als bei einem Lebensstil mit geringen CO2-Emissionen, vergleichbar mit dem Modell des progressiven Steuersatzes. Zugleich besteht für Unternehmen der Anreiz, Waren herzustellen, deren Fertigung und Gebrauch weniger CO2-Emissionen produzieren.

[3] Neben der VDW waren dies der WBGU, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, und das MPI-M, das Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Prof. Graßl ist mit allen drei Einrichtungen verbunden: Er ist Vorsitzender des VDW-Beirats, war von 1992 bis 1994 sowie von 2001 bis 2004 WBGU-Vorsitzender und von 1988 mit Unterbrechungen bis zu seiner Emeritierung 2005 MPI-M-Direktor.

[4] http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2003-energiewende/

[5] http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2007-sicherheit/

[6] http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/

[7] http://www.wbgu.de/fileadmin/templates/dateien/veroeffentlichungen/sondergutachten/sn2014/wbgu_sg2014.pdf

[8] http://www.de-ipcc.de/_media/ipcc_wg3_ar5_summary-for-policymakers_approved_final.pdf

[9] INFOPOOL → UMWELT → REPORT
INTERVIEW/158: Klimarunde, Fragestunde - Zeit für neue Kalküle ... Dr. Rachel Smolker im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0158.html

[10] Näheres dazu im Schattenblick unter:
INFOPOOL → UMWELT → REPORT
BERICHT/088: Klimarunde, Fragestunde - für und wider und voran ... (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0088.html

[11] Dazu hat sich beispielsweise Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker auf dem 28. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1999 in Stuttgart unter dem Titel "Wider den Sozialdarwinismus - Ökologisch-evolutionäre Reflexionen" geäußert. Wörtlich heißt es darin:
"Ökologie und puristische Marktwirtschaft, das passt nicht zusammen. Wer den Staat ständig als bürokratisches Handelshindernis diskreditiert, der untergräbt zugleich die einzige Instanz, die heute (noch) die Machtmittel hätte, den Schutz der Natur und ihrer Ressourcen gegen die egoistischen Ausbeutungsansprüche des privaten Sektors durchzusetzen. Die pure Marktideologie leugnet insofern die Daseinsberechtigung zukünftiger Generationen."
http://ernst.weizsaecker.de/wider-den-sozialdarwinismus-oekologisch- evolutionaere-reflexionen/

[12] "Aufnahmekapazität" ist in diesem Fall ein politischer Begriff. Die Erdatmosphäre kann natürlich viel mehr CO2-Emissionen absorbieren als jene Menge, bei der den Berechnungen zufolge das 2-Grad-Ziel gerade noch eingehalten würde.


Unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT sind unter dem kategorischen Titel "Die Uhr tickt" bereits folgende Schattenblick- Interviews erschienen:

INTERVIEW/174: Die Uhr tickt - Solidarintervention Klimarettung ... Prof. Dirk Messner im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0174.html

INTERVIEW/175: Die Uhr tickt - auf niemand kann verzichtet werden ... Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hartmut Graßl im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0175.html

1. April 2015


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