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BERICHT/105: Am Beispiel Indien - Vorwand Strom ... (SB)


Nuclear Lies - Atomlügen

Filmvorführung am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale

Teil 1: "Kollateralschäden" der Atomenergieproduktion im Kontext der Herrschaftssicherung


Krebs, Blutkrebs, Lähmungen, Fehl- und Frühgeburten, Mißbildungen, Schilddrüsenerkrankungen - in Indien baut sich schleichend eine atomar verursachte Katastrophe auf. Über seine Atomwirtschaft hört man hierzulande wenig, obschon dieser Staat zu den wenigen Ländern gehört, die ein umfassendes Programm zum Bau neuer Atomreaktoren aufgelegt hat. Es will seine Kernkraftwerkskapazitäten von derzeit 21 um 39 Reaktoren (wovon sechs bereits im Bau sind) erweitern, ungeachtet der bereits jetzt unübersehbaren Folgeschäden für Mensch und Umwelt. Die indische Regierung kehrt Berichte über radioaktive Leckagen regelmäßig unter den Teppich und reagiert mit harten Repressionen auf Versuche, über die desaströsen Verhältnisse aufzuklären.


Fahne mit roter Anti-Akw-Sonne und geballter Faust auf gelbem Grund - Foto: © 2015 by Schattenblick

Zeichen des gemeinsamen Widerstands - die Anti-Akw-Fahne mit Parolen der indischen Protestbewegung
Foto: © 2015 by Schattenblick

Bis auf wenige Ausnahmen wie "Anti-Atom Indien" (http://indien.antiatom.net/) erfährt man auch von der international vernetzten Anti-Akw-Bewegung kaum etwas über Indien. Sie würde allerdings einer Fehleinschätzung unterliegen, wenn sie die Vorgänge auf dem Subkontinent als vernachlässigbar einschätzte.

Denn erstens ist die transnationale Nuklearindustrie relativ überschaubar - es sind somit die "üblichen Verdächtigen" aus Europa, Nordamerika und Rußland, die gemeinsam mit Indien dabei sind, neue Kernkraftwerke auf dem Subkontinent zu errichten. Zweitens unterstützt beispielsweise die deutsche Bundesregierung, ungeachtet des beschlossenen Atomausstiegs, mittels Hermesbürgschaften die Atomwirtschaft. Es wird zwar seit Mai 2014 nicht mehr der Bau kompletter Akws finanziell abgesichert, aber immerhin noch Sicherheitstechnologien.

Drittens ist die nukleare Infrastruktur global vernetzt, was bedeutet, daß beispielsweise auch über Deutschland, respektive den Hamburger Hafen, Atomtransporte nach Indien durchgeführt werden. Viertens zeigen die massiven Freisetzungen von Radionukliden beispielsweise durch die Explosion des ukrainischen Akw Tschernobyl im April 1986 und durch die Havarie des japanischen Akw Fukushima Daiichi im März 2011, daß atomare Katastrophen nicht regional begrenzt bleiben. Und fünftens sind die Kämpfe, die die indische Widerstandsbewegung gegen ihre atomaren Einrichtungen auszufechten hat, keine anderen als die der hiesigen Anti-Akw-Bewegung.

Um so erfreulicher ist es, daß sich der indische Regisseur Praved Krishnapilla mit seinem Ende 2014 fertiggestellten Dokumentarfilm "Nuclear Lies" aufgemacht hat, diesen eklatanten Informationsmangel zu beheben. Am 23. September präsentierte er auf Einladung des Ehepaars Antje Kröger-Voss und Dieter Kröger, die selber einen Anti-Akw-Film produziert haben ("Unser gemeinsamer Widerstand"), den 72minütigen Film im Hamburger Centro Sociale. "Nuclear Lies" war auch auch auf dem International Uranium Film Festival in Berlin (24. - 29.9.2015) vertreten.

Im Mittelpunkt des Films steht der einzelne Mensch in der Auseinandersetzung mit vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen und seinen oftmals, aber keineswegs immer vergeblich bleibenden Versuchen, sich mit Mitstreitern gegen die übergreifenden Kräfte zu verbünden.

Nach ersten Vorrecherchen im Jahr 2013 hat der Regisseur im vergangenen Jahr mit Hilfe eines fünfköpfigen Vor-Ort-Teams mehr als 50 Interviews mit Personen zusammengetragen, die häufig in irgendeiner Form von der Nuklearindustrie geschädigt wurden oder in der ständigen Gefahr leben, geschädigt zu werden. Seien es Fischer, deren Fanggründe von den aufgewärmten und radioaktiv belasteten Einleitungen des Atomkraftwerks Kudankulam an der Südspitze Indiens im Bundesstaat Tamil Nadu verseucht werden; seien es Anwohner der Uranmine Jadugorar im East Singhbhum District des nordöstlichen Bundesstaats Jharkhand, die radioaktiv belasteten Staub einatmen und deren Trink- und Grundwasser durch drei große Absetzbecken für Uranschlämme verstrahlt wird; seien es Dorfbewohnerinnen und -bewohner, die von ihrem Land am Akw-Standort Jaitapur im indischen Bundesstaat Maharashtra vertrieben wurden, weil dort das größte Kernkraftwerk der Welt gebaut werden soll.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Praved Krishnapilla beantwortet Fragen zum Film
Foto: © 2015 by Schattenblick

Durch Crowdfunding finanziert und unterstützt unter anderem vom Waldviertler EnergieStammtisch führt der seit 15 Jahren in Österreich lebende Regisseur, der an der Universität für angewandte Kunst in Wien lehrt, das Publikum kreuz und quer durch Indien zu diesen und weiteren Standorten der nuklearen Infrastruktur.

Ohne zu moralisieren und ohne Effekthascherei, aber schonungslos nüchtern von der Bildgewalt her zeigt Krishnapilla die "Kollateralschäden" der nuklearen Energieproduktion: ein langjähriger, ehemaliger Mitarbeiter des Bhabha Atomic Research Centre (BARC) - früher Atomic Energy Establishment Trombay genannt -, schildert, daß er in den gefährlichsten und kontaminiertesten Bereichen der Plutonium-Wiederaufbereitungsanlage gearbeitet und sich dort eine sehr schmerzhafte, da permanent nässende Schuppenflechte zugezogen hat. Ein anderer nuklearer Standort, ein ähnliches Verhängnis: Ein Mann berichtet, daß seine Großeltern an Krebs gestorben sind. Wieder ein anderer Ort: Eine Mutter erzählt, daß sie ihren Sohn pflegen muß, der körperlich und geistig behindert ist. Erneuter Ortswechsel: Ein Mädchen ist mit nur einem Bein und einem Arm zur Welt gekommen.

Die Gemeinsamkeit dieser und vieler weiterer Menschen: sie leben oder lebten in der Nähe von Atomanlagen und wurden, so der naheliegende Verdacht, aufgrund radioaktiver Strahlung geschädigt. Eigentlich sollte es Aufgabe des Staates sein, seine Bürgerinnen und Bürger vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Die "größte Demokratie der Welt", als die sich Indien gerne sieht, macht das genaue Gegenteil. Da kann es auch keine Entschuldigung sein, daß andere Staaten das genauso handhaben oder Indien eine nachholende wirtschaftliche Entwicklung vollziehen will.

Ein Schwerpunkt des Film bildet der jahrelange Konflikt zwischen der indischen Obrigkeit und den Bewohnerinnen und -bewohnern von Idinthakarai und anderen Dörfern nahe des Kernkraftwerks Kudankulam. Sie haben durch friedliche, äußerst spektakuläre Aktionen wie Massendemonstrationen von mehreren zehntausend Menschen und Hungerstreiks, die bis heute in Form von Kettenhungerstreiks fortgesetzt werden, nicht verhindern können, daß im Oktober 2013 der Reaktor Kundakulam I erstmals kritisch wurde, also elektrischen Strom produziert hat. Kundakulam II soll ebenfalls demnächst in Betrieb gehen, womit aber eher nicht zu rechnen ist, weil er laut Peter Moritz, der den Regisseur auf seiner Vorführreise durch Deutschland begleitet, zur Zeit als "Ersatzteillager" für den Reaktor I dient. Ungeachtet dessen seien bereits Baugenehmigungen für zwei weitere Reaktoren an diesem Standort ausgesprochen worden.

Obgleich in dem Film sehr viele Personen zu Wort kommen, wirkt er an keiner Stelle gehetzt. Man sieht es dem Ergebnis dieser engagierten Untersuchung nicht an, daß die Filmemacher während der Dreharbeiten ständig in Gefahr liefen, verhaftet zu werden, da sie keine Drehgenehmigung besaßen und sie auch nicht erhalten hätten, wie der Regisseur in einer angeregten Gesprächsrunde im Anschluß an die Filmvorführung berichtete. Den Widrigkeiten zum Trotz ist es gelungen, wesentliche Stationen der nuklearen Infrastruktur Indiens anzusteuern und dem Publikum einen ersten Überblick über die Atomenergieproduktion zu verschaffen. In Indien selbst wurde der Film bis jetzt noch nicht gezeigt, was vermutlich auch unterbunden würde. Das Filmen der militärisch bewachten, atomaren Einrichtungen ist streng verboten.

Der Staat reagiert auf die Anti-Akw-Proteste mit äußerst repressiven Mitteln, in den letzten Jahren sind mehrere Protestierende ums Leben gekommen, darunter ein kleiner Junge. Zudem berichtet der Regisseur, daß bei einer Reihe von Vorführungen in diesem Jahr in verschiedenen deutschen Städten offensichtlich ein indischer Geheimdienstmann zugegen war, der Fotos geschossen hat und im Gespräch mit verschiedenen Personen jeweils andere Biografien angegeben hätte.

Eine wirksame, landesweit übergreifende Anti-Akw-Bewegung gibt es nicht. Das hängt nach Einschätzung Krishnapillas mit der kulturellen und sprachlichen Ausdifferenzierung Indiens sowie der ausgeprägten staatlichen Repression gegen Gruppen wie zum Beispiel Greenpeace India zusammen. Darüber hinaus wird in der Gesellschaft eine allgemeine Technologiegläubigkeit verbreitet - selbst er sei früher der Atomkraft gegenüber positiv eingestellt gewesen.

Indien deckt nur rund zwei Prozent seines Energiebedarfs mittels der Kernspaltung ab, aber zu dreizehn Prozent durch erneuerbare Energien. Krishnapilla geht davon aus, daß es dem Staat gar nicht um die zivile Nutzung der Kernenergie geht, sondern um die militärische. Indien verfügt gegenwärtig über rund 110 Atomwaffen und baut als Gegengewicht zum Atomwaffenstaat Pakistan, der über schätzungsweise 200 Atomwaffen verfügt und gegen den es schon mehrfach Krieg geführt hat, sein Atomwaffenprogramm laufend weiter aus.

Die Einschätzung des Regisseurs, daß der indische Staat mit dem Ausbau der Atomenergie eigentlich militärische Ziele verfolgt, ist bis zu einem gewissen Grad plausibel, zumal historisch zuerst die Atombombe gebaut und eingesetzt und erst viele Jahre später in einem Atomkraftwerk elektrischer Strom zu kommerziellen Zwecken produziert wurde. Dennoch wäre an dieser Stelle zu fragen, ob es Indien heute noch nötig hat, seine militärischen Interessen hinter einem zivilen Atomkraftwerkspark zu verstecken und diesen auch noch weiter auszubauen. Daß Indien und andere Nuklearstaaten der ökonomischen Irrationalität zum Trotz weiterhin Akws bauen, hat, so scheint es, mit der Sicherung von Herrschaftswissen und -technologien zu tun.

Auch wenn der dystopische Atomstaat des Philosophen Robert Jungk in der von ihm beschriebenen Form ausgeblieben ist - nicht zuletzt weil Technologien entwickelt wurden, die dem Staat einen qualifizierteren Zugriff auf seine Bürgerinnen und Bürger ermöglichen, als es sich Jungk Mitte des 20. Jahrhunderts auszudenken vermocht hatte -, gibt allein der Aspekt der zentralistischen Energieproduktion in Form von Atomkraftwerken dem Staat ein hochwirksames Verfügungsinstrument an die Hand.

Krebs, Blutkrebs, Lähmungen, Fehl- und Frühgeburten, Mißbildungen, Schilddrüsenerkrankungen ... war es nicht schon immer ein Merkmal von Herrschaft, krasse gesellschaftliche Widersprüche hervorbringen zu können, ohne deshalb grundsätzlich in Frage gestellt zu werden? Anders gefragt: Zeichnet sich Herrschaft nicht trotz, sondern wegen der Fähigkeit aus, anderen Menschen Leid und Schmerz zufügen zu können? Wohl kaum eine andere Energiegewinnungsform erfüllt diesen Zweck wirksamer als die der Spaltung des Urans unter vermeintlich kontrollierter Freisetzung von radioaktiver Strahlung. Praved Krishnapilla hat sich auf eindrückliche Weise dieses brisanten Themas angenommen. Daß die "Atomlügen" eingebettet sind in einen umfassenderen gesellschaftlichen Kontext, wäre allemal Anlaß für eine Anschlußproduktion.


(Der Schattenblick setzt seine Berichterstattung über die indische Atomenergie anläßlich des Films "Nuclear Lies" mit weiteren Berichten und einem Interview fort.)


Meer, heller Strand und Kraftwerksgelände mit einem kuppelartigen Reaktorgebäude - Foto: indiawaterportal.org, freigegeben als CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Wikimedia Commons

Akw Kudankulam an der Südspitze Indiens
Foto: indiawaterportal.org, freigegeben als CC BY-SA 2.0
[https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Wikimedia Commons

27. September 2015


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