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BERICHT/125: Gemessen essen - eine alte Währung ... (SB)


Besseres Essen für alle: Welchen Beitrag leisten die DGE-Qualitätsstandards?
Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts

DGE-Journalistenseminar am 1. Februar 2017 im Universitätsclub Bonn


"Plötzlich hat sich die Lage unübersehbar gewandelt - fast über Nacht. Ich frage mich, wer von Ihnen dies vor zwölf Monaten vorausgesehen hätte. (...) Innerhalb eines Jahres erlebten wir in der Europäischen Union eine Verteuerung von 80 Prozent für Weizen, 50 Prozent für Mais, 50 Prozent für Butter und 80 Prozent für Magermilchpulver."
(EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel bei ihrer Rede vor der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie am 18. Januar 2008 in Berlin) [1]


Rednerin hinter Stehpult beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

DGE-Präsidentin Prof. Ulrike Arens-Azevêdo stellt die Ergebnisse einer Studie zur Umsetzung der DGE-Standards in Kitas vor.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Seit einigen Jahrzehnten sind die Regale in deutschen Supermärkten stets gut gefüllt. Selten, daß einmal eine bestimmte Ware nicht mehr verfügbar ist und jene am Vortrag entdeckte Lücke im Regal nicht wieder mit dem gewünschten Produkt aufgefüllt wurde. Selbst der weltweit rasante Anstieg der Nahrungsmittelpreise vor zehn Jahren, auf den die frühere EU-Kommissarin im obigen Zitat abhebt, als handele es sich um ein schicksalhaftes Naturereignis, schlug sich hierzulande vergleichsweise gering auf die Versorgungslage nieder.

Im krassen Unterschied zu Ägypten, Mexiko, Philippinen und vielen mehr. In rund drei Dutzend Ländern rund um den Globus rückte die Verteuerung der Grundnahrungsmittel den Menschen so dicht auf den Leib, daß sie unruhig wurden und lautstarke Protestmärsche veranstalteten. Regierungen gerieten teils massiv unter Druck; der Präsident Haitis wurde wegen der Hungerkrise in seinem Land gestürzt. Umgekehrt kehrte mit den Demonstrationen die existentielle Nahrungsnot der Menschen, die getrockneten Lehm essen mußten (Haiti), sich das Brot nicht mehr leisten konnten (Ägypten) oder nur noch eine statt drei Mahlzeiten pro Tag aßen (Senegal), wieder als Problem an die politischen Entscheidungsträger zurück. Denn sie hatten die Verantwortung dafür übernommen, daß alle Mitglieder des Staates stets ausreichend mit Lebensmitteln versorgt sind, und waren dieser Aufgabe nicht genügend nachgekommen. Plötzlich mußten sie befürchten, ihren Posten oder noch mehr zu verlieren, zumal zunächst nicht absehbar war, welches Ausmaß die weltweiten Hungeraufstände annehmen würden.

Noch hatte es genügt, daß die Protestierenden von Polizisten niedergeknüppelt und mit Tränengas auseinandergetrieben wurden, aber es war den politischen Entscheidungsträgern klar, daß sich die Hungernden irgendwann dadurch nicht mehr würden aufhalten lassen. So wurden auf globaler und nationaler Ebene verschiedenste Maßnahmen ergriffen, um den Druck auf die von Nahrungsmangel bedrohten Menschen ein wenig herauszunehmen. Statt einer Milliarde Menschen, denen die zum Überleben notwendige Nahrung vorenthalten worden war, waren es binnen weniger Jahre "nur" rund 850 Millionen. Ein Wert, von dem angenommen werden konnte, daß er nicht zu Massenaufständen führen würde.


Hunger wird gemacht

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird auf die Jahre 2006/2007 als eine zeitlich begrenzte Nahrungsmittelkrise zurückgeblickt. Damit soll darüber hinweggetäuscht werden, daß es sich um die Zuspitzung einer für vorherrschende Interessen sehr nützlichen Dauermangel handelt. Ohne die permanente Drohung, bei Verweigerung in Existenznot zu fallen, würden Menschen niemals freiwillig für sie physisch absolut ruinöse Arbeiten verrichten.

Nach UN-Angaben hungern zur Zeit knapp 800 Millionen Menschen, mindestens zwei Milliarden sind nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt. Solange Nahrungsmittel dazu verwendet werden, um Energie zu gewinnen, Treibstoff herzustellen oder eine Massentierhaltung am Leben zu halten, solange in den ärmeren Ländern keine durchgehenden Kühlketten und Lagermöglichkeiten für Getreide aufgebaut werden und solange in Folge sogenannter Entschuldungsinitiativen, EU-Agrarexportsubventionen oder den ärmeren Ländern aufgenötigte Strukturanpassungsprogramme die relativ versorgungssichere bäuerliche Landwirtschaft durch die Versorgungsunsicherheit erzeugende kapitalistisch-industrielle Landwirtschaft ersetzt wird, ist Nahrungsmangel kein schicksalhaftes Ereignis, sondern wird gemacht. Hunger ist Folge absichtsvoller politischer Entscheidungen und nicht etwa tragischer Kollateralschaden einer ansonsten dem unbedingten Erhalt des Lebens verpflichteten Politik. Der philippinische Soziologieprofessor und Träger des Alternativen Nobelpreises, Walden Bello, spricht deshalb von einer "Politik des Hungers". [2]

Die Bewältigung der sogenannten globalen Nahrungsmittelkrise ist ein Musterbeispiel dafür, wie schon immer Herrschaftsformen entwickelt und gesichert wurden: Einigen Menschen wird Nahrung vorenthalten, anderen zugeteilt, und zwar in einem genau austarierten Verhältnis, damit die privilegierte Position derjenigen, die über die Verteilung bestimmen, nicht von den Hungerleidern gefährdet wird.

In relativ reichen Gesellschaften wie der deutschen wird dieses Grundverhältnis zwar ebenfalls noch über die Zuteilung von Nahrung aufrechterhalten, indem beispielsweise den mehreren Millionen Hartz-IV-Empfängern nur ein geringes Budget für Essen zugestanden wird, aber zusätzlich wurden auch feinere Formen des Ausbaus der Verfügungsgewalt über Nahrung etabliert. Die Bundesrepublik leistet sich den Unterhalt ganzer Institute und Forschungsabteilungen auf dem Gebiet der Ernährungwissenschaft. Die sind dann weniger mit der Sicherung der Nahrung an sich befaßt, als vielmehr mit Ernährung zum Zwecke der Therapie und Prävention, damit die Reproduktion der Arbeitskraft gesichert wird.

Vor diesem Hintergrund ist die Veröffentlichung des 13. Ernährungsberichts zu sehen, den die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) im Auftrag des Bundesernährungsministeriums alle vier Jahre herausgibt und der am 1. Februar 2017 in Bonn vorgestellt wurde. In Verbindung mit anderen Reports, Studien, Umfragen, etc. trägt dieser Bericht zur Bildung von Maßstäben bei, welche Nahrungsmittel in welcher Menge der Ökotrophologie (Ernährungslehre) zufolge förderlich für die Gesundheit und welche ihr abträglich sind.

Ohne zu essen kann ein Mensch keine Arbeit leisten, und ohne die Arbeitsleistung ihrer Mitglieder kann eine Gesellschaft nicht existieren. Vom Standpunkt politischer Entscheidungsträger und gesellschaftlicher Funktionseliten aus betrachtet ist es daher unverzichtbar, auch auf dem Gebiet der Ernährung sicherzustellen, daß sich zumindest der produktive und potentiell produktive, heranwachsende Teil der Bevölkerung gemäß den Anforderungen einer modernen Arbeitsgesellschaft adäquate Nahrung zuführt.

Wenn ein Mensch nicht genügend zu essen hat oder seine Nahrung ihn nicht mit ausreichenden Nährstoffen versorgt, setzt ein körperlicher Abbau ein, durch den die physische wie kognitive Leistungsfähigkeit schrumpft. Ein anderes Gefährdungspotential birgt die Überversorgung. Wenn Menschen permanent zuviel vor allem energiereiche Nahrung zu sich nehmen, wie es laut dem 13. Ernährungsbericht der DGE inzwischen in Deutschland überhand genommen hat, können sie, womöglich begünstigt durch weitere Faktoren, adipös werden oder auf andere Weise erkranken. Auch in diesen Fällen verringert sich die Leistungsfähigkeit; der Nutzen für die Gesellschaft schwindet.

Wie alles anfing ...

Das Feuermachen und Kochen gilt als erste kulturelle Handlung des Menschen, und um die Beschaffung der Nahrung, die verarbeitet wird, dreht sich das ganze Leben. In dieser Frage hat sich der heutige Mensch nicht einen Fingerbreit vom Höhlenbewohner weiterentwickelt. Die arbeitsteilige, ausdifferenzierte Gesellschaft läßt es womöglich nicht auf den ersten Blick erkennen, daß es dem modernen Homo sapiens noch immer um die gleichen Werte geht wie dem Homo erectus, der vor rund 1,8 Millionen Jahren das heutige Ostafrika besiedelte. Über die Motive der menschlichen Vorfahren, ihren angestammten Lebensraum zu verlassen, läßt sich naturgemäß nur spekulieren. Von der Geschichtsschreibung her ist jedoch bekannt, daß Nahrungsmangel wesentlicher Auslöser und Motor großer Völkerwanderungen war. Auch die heutigen Flüchtlingsströme von Afrika und Asien nach Europa gründen sich nicht zuletzt auf Nahrungsmangel oder drohenden Nahrungsmangel, ausgelöst durch Faktoren wie bewaffnete Konflikte, klimatische Veränderungen, das allgemeine Bevölkerungswachstum oder Globalisierungseffekte, wie sie 2006/2007 die Not plötzlich vergrößerten.

Mit dem wachsenden Wohlstandsgefälle zwischen den afrikanischen Herkunftsländern und Europa nimmt der Migrationsdruck zu. Wobei das Wohlstandsgefälle in zwei Richtungen auseinandertreibt: Europa wird im Durchschnitt reicher und Afrika ärmer. In den sechziger Jahren war die durchschnittliche Nahrungsversorgung der Bewohner Afrikas besser als in den neunziger und Nuller Jahren. Vielleicht ist diese Entwicklung nicht der einzige Grund, weswegen es viele Menschen nach Europa zieht, aber es ist ein sehr wichtiger.


Teile und herrsche ...

Nahrung und das Fehlen von Nahrung sind ein politisches Steuerungsinstrument ersten Ranges. Mit Brot und Spielen - panem et circenses - haben sich schon die Senatoren im alten Rom ihre Posten gesichert. Das Brot, das sie so großzügig unters Wahlvolk verteilten, haben sie allerdings weder selbst gebacken noch haben sie das Getreide dafür angebaut und geerntet. Sie ließen anbauen, ernten und backen. An diesem gesellschaftlichen Grundverhältnis hat sich bis heute nichts geändert. Die römischen Provinzen wurden ausgeblutet, um den Menschen in der Hauptstadt zu einem angenehmen Leben zu verhelfen. Der Raub von Nahrung, die von Bauern produziert wird, und die Verteilung von Nahrung im Tausch für eine Gegenleistung - beispielsweise an Soldaten, die an der Beute partizipieren, wenn sie sie bewachen -, hat Fürsten, Könige und andere Herrscher von alters her eine Währung an die Hand gegeben, die so existentiell war, wie es Münzen oder Scheine nie sein können, und die es ihnen ermöglichte, Verfügungsgewalt über eine Gemeinschaft aufzubauen und zu sichern.

Bei der Vorstellung, daß das Hungerproblem auf die Länder des Südens beschränkt bleibt und die Supermarktregale in Deutschland und der übrigen Europäischen Union stets gut gefüllt sind, werden die Voraussetzungen, auf denen diese Annahme beruht, ignoriert. Die Regale sind unter anderem deshalb zur Zeit noch gut gefüllt, weil die EU andernorts die Existenzgrundlage von Menschen zunichte macht. Mit den hochsubventionierten Agrarexporten beispielsweise nach Westafrika unterbietet die EU die bäuerlichen Produzenten dort und vernichtet reihenweise deren Einkommensmöglichkeiten. Viele Bäuerinnen und Bauern verlassen daraufhin das Land, gehen in die Stadt und fristen ihr Dasein fortan als urbanes Subproletariat am Rande des Existenzminimums.

Es ist somit dieselbe Regierung, die wohlmeinende Ernährungsberichte in Auftrag gibt und sich um die Ernährungslage der eigenen Bevölkerung sorgt, aber als führende Wirtschaftsmacht der Europäischen Union maßgeblich daran beteiligt ist, über Exportsubventionen für Agrarerzeugnisse lokale Märkte in Afrika und die ökonomische Grundlage von zahllosen Kleinbauern zu zerstören. Ein Widerspruch, der allerdings nur von denen beklagt wird, die nicht wissen wollen, daß Herrschaft über Teilen und die Teilhaberschaft der Beherrschten funktioniert. Kurzum: Die relativ gute Versorgungslage in Deutschland ist genauso Bestandteil der über Finanz- und andere globaladministrative Institutionen organisierten und ideologisch an der kapitalistischen Verwertung von Arbeitskraft orientierten Weltordnung wie die ausgesprochen schlechte Versorgungslage in anderen Ländern.


Worauf es hinauslaufen könnte ...

Die angemessene Ernährungsweise, die im 13. Ernährungsbericht der DGE noch als Empfehlung ausgewiesen und allgemein im DGE-Ernährungskreis beschrieben wird, könnte in einer Welt von morgen, in der jedes Nahrungsmittel mit RFID-Chips ausgestattet wird, so daß der Nahrungserwerb und damit -verzehr des einzelnen im Detail aufgelistet, gezählt und kontrolliert werden kann, normative Eigenschaften und in der Folge administrative Durchschlagskraft erhalten. Eine als "verantwortungslos" angesehene Ernährungsweise könnte zu Diskriminierungen wie eine höhere Eigenbeteiligung bei medizinischen Behandlungen mutmaßlich ernährungsbedingter Krankheiten führen. Ebenso ist es gut vorstellbar, daß in Zeiten des zugespitzten globalen Nahrungsmangels - vielleicht ausgelöst durch kriegerische Konflikte, Klimawandel, Protektionismus der nahrungsproduzierenden Länder - und einer in Schweden bereits sehr weitreichend verwirklichten, doch auch von anderen Ländern bereits eingeleiteten bargeldlosen Gesellschaft Nahrung gezählt, gewogen und abgemessen behördlicherseits in einer Menge zugeteilt wird, wie sie weniger dem Wunsch denn dem aufgrund seiner gesellschaftlichen Leistungen und Nützlichkeit zuerkannten Anspruch des einzelnen entspricht. Bereits vor Jahren wurden die Ernährungsexperten der DGE gebeten zu definieren, was zu einer minimalen Versorgung von sozial eher in der unteren Klasse beheimateten Menschen wie Hartz IV-Empfängern dazugehört. Selbst im wohlhabenden Deutschland erhalten bereits mehrere Millionen Menschen einen Vorgeschmack darauf, was es bedeutet, einer staatlichen Mindestversorgung ausgesetzt zu sein.


Fußnoten:

[1] http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-08-22_en.htm?locale=en

[2] Eine SB-Rezension zu Walden Bellos Buch "Politik des Hungers" (Assoziation A, Berlin/Hamburg, April 2010) finden Sie unter:
http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar531.html


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT zur Präsentation des 13. Ernährungsberichts erschienen:

BERICHT/124: Gemessen essen - neue Märkte, alte Professionen ... (SB)
INTERVIEW/253: Gemessen essen - es gibt kein gesundes Leben im Fett ...    Prof. Dr. Helmut Heseker im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Gemessen essen - Wissenschaft vor Urteil ...    Prof. Dr. Peter Stehle im Gespräch (SB)

1. März 2017


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