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BERICHT/133: Insektenschwund - Politik zu träge ... (1) (SB)



Fast bis auf den letzten Platz besetzt war der Hörsaal des Instituts für Landschaftsökologie (ILÖK), wohin am 17. Februar 2018 die Naturschutzorganisation NABU, Landesverband NRW, zu der Tagung "Rückgang der Insekten: Kenntnisstand, Forschungen, Aktivitäten" geladen hatte. Wir mußten sogar Interessenten absagen, berichtete der NABU-Vorsitzende Josef Tumbrinck, der als Moderator durch die Veranstaltung führte.

Das Thema Insektenschwund bewegt Wissenschaft und Öffentlichkeit schon länger, für erhebliches Aufsehen hat jedoch im Oktober vergangenen Jahres ein Bericht im Journal PLOS One gesorgt, in dem die Untersuchungsergebnisse zum Insektenschwund vorgestellt wurden. [1]

Demnach hat zwischen 1989 und 2016 die Biomasse von Fluginsekten in Schutzgebieten um mehr als 75 Prozent abgenommen. Festgestellt wurde dies an Standorten in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Rheinland-Pfalz. Andere Untersuchungen, beispielsweise aus dem Vereinigten Königreich, zeigen teils drastische Rückgänge bei bestimmten Insektenarten wie den Schmetterlingen. Darüber hinaus wird in hiesigen Breiten auch ein starker Schwund unter Vögeln und Vogelarten beobachtet. Alles in allem verdichtet sich der Eindruck, daß die Forschung hier eine Entwicklung nachzuvollziehen bemüht ist, die längst stattgefunden hat.

Ob sie noch zu stoppen oder gar umzukehren ist, werden wohl die allernächsten Jahre zeigen. Zwar hatte sich auf der Tagung NRW-Umweltministerin Christina Schulze Föckung krankheitsbedingt durch Staatssekretär Dr. Heinrich Bottermann vertreten lassen, aber allein ihre Ankündigung als Referentin zeigt, daß dem Thema inzwischen auch seitens der Politik Bedeutung beigemessen wird. Sowohl auf Landes- als auch Bundesebene sowie auf Ebene der Europäischen Union werden Maßnahmen mit dem vorgeblichen Ziel getroffen, Insekten zu schützen. Ob die eingeleiteten Maßnahmen aber reichen, steht auf einem anderen Blatt. Salopp gesagt, hier und da ein paar Blühstreifen am Feldesrand einzurichten, wird den Trend nicht aufhalten.

Eine Ursachenbestimmung für den Rückgang der Insekten gestaltet sich offenbar schwieriger, als man meinen sollte. Zu den immer wieder genannten Hauptverdächtigen gehört der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft und der Verlust an Habitaten in Folge der Versiegelung der Landschaft durch den Bau von Straßen und anderen Infrastruktureinrichtungen sowie der Beseitigung von Randstreifen an Feldern und von Brachflächen. Untersucht werden aber auch Außenseiterhypothesen wie der Einfluß von elektromagnetischen Wellen durch Sendemasten für den Mobilfunkverkehr, die zeitgleich zu dem Insektenschwund in einem dichten Netz in Deutschland aufgestellt und in Betrieb genommen wurden. Sollten Insekten über eine entsprechende Sinneswahrnehmung verfügen, könnte sie der "Lärm" der Funkwellen vielleicht ähnlich stören wie Meeressäuger mit ihren empfindlichen Hörorganen die Lärmzunahme in den Ozeanen aufgrund menschlicher Aktivitäten. Auch die Zunahme des UV-Lichts durch die Ausdünnung der stratosphärischen Ozonschicht wäre als möglicher Faktor des Insektenschwunds zu untersuchen, zumal viele Insektenarten extrem lichtorientiert sind. Einige von ihnen verfügen über riesige Sehapparate im Verhältnis zur übrigen Körperoberfläche - da würde es nicht wundern, wenn sie in besonderer Weise auf Veränderungen im Lichtspektrum reagierten.

Vergleichsweise intensiv erforscht wurden und werden allerdings die Auswirkungen von Pestiziden. Nach dem "stummen Frühling", über den Rachel Carson 1962 schrieb und der auf die Verwendung des Spritzmittels DDT gegen Insekten zurückging, droht inzwischen ein weiterer stummer Frühling auszubrechen. Zeitgleich zum Insektenrückgang verschwinden erneut ganze Vogelpopulationen. Der Verdacht, daß das Bienensterben und andere Schadensfolgen mit der Einführung und Verbreitung einer neuen Pestizidklasse, den Neonicotinoiden, ab Beginn der 1990er Jahre zusammenhängt, wiegt so schwer, daß die Europäische Union ab 1. Dezember 2013 ein vorläufiges Verbot für bestimmte Anwendungen der drei Neonicotinoide Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam verhängt hat.

Selbstverständlich waren die Neonicotinoide auch ein häufig angesprochenes Thema auf der Tagung, zu der erfreulich viel Zeit für Fragen und Diskussionen aus und mit dem Publikum eingeplant worden war. Wer sich einen Überblick über den Insektenrückgang verschaffen, die gängigen Theorien dazu kennenlernen und die teils durchaus kontroversen Standpunkte in dieser Frage erfahren wollte, war auf der NABU-Tagung bestens aufgehoben.


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Staatssekretär Dr. Heinrich Bottermann
Foto: © 2018 by Schattenblick

Den Auftakt des Vortragsreigens machte Staatssekretär Dr. Heinrich Bottermann, der den Schwerpunkt seiner Ausführungen darauf setzte, was die nordrhein-westfälische Landesregierung bereits alles an Maßnahmen, die zum Schutz der Insekten bzw. allgemein der Biodiversität dienen, unternommen hat - teils auf Anregung der Bundesregierung, teils auf die der Europäischen Union, teils aus Eigeninitiative. Im Mittelpunkt steht zweifelsohne das Insektenmonitoring, das vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) im Auftrag des Landesumweltministeriums seit 2017 auf 120 repräsentativ ausgewählten Probeflächen durchgeführt wird und bei dem, methodisch vergleichbar mit den Untersuchungen des Entomologischen Vereins Krefeld, die Biomasse von Fluginsekten gemessen werden soll. Die Ergebnisse sollen im Jahr 2022 vorliegen. Bedeutet das, daß die Landesregierung die nächsten vier Jahre abwartet, bevor sie wirksame Maßnahmen gegen den Insektenschwund ergreift? Genügen ihr die bisherigen Untersuchungsergebnisse des Entomologischen Vereins Krefeld nicht, um jenseits der möglichen Verpflichtung gegenüber Lobbygruppen initiativ zu werden? Bottermann berichtete, daß der Insektenrückgang bei ihnen "absolute Priorität" und auf allen Tätigkeitsfeldern des Hauses seinen Niederschlag gefunden hat. Das ist nach außen hin bislang nicht zu erkennen. Abgesehen davon gibt es dann auch noch das Wirtschaftsministerium, in dem der Insektenschwund vielleicht ebenfalls diskutiert wird - nur womöglich mit umgekehrter Intention.

Bottermann konstatierte: "Für das Problem des Insektenrückganges gibt es keine Patentlösung, sondern wir müssen einen breiten Strauß von Ursachen identifizieren, warum der Rückgang so stark ist. Und den müssen wir aufgreifen und gemeinsam Lösungen entwickeln."

Hierzu stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die Untersuchungen ergebnisoffen genannt werden können, wenn doch als Vorannahme erklärt wird, daß es um die Identifizierung eines "Straußes von Ursachen" geht. Woher will der Referent das wissen? Damit schließt er von vornherein aus, daß es eine einzige, alle anderen Einflußfaktoren signifikant überprägende Ursache des Insektenrückgangs gibt. Es bleibt an dieser Stelle der Beurteilung unserer Leserschaft überlassen, diese ministeriale Vorannahme als implizierte Absage an die bislang am stärksten in Verdacht geratenen chemischen Pflanzenschutzmittel aus der Intensivlandwirtschaft zu deuten.

Auffällig war jedenfalls, daß die Beantwortung der Frage aus dem Publikum, wann endlich das Verbot von Insektiziden kommt, ebenso unter dem Tisch fiel wie letztlich die nach den Sofortmaßnahmen, die die Landesregierung zu ergreifen beabsichtige, nachdem die Untersuchungsergebnisse über den 75prozentigen Insektenrückgang des Entemologischen Vereins Krefeld veröffentlicht worden sind. Bei der Beantwortung dieser Frage verwies Bottermann lediglich auf Maßnahmen, die bereits vor der Veröffentlichung der Studie im Oktober 2017 auf die Bahn gebracht worden waren, das heißt, die eigentlich nicht mehr als Antwort auf die akuten Handlungsbedarf wachrufenden Untersuchungsergebnisse gewertet werden können.


Der Referent am Stehpult bei der Beantwortung von Fragen aus dem Publikum - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dr. Martin Sorg und Josef Tumbrinck (rechts)
Foto: © 2018 by Schattenblick

Mit Martin Sorg trat als zweiter Referent der Tagung ein promovierter Biologe auf, der Vorstandsmitglied des Entemologischen Vereins Krefeld ist und als Co-Autor der im Journal PLOS One veröffentlichten Studie zum Insektenrückgang aufgeführt wird. Sorg stellte zunächst die Geschichte und Funktionsweise der Malaise-Falle vor, die nach ihrem Erfinder, dem schwedischen Entomologen René Malaise (1892 - 1978), genannt wird. Wenn Fluginsekten auf ein Hindernis stoßen, weichen sie in der Regel nach oben hin aus. Deswegen verfügt die Falle über ein weißes Zeltdach, das an der höchsten Stelle spitz zuläuft. Dort angelangt erwartet die Tiere jedoch nicht der rettende Himmel, sondern Alkoholdunst, der aus einer mit 80prozentigem Alkohol gefüllten Flasche aufsteigt. Die Tiere werden betäubt und fallen in die Flüssigkeit, von der sie konserviert werden. Innerhalb eines Jahres können auf diese Weise an einem einzigen Standort mehr als 100.000 Insekten gefangen werden, mit mehr als 1000, mitunter sogar über 2500 Arten.

Über einen Zeitraum von 27 Jahren wurden 96 Malaisefallenuntersuchungen an 63 verschiedenen Standorten in Schutzgebieten vorgenommen. Dabei kamen über 1500 Proben von weit über 16.000 Untersuchungstagen zusammen. Die Biomasse besitzt ein Abtropfgewicht von 53 kg. Runtergerechnet auf einen Tag macht das pro Falle drei bis vier Gramm Insekten aus, was laut Sorg dem Tageskonsum eines kleinen Insektenfressers entspricht.

Der Verein hat die Biomasse der gefangenen Insekten gemessen, um noch vor der Sortierung ein Gesamtmaß zu erhalten. Alle Insekten durchzuzählen wäre aussichtslos gewesen. 2013 wurde die Beprobung an zwei Standorten wiederholt, die bereits in der ersten Untersuchung, 1989, erfaßt worden waren. Obwohl die Standorte später Naturschutzgebiet geworden sind und für Insekten bessere Bedingungen einkehrten, ging deren Biomasse zurück. Die Veröffentlichung des Ergebnisses dieser Untersuchung - Rückgang der Biomasse um mehr als 75 Prozent - in den Mitteilungen des Entomologischen Vereins Krefeld [2] hatte die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf die Aktivitäten des 1905 gegründeten Vereins gelenkt.

Als nächstes wurden weitere Jahre hinzugenommen, teils wurden dabei schon einmal beprobte Standorte wiederholt. Die gravierendsten Rückgänge unter Insekten wurden im Monat Juli verzeichnet, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein feuchteres oder trockeneres Habitat handelte. Etwa 90 Prozent der Standorte befanden sich in der Nähe zu landwirtschaftlicher Nutzungsflächen, wobei Sorg mit der Irrtumsvorstellung aufräumte, daß in Schutzgebieten keine oder eine andere Form der Landwirtschaft betrieben wird als außerhalb. Das heißt, selbst dort werden Insektizide eingesetzt. Darum ist für die Forscher Windabdrift überhaupt kein Thema, denn die von ihnen gefangenen Insekten fliegen sowieso über landwirtschaftliche Nutzflächen hinweg oder lassen sich dort nieder.

Die Naturschutzbehörden erhielten keine Informationen darüber, welche Mittel in welchen Mengen in den von ihnen betreuten Schutzgebieten verwendet werden, sagte Sorg und machte darauf aufmerksam, daß die Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung zwar in Paragraph 4 vorsieht, daß eine Anwendung jener Pestizide, die in einer Anhangliste aufgeführt werden, verboten ist, aber daß aus Paragraph 8 hervorgeht, daß ein Verstoß gegen Paragraph 4 keine Ordnungswidrigkeit darstellt und nicht belangt wird. [3]

Zu den Prioritäten, was zu tun sei, gehört laut Sorg unter anderem die Ausweitung naturschutzbezogener Forschung, eine möglichst vollständige Gefährdungbewertung der heimischen Tierarten, ein Pestizidverbot in Schutzgebieten - wie vom Bundesumweltamt gefordert - und die Einrichtung wirksamer Pufferzonen zu den Schutzgebieten. Auf die Frage, ob der Insektenschwund auch an urbanen Standorten festgestellt wurde, antwortete der Referent, daß sie zwei städtische Standorte untersucht und ähnliche Resultate erhalten hätten. Er machte jedoch deutlich, wie wichtig es für ihn ist, das Schutzgebietsnetz ausreichend zu sichern und dort die Artenvielfalt soweit wie möglich zu erhalten. Denn wenn das nicht gelingt, würden dort die "gravierendsten Aussterbevorgänge" einsetzen.


Eine Luftaufnahme, auf der gut die große Nähe einer bewirtschafteten Fläche zum Fallenstandort zu erkennen ist, und eine Aufnahme, die eine Malaise-Falle von der Seite zeigt - Foto: M. Sorg, PLOS One, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/]

Malaise-Fallen in zwei Untersuchungsgebieten Foto: M. Sorg, PLOS One, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/]

Auf die Frage einer Lehrerin, ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, Insekten zu zählen, als sie dabei zu töten, reagierte ein, dem akustischen Eindruck nach größerer Teil des Publikums mit lauter Heiterkeit. Dabei war die Frage im besten Sinne naiv, also kindlich, tut doch eine Lehrerin gut daran, die kindliche Sichtweise zu kennen. Das bedeutet nicht zwingend, sie sich zu eigen zu machen. Man kann mit einiger Berechtigung vermuten, daß jemand, der beabsichtigt, den Insektenschwund im Unterricht zu behandeln und es unter Umständen mit Kindern zu tun hat, die sehr viel stärker aufs Tierwohl bedacht sind als Kinder früherer Generationen, auf den unübersehbaren Widerspruch angesprochen wird, daß ausgerechnet bei einer Untersuchung zum Schutz der Insekten eben jene getötet werden müssen. Und da zählen die Kinder womöglich nicht ab, ob das in der Probe wenige oder ganz viele Insekten sind oder ob natürlicherseits eine ungleich größere Menge an Insekten gefressen wird.

Sorg antwortete auf die obige Frage, daß sie das Töten der Insekten als einen völlig vernachlässigbaren Faktor ansehen, der statistisch praktisch gar nicht auftaucht. Ergänzend dazu gab der Moderator zu bedenken, daß es die Studie ohne diese Falle gar nicht gegeben hätte. Sie und ein Teil des Publikums waren sich darin einig, daß die Insekten getötet werden müssen, um Forschung zu betreiben. [4]

(wird fortgesetzt)


Drei Stellwände nebeneinander der NABU-Naturschutzstation Münsterland - Foto: © 2018 by Schattenblick

Eine Auswahl von NABU-Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Hallmann CA, Sorg M, Jongejans E, Siepel H, Hofland N, Schwan H, et al. (2017) More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE 12(10): e0185809. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809

[2] http://80.153.81.79/~publ/mitt-evk-2013-1.pdf

[3] https://www.gesetze-im-internet.de/pflschanwv_1992/PflSchAnwV_1992.pdf

[4] Ohne hier die technischen Herausforderungen des Baus und Betriebs einer Lebendfalle für Insekten kleinreden zu wollen, läßt sich durchaus vorstellen, ein Meßsystem mit Lichtschranken an der Spitze des Zeltdachs anzubringen, durch das die Zahl der vorbeifliegenden Insekten erfaßt wird. Selbstverständlich wäre das Resultat verglichen mit der Malaise-Falle, die zudem eine Bestimmung der gefangenen Arten zuläßt, bescheidener. Aber wenn es nur darum ginge, einen Trend der Insektenverbreitung festzustellen, könnte man das damit auf ähnliche Weise schaffen.


20. Februar 2018


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