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BERICHT/134: Insektenschwund - Politik zu träge ... (2) (SB)



"Wir sehen es als das schlimmste an, daß wir die 'baseline' verloren haben und immer weiter verlieren. Unsere Daten zeigen eines ganz eindeutig: wenn wir jetzt noch aktuell irgendwo in NRW etwas untersuchen, dann untersuchen wir nicht mehr den Zustand, den wir vor 20, 30 oder 40 Jahren hatten. Sondern wir untersuchen schon einen aktuellen Zustand und bekommen dann aktuelle Daten zu einem sehr weitgehend degradierten Zustand der Gesamtdiversität und auch der Abundanzen im Schutzgebietsnetz."
(Dr. Martin Sorg, 17. Februar 2018, Münster)

Die nordrhein-westfälische Landesregierung macht genau das, was der promovierte Biologie im obigen Zitat schildert: Sie hat im vergangenen Jahr eine Initiative zum Insektenmonitoring gestartet, bei dem an 120 repräsentativen Standorten in NRW über mehrere Jahre hinweg die Insektenabundanz, also die Menge an Insekten, erfaßt werden soll. Bis zum Jahr 2022 soll das Ergebnis vorliegen. Die "baseline" ist jedoch 2017 und nicht 1989, als Sorg und seine Kollegen ihre seitdem methodisch stets gleichen Untersuchungen zum Insektenbestand an Standorten in Schutzgebieten von NRW sowie Brandenburg und Rheinland-Pfalz begannen. Festgestellt wurde dabei ein teils mehr als 75prozentiger Insektenschwund. Darüber berichteten die Forscher im Oktober 2017 im Wissenschaftsjournal PLOS One [1].

Wenn jenes nun anberaumte Monitoring die im Mittelpunkt stehende Antwort der NRW-Regierung auf den von Sorg und anderen Mitgliedern des Entomologischen Vereins Krefeld registrierten Insektenrückgang ist, verzögert das womöglich entschiedenere Maßnahmen - so man sie überhaupt ergreifen wollte - um mehrere Jahre. Genügt es bis dahin, hier und da einige Blühstreifen einzurichten und darauf zu hoffen, daß die Insekten zurückkommen, und andere, eher indirekte Effekte aufzurufen? Der Standpunkt der meisten Referenten auf der Tagung "Rückgang der Insekten: Kenntnisstand, Forschungen, Aktivitäten", die vom Landesverband NRW der Naturschutzorganisation NABU am 17. Februar 2018 an und mit dem Institut für Landschaftsökologie (ILÖK) in Münster organisiert wurde, war in dieser Hinsicht eindeutig: Es reicht bei weitem nicht. Es müssen viel tiefergehende Veränderungen in der Art der Landschaftsgestaltung und landwirtschaftlichen Produktionsweise verwirklicht werden, sofern man den Schwund unter den Insekten (und in der Folge auch der Vögel) stoppen will.


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Christoph Scherber
Foto: © 2018 by Schattenblick

Das forderte beispielsweise Prof. Dr. Christoph Scherber, der vor zwei Jahren von der Universität Göttingen ans ILÖK gewechselt ist und dort die Arbeitsgruppe Tierökologie und multitrophische Interaktionen leitet. (Unter multitrophischen Interaktionen werden Stoffwechsel- und Kommunikationsvorgänge zwischen den unterschiedlichen Lebensformen - Pflanzen, Tiere, Pilze - in einem Ökosystem verstanden.

"Die Biodiversität von Insekten im Kontext: Erkenntnisse aus Forschungsprojekten in Wald, Grünland und Ackerland" hatte Scherber seinen Vortrag betitelt. Aus seinen Forschungsergebnissen, nach denen selbst 500 Meter tief im Wald des thüringischen Naturparks Hainich noch Offenlandpflanzen anzutreffen sind, leitet der Forscher ab, daß es selbst dort noch kein reines Waldökosystem gibt. Darum regt er den Aufbau und Schutz größerer, zusammenhängender Waldflächen an, und es sollte sich dabei nicht um einen Fichten-Forstwald mit lauter dicht nebeneinander wachsenden Bäumen handeln, sondern um einen artenreichen, teils lichten Wald.

Hinsichtlich des Grünlands hat die Forschung festgestellt, daß Pflanzen und Tiere in komplexen Netzwerken interagieren und daß sich eine hohe Anzahl an Pflanzenarten "positiv auf Prozesse wie Unkrautregulierung, Schädlingskontrolle oder Bestäubung" auswirken. Die 15jährige Ackerlandforschung des Landschaftsökologen hat unter anderem erbracht, daß ein Fruchtwechsel für die Biodiversität von Laufkäferarten förderlicher ist als der monotone Anbau von Weizen oder Mais.

Was das Anlegen von Blühstreifen betrifft, so schlägt Scherber vor, zweigleisig zu fahren: "Landwirte sollten ebenfalls darin unterstützt werden, Leguminosen und Mischkulturen anzubauen, um Insekten in der gesamten Landschaft eine Matrix zu bieten, in der sie sich ausbreiten können oder wo sie Nahrung aufnehmen können." Es müßten aber alles in allem viel mehr Forschungen betrieben werden, auch und gerade in Form von Langzeitprojekten - das heißt, mit Festangestellten -, um Aussagen über die Insektendiversität zu treffen. Weil das einzelne Institute personell und finanziell nicht allein stemmen könnten, forderte er die Einrichtung eines nationalen Biodiversitätsmonitorings. In der Schweiz und in Österreich sei man da schon weiter. "Ein siebzigprozentiger Verlust der Insektenbiomasse läßt sich nicht einfach so mal eben schnell mit ein paar Handstreichen wieder gutmachen", resümiert Scherber.

Eine ähnliche Forderung stellte Prof. Wolfgang Wägele vom Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn, der ein Kurzreferat hielt, auf. Das Bundesforschungsministerium (BMBF) solle ein nationales, flächendeckendes, kontinuierliches Biodiversitätsmonitoring finanzieren, dabei auch die Qualität der Habitate bewerten und Veränderungen automatisch registrieren. Es sei doch bemerkenswert, daß die Entdeckung des Insektenschwunds nicht aus der akademischen Forschung stamme, konstatierte er und sagte weiter: "Wir haben sehr viele ökologische Institute in Deutschland, die diese Daten nicht bereitstellen konnten."

Wägele schlug einen größeren Bogen und ordnete das Insektensterben in den allgemeinen Artenschwund vor dem Hintergrund des planetaren Wandels ein: "Wir sprechen heute von Insekten. Wir müssen davon ausgehen, daß die gesamten Ökosysteme betroffen sind, nicht nur Insekten." Der Klimawandel könne wieder rückgängig gemacht werden, Gletscher könnten wieder wachsen, aber wenn Arten aussterben, seien sie für immer verschwunden. In einer vom Forschungsmuseum Alexander Koenig herausgegebenen Broschüre heißt es zu diesem Thema: "Wenn Arten aussterben, kann kein Labor der Welt diese neu herstellen. Es dauert Millionen Jahre, bis neue Arten die verlorene Vielfalt ersetzen. Unsere Kinder und Enkel und viele weitere Generationen werden unvermeidlich auf einem biologisch verarmten Planeten leben müssen."


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Wolfgang Wägele
Foto: © 2018 by Schattenblick

Vergleiche zu anderen Forschungsrichtungen tragen sicherlich auch den Geschmack, daß dabei andere, beispielsweise berufsständische Interessen einfließen, zumal Wägele bereits so konkret wird, daß er Bonn als zukünftigen Standort für das Monitoringzentrum empfiehlt. Dabei existiert bereits ein von der DFG gefördertes Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), das an den Universitäten Halle, Jena und Leipzig angesiedelt ist und an dem laut Selbstdarstellung erstens "Biodiversitätsmuster" (Quantifizierung und Verständnis räumlicher und zeitlicher Veränderungen von Biodiversität), zweitens "Biodiversitätsprozesse" (evolutionäre und ökologische Prozesse, welche Biodiversität erschaffen und erhalten), drittens "Biodiversitätsfunktionen" (Wie beeinflusst Biodiversität Ökosystemfunktionen und erbringt Ökosystemdienstleistungen für den Menschen?) und viertens "Biodiversität und Gesellschaft" (Schutz von Biodiversität und ihre Integration in die nachhaltige Bewirtschaftung der Erde) erforscht werden. [2]

Andererseits muß man sich wirklich fragen, warum in Deutschland nicht schon längst ein nationales Biodiversitätsmonitoring auf die Beine gestellt wurde, von dem Daten erhoben werden, wie sie vom Entomologischen Verein Krefeld stammten. Bedeutet das nicht, daß Landes- und Bundesämter und andere behördliche Einrichtungen, bis hinauf zur administrativen Ebene der Europäischen Union, sämtliche Entscheidungen zu Flächennutzungsplänen, Infrastrukturprojekten, Genehmigungsverfahren für Pestizide, sofern sie die Biodiversität betreffen, auf einer ungenügenden Datenbasis getroffen haben? Ungenügend in dem Sinne, daß sie nicht ausreichend einordnen konnten, welche Folgen ihre Entscheidungen haben werden?

Die Einrichtung eines ausreichend finanzierten "Deutschen Zentrums für Biodiversitätsmonitoring" in Trägerschaft von Wissenschaftseinrichtungen sei unerläßlich, schreibt auch Josef Tumbrinck, Vorsitzender des NABU NRW, im sogenannten Münsteraner Appell [3]. Mit dem bereits in die Wege geleiteten NRW-weiten Insektenmonitoring sei die Landesregierung "auf dem richtigen Weg". Dies reiche aber bei weitem nicht aus. "Politik und Gesellschaft sind auf allen Ebenen gefordert, umgehend eine Trendwende der dramatischen Entwicklungen einzuleiten", so Tumbrinck, der auch als Moderator durch die Tagung führte.


Fichten stehen so dicht, daß selbst ihre unteren Zweige kein Grün tragen - Foto: Botaurus, gemeinfrei Laubbäume, teils umgestürzt, ein kleiner Weiher, und im Hintergrund eine Lichtung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Fichtenmonokultur am Fuße des Rotsteins - kein üppiger Lebensraum für andere Pflanzen oder Insekten
Foto: Botaurus, gemeinfrei
Teil lichter, teils dicht bewachsener Mischwald mit zahlreichen Tier- und Pflanzenarten ... wird zur Zeit mit politischer Hilfestellung seitens der NRW-Landesregierung dem Braunkohletagebau Hambach geopfert.
Foto: © 2015 by Schattenblick

Nur einmal angenommen, in der Bundesrepublik Deutschland wäre schon vor Jahrzehnten ein nationales Zentrum für Biodiversitätsmonitoring geschaffen worden, das, wie von Wägele vorgeschlagen, kontinuierlich und flächendeckend die Entwicklungen der Arten beobachtet und zeitnah ausgewertet hätte. Falls dann schon in den 1980er Jahren festgestellt worden wäre, daß die Insektenpopulationen, die eine für die Landwirtschaft unverzichtbare Bestäuberleistung bringen, abnehmen, hätten die unter anderem auch als Beizmittel verwendeten Neonicotinoide möglicherweise keine Genehmigung erhalten. Man hätte vermuten können - was erst zu spät festgestellt wurde -, daß sie unter bestimmten Umständen für Honig- und Wildbienen eine letale (tödliche) oder subletale (beinahe tödliche) Gefahr darstellen.

Ein weiterer Aspekt: Wenn Bayer, Syngenta und andere Hersteller von chemischen Pflanzenschutzmittel davon ausgehen müssen, daß der dank seines nationalen Biodiversitätsmonitoringzentrums in dieser Angelegenheit gut informierte Staat keine Genehmigung für Pestizide erteilt, die auch nur im Verdacht stehen, eine so gefährliche Entwicklung wie den Insektenschwund zu fördern, hätten sie womöglich erst gar keine Neonicotinoide weiterentwickelt, da sie sich gesagt hätten, daß ein systemisch wirkendes, sich also in sämtlichen Pflanzenbestandteilen ausbreitendes Mittel auch jene Insekten schädigen könnte, die nicht zur Zielgruppe gehören, und niemals zugelassen würde.

Vor wenigen Tagen, am 21. Februar 2018, lief die Frist für Anträge für Exzellenzcluster, die bei der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) eingereicht werden, aus. Im September wird eine Kommission darüber entscheiden, welche wissenschaftlichen Vorhaben in der nächsten Runde der Exzellenzstrategie, die ab 1. Januar 2019 mit beträchtlichen Summen aus dem Fördertopf der Bundesregierung unterstützt werden sollen, teilhaben dürfen. Die Exzellenzcluster-Initiative ist nicht unumstritten, da sie auf die Stärkung internationaler Konkurrenzfähigkeit ausgerichtet ist und zur Diskriminierung jener Forschungseinrichtungen und -richtungen beiträgt, die sich nicht oder nicht genügend dem Diktat der Spitzenforschung unterwerfen, sondern sich auf andere universitäre Aufgaben konzentrieren. Oder auf gesellschaftliche Aufgaben, die bislang offenbar nicht so sehr im Fokus standen oder den Interessen allzu einflußreicher Lobbygruppen zuwiderliefen, als daß sie umfangreiche Gelder an sich zu ziehen vermocht hätten. Die Erforschung des Insektenschwunds wäre sicherlich nicht die schlechteste Wahl zur Verwendung von Fördergeldern seitens der Exzellenzstrategie.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Hallmann CA, Sorg M, Jongejans E, Siepel H, Hofland N, Schwan H, et al. (2017) More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE 12(10): e0185809.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809

[2] https://www.uni-jena.de/DFG_Forschungszentrum.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/unsp0985.html


Bisher im Schattenblick zur NABU-Tagung über den Insektenrückgang unter UMWELT → REPORT → BERICHT erschienen:

BERICHT/133: Insektenschwund - Politik zu träge ... (1) (SB)


23. Februar 2018


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