Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → REPORT

INTERVIEW/035: Arktis warm, Europa kalt - Indikator Meeresspiegel (SB)


Pressekonferenz des KlimaCampus Hamburg

"Negativ-Rekord in der Arktis - was bedeutet das Meereis-Minimum für unser Klima?"

Telefoninterview mit Prof. Anders Levermann am 21. September 2012



Rekordschmelze in der Arktis, meldeten am 19. September zeitgleich das Nationale Schnee- und Eisdatenzentrum (National Snow and Ice Data Center - NSIDC) in den USA und führende deutsche Meeres- und Klimaforscher in Hamburg. Der KlimaCampus der Hansestadt hatte zu einer Pressekonferenz geladen, auf der die Referenten die Vorgänge im hohen Norden unter verschiedenen Aspekten beschrieben und erörterten. [1] Obgleich geografisch weit entfernt, sei die Arktis uns in Europa physikalisch sehr nah, hieß es.

Mit einer Ausdehnung der arktischen Meereisfläche von nur noch 3,41 Mio. (NSIDC) bzw. 3,37 Mio. Quadratkilometern (Deutsche Wissenschaftler) wurde das bisherige Minimum aus dem Jahr 2007 um etwa 23 Prozent unterboten. Die Forscher führen das Phänomen auf die allgemeine Erderwärmung zurück, für die sie menschengemachte Treibhausgase hauptverantwortlich machen.

Der Vortrag von Prof. Anders Levermann, Professor für die Dynamik des Klimasystems und Leiter des Forschungsbereichs Nachhaltige Lösungsstrategien am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, stand unter der Fragestellung, was diese Entwicklung mit dem Meeresspiegel zu tun hat [2]. Am Freitag, den 21. September 2012, führte der Schattenblick ein Telefoninterview mit dem Wissenschaftler.

Auf der Pressekonferenz beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Anders Levermann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Professor Levermann, in Ihrem Vortrag diese Woche Mittwoch an der Universität Hamburg berichteten Sie, daß sich der Rückgang des Meereises in der Arktis faktisch nicht auf den Meeresspiegel auswirkt, da das Eis schwimmt, aber daß indirekte Folgen auftreten können. Wären diese so relevant, daß sich der Küstenschutz darauf einstellen müßte?

Anders Levermann: Ja, der Küstenschutz muß sich insgesamt auf den Meeresspiegelanstieg einstellen und wir wissen noch nicht so genau, welchen Anstieg wir zu erwarten haben. Wenn man Küstenschutz betreibt, dann muß man sich an die oberen Grenzen des Möglichen anpassen und zur Abschätzung dieser oberen Grenzen gehören eben auch die Effekte, daß der Meeresspiegel durch die Eisschmelze auf Grönland und die Ausdehnung des Meerwassers durch die Erwärmung ansteigt. Diese beiden Komponenten werden durch den Rückgang des arktischen Meereises mit beeinflußt.

SB: Woran wird in einem System wie der Erde, in dem doch alles in Bewegung ist, überhaupt der Meeresspiegel bemessen?

AL: Es werden tatsächlich nur Änderungen des Meeresspiegels gegenüber einem vorherigen Zeitpunkt gemessen. Da haben wir mittlerweile Satellitendaten und auch Tidenhubmessungen in den einzelnen Häfen. Wobei die Messungen jetzt nicht einfach so verwendet werden, sondern in statistische wissenschaftliche Analysemethoden einfließen, mit denen dann eine Veränderung des Meeresspiegels berechnet wird.

SB: Was wäre denn da der Fixpunkt?

AL: Es gibt und es braucht tatsächlich keinen Fixpunkt, wenn Sie einfach fragen, wie sich der Meeresspiegel in einem Hafen zum Beispiel verändert hat von vor hundert Jahren auf jetzt. Da nehmen Sie einfach diese Zeitreihe des Meeresspiegels, wie er dort gemessen wurde und dann fließt natürlich über kurzen Zeitraum der Tidenhub und ähnliches mit hinein. Über lange Zeiträume ergibt sich ein Anstieg. Da brauchen Sie quasi keinen geographischen Referenzpunkt, sondern Sie sagen einfach, an diesem Ort ist der Meeresspiegel um so und so viel gestiegen oder gefallen.

SB: Sie sprachen eben die Eisschmelze auf Grönland an. Grönland und Antarktis kommen an dritter Stelle der Ursachen für den gegenwärtigen Meeresspiegelanstieg, wenngleich mit steigender Tendenz. Was sagen die Simulationen, wann wird das Abschmelzen der beiden mächtigen Eisschilde zum Hauptfaktor für den Meeresspiegelanstieg?

AL: Die zeitliche Veränderung der großen Eisschilde ist noch eine sehr, sehr schwierige Frage, wir sind dort wesentlich weniger weit als bei den Klimamodellen. Die Klimamodelle sind mittlerweile gut in der Lage, die vergangenen Temperaturänderungen zu simulieren und nachzuvollziehen und entsprechend auch gute Projektionen für die Zukunft zu geben. Für die Eismodelle gilt dies noch nicht. Wir können mittlerweile Eiszeiten simulieren, die sich auf sehr langsamen Zeitskalen abgespielt haben und entsprechend sind das unsere Hauptvalidierungsmethoden. Das bedeutet, daß wir an den Veränderungen der Eiszeit und deren Simulation unsere Modelle überprüfen können. Leider sind die Eiszeiten relativ langsam, deswegen können wir schnelle Entwicklungen damit nicht validieren. Das macht das ganze schwierig, deswegen kann man heute auch noch keine robusten Projektionen für die Eisentwicklung angeben.

Sermersuaq auf Grönland, am Rande des Hochlands von Isunngua, nordöstlich von Kangerlussuaq, Sommer 2010 - Foto: Chmee2/Valtameri, freigegeben als CC-Lizenz via Wikimedia

Sommerliche Eisschmelze und körnige Eisstruktur des grönländischen Eisschilds
Foto: Chmee2/Valtameri, freigegeben als CC-Lizenz via Wikimedia

SB: Sie hatten in Ihrem Vortrag von einer körnigen Struktur des Eises gesprochen. Kann es sein, daß dieses Eis schneller schmilzt und kommen in Ihren Projektionen auch unberechenbare Faktoren hinzu, da man noch nicht so genau weiß, wie beispielsweise die Struktur des Eises beschaffen ist?

AL: Ja, es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die wir von der Eis-Physik selber noch nicht verstanden haben. Das heißt von den Kristallstrukturen und den Lichtempfindlichkeiten, der Lichtrückstrahlfähigkeit, aber eben auch der Wärmeleitfähigkeit und der Porosität bezüglich Wasser. Aber wir verstehen auch nicht viel über die Bodenbeschaffenheit unter dem Eis, die eine Rolle dabei spielt, wie schnell es gleiten kann. Einerseits fließt das Eis, andererseits gleitet es - das sind alles Faktoren, die dazu führen, daß wir das alles noch nicht wirklich gut vorhersagen können.

SB: Kann man abschätzen, wann der grönländische Eisschild bei der jetzigen Geschwindigkeit, mit der das Eis schmilzt, verschwunden sein würde?

AL: Es wird untersucht, unter welchen Temperaturerhöhungen das grönländische Eisschild noch stabil ist und nur wenig Eis verliert und ab welcher Temperatur es nicht mehr stabil ist und dann letztendlich seine gesamte Eismasse verliert von sieben Metern Meeresspiegeläquivalent. Bis noch vor einem Jahr wurde diese Temperatur auf etwa 2,5 Grad globale Erwärmung geschätzt. Vor kurzem wurde jedoch eine Studie veröffentlicht, die den Wert auf 1,5 Grad zurückgenommen hat.

SB: 1,5 Grad - da scheint es hinsichtlich der Berechnungsvoraussetzungen noch deutliche Unsicherheiten gegeben zu haben.

AL: Ja, wir gehen davon aus, daß die neuen Berechnungen besser sind, deswegen sind sie ja gemacht worden. Der entscheidende Punkt ist nun, daß der Eisverlust um so schneller erfolgt, je mehr man über dieser Grenze hinaus ist. Bleibt man direkt an dieser Grenze von 1,5 Grad oder geht nur kurz darüber hinaus, dann würde es 10.000 Jahre dauern, bis das Eisschild verloren ist. Wenn man aber deutlich darüber ist, beispielsweise bei 5 Grad, dann geht das entsprechend schneller.

Gothab-Gletscher, Grönland, im Jahr 2004 - Foto: Susan M. Ottalini, freigegeben als CC-Lizenz via Wikimedia

Bodenbeschaffenheit - für Forscher ein ungenügend verstandener Faktor des Eisflusses
Foto: Susan M. Ottalini, freigegeben als CC-Lizenz via Wikimedia

SB: Ist bei der Angabe, daß der Meeresspiegel um sieben Meter steigt, wenn das grönländische Eis schmilzt, die physikalische Ausdehnung des Eises aufgrund der Erwärmung berücksichtigt oder käme die noch oben drauf?

AL: Die ist darin enthalten.

SB: Halten Sie es für eine realistische Möglichkeit, daß sich die Länder durch Deiche dagegen schützen können?

AL: Gegenüber einem sieben Meter höheren Meeresspiegel können sich viele Gebiete nicht mit Deichen schützen. Das weiß man. Aber sieben Meter sind eben auch nicht das, was wir in den nächsten hundert Jahren erreichen.

SB: Welche Länder wären als erstes vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen?

AL: Das sind die üblichen Verdächtigen: Die Nordseeküste an sich, also die Niederlande, aber auch Norddeutschland - Hamburg müßte ab 80 Zentimeter andere Deichstrukturen einführen -, aber eben auch Florida, Schanghai, Kalkutta, Bangladesch insgesamt.

SB: In einer Presseerklärung [3] des Potsdam-Instituts vom 4. April 2005 über Berechnungen eines theoretischen Stillstands der Atlantischen Zirkulation wird in diesem Zusammenhang die Möglichkeit eines raschen Meeresspiegelanstiegs angenommen. Inwiefern könnte das Abschmelzen des arktischen Meereises Einfluß auf diese Zirkulation haben?

AL: Das ist eine noch nicht gelöste Frage. Die Presseerklärung bezog sich tatsächlich auf meine Studie von 2005. Das Eis hat zwei wichtige Rollen für den Ozean. Einerseits entzieht das Eis dem Ozean das Frischwasser, läßt somit das Salz zurück und macht damit das Ozeanwasser schwerer. Dann kann dieses Eis irgendwohin transportiert werden, schmelzen und dort das Wasser wieder frischer und leichter machen. Andererseits schirmt das Eis den darunterliegenden Ozean von der extrem kalten Atmosphäre im Norden ab und isoliert es. Temperatur und Salzgehalt bestimmen die Ozeanzirkulation entscheidend. Wie sich unter globaler Erwärmung die Änderung des Eises auf die Änderung dieser Zirkulation auswirkt, ist tatsächlich nicht wirklich vollständig verstanden.

SB: Spielen da auch osmotische Vorgänge eine Rolle?

AL: Nein.

SB: Habe ich das in der Presseerklärung richtig verstanden, daß es unter diesen angenommenen Bedingungen zu einer regelrechten Massenverlagerung des Meerwassers vom Südatlantik zum Nordatlantik kommt?

AL: Wenn die Zirkulation abbricht, dann ist das so, ja.

SB: Und wurde schon berechnet, welchen Einfluß eine solche Massenverlagerung auf die Erddrehung haben könnte?

AL: Ja, es gibt eine Studie vom Max-Planck-Institut, die sich damit beschäftigt, wie sich die Erdrotation unter globaler Erwärmung und der Verschiebung von Massen verändert. Soviel ich weiß, ist sie aber nicht direkt an die Zirkulation gekoppelt. In jedem Fall ist diese Veränderung der Erdrotationsgeschwindigkeit nichts, wonach wir unsere Uhren stellen müssen. Nein, es gibt keine extreme Änderung.

SB: Manchmal entsteht der Eindruck, daß Klimasimulationen eine Halbwertszeit besitzen. Was vor wenigen Jahren noch als Worst-case-Szenario galt, wird bereits von der Wirklichkeit erreicht oder übertroffen. Hat das unter Klimaforschern zu einer größeren Vorsicht im Umgang mit den Daten geführt?

AL: Das kann ich tatsächlich nicht sagen, weil es viele Klimaforscher gibt und viele Arten, mit Forschungsergebnissen umzugehen, das ist ja mehr eine psychologische Frage. Ich muß sagen, daß man da sehr genau hingucken muß. Denn wenn Sie sich die Vorhersagen oder die Projektionen, wie wir das besser nennen, der globalen Mitteltemperatur für die Zukunft anschauen und es dann mit den einzelnen Sachstandsberichten des Weltklimarates vergleichen, dann finden Sie, daß sich beim gleichen Szenario, das bedeutet bei gleichem CO2-Ausstoß, die Simulationen extrem ähneln. Das heißt, Sie bekommen die gleichen Ergebnisse in 2001 wie wir sie in 2007 bekommen haben. Und es ist zu erwarten, auch wenn die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind, daß auch in dem nächsten Bericht von 2014 diese Zahlen wieder sehr ähnlich sein werden. Wie gesagt, bei gleichem Szenario.

Das zeigt, daß wir die globale Mitteltemperatur tatsächlich mit unseren Modellen sehr gut im Griff haben und es da wenig Änderungen gibt, obwohl sich die Computer verbessern und schneller werden. Aber Sie haben recht, daß insbesondere, was das arktische Meereis angeht, die Modelle des letzten Weltklimaratberichtes diese Entwicklung extrem unterschätzt haben. Wie Sie auf der Pressekonferenz gesehen haben, sind die neueren Modelle, wie sie von Dirk Notz vorgestellt wurden, mittlerweile in der Lage, die Meereisentwicklung auch nachzuvollziehen, also aus physikalischen Gesetzen heraus zu simulieren. Da glaubt man natürlich auch eher an die Zukunftsprojektion.

Man muß aber wirklich zwischen dynamischen Entwicklungen wie zum Beispiel beim Meereis und thermodynamischen, wärmebezogenen Entwicklungen, wie die der globalen Mitteltemperatur, unterscheiden. Solche wärmebezogenen Entwicklungen können wir reproduzieren und auch besser vorhersagen als die dynamischen Veränderungen bei Winden, Meeresströmungen und Meereisveränderungen.

Falalop, Ulithi-Atoll, Karolinen-Inseln, 4.7.2008 - Foto: Crescentmoon56, freigegeben als CC-Lizenz via Wikimedia

Die Modelle sind gut - aber den Bewohnern von Atollen wie Falalop könnte bald das Wasser bis zum Hals stehen
Foto: Crescentmoon56, freigegeben als CC-Lizenz via Wikimedia

SB: Die Geschwindigkeit, mit der zur Zeit der magnetische Nordpol wandert, hat zugenommen. Außerdem wird eine Abschwächung des Erdmagnetfelds registriert. Gibt es irgendeinen Hinweis auf eine mögliche Wechselwirkung zwischen diesen Phänomenen und anderen Naturfaktoren, die für das Klima relevant sein könnten?

AL: Davon weiß ich nichts.

SB: Sie betreiben gemeinsam mit Stefan Rahmstorf und Martin Visbeck den Blog KlimaLounge, wo sie sich unter anderem zu klimapolitischen Fragen äußern. Wenn Sie mit Ihrem wissenschaftlichen Hintergrund in der Regierung säßen und die Möglichkeit hätten, die zukünftige Klimapolitik zu bestimmen - würden Sie etwas anderes machen als die jetzige Bundesregierung und wenn ja, was?

AL: Eine Klimapolitik ist eingebettet in eine Gesamtpolitik und es gibt politische Vertreter, die von der Gesellschaft gewählt sind und all diese unterschiedlichen Drücke und Nöte der Gesellschaft im Blick haben müssen. Entsprechend sollten es nicht die Klimaforscher sein, die die Politik gestalten. Klimaforscher sollten die Politik beraten. Wenn sich die Politik als Vertreter der Gesellschaft dafür entscheidet, daß zwei Grad globale Erwärmung eine Obergrenze sein sollte, über die wir nicht gehen, dann bedeutet das zwangsläufig in der Konsequenz, daß wir einen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen brauchen und zwar weltweit und praktisch vollständig bis zum Ende des Jahrhunderts und daß wir bis 2015 die Wende geschafft haben müssen, in dem Sinne, daß dann das Maximum der Emissionen erreicht sein muß.

SB: Herr Professor Levermann, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:
[1] Näheres zur Pressekonferenz finden Sie im Infopool unter UMWELT, REPORT:
BERICHT/028: Arktis warm, Europa kalt - Eisschmelze im polaren Norden (SB)

[2] Die Referenten und ihre Vortragsthemen:

Einführung: Was geht das Arktiseis Europa an?
Prof. Peter Lemke, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Das arktische Meereis im Jahresgang, aktuelle Zahlen

Dr. Georg Heygster, Universität Bremen

Welche Anomalien zeigt das Meereis 2012?
Dr. Lars Kaleschke, Universität Hamburg, KlimaCampus

Welche Ursachen hat der Eisverlust - und warum ist er erdgeschichtlich bedeutsam?
Dr. Dirk Notz, Max-Planck-Institut für Meteorologie, KlimaCampus

Folgen: Beeinflußt das Meereis das Wetter in Europa?
Prof. Rüdiger Gerdes, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Was hat das mit dem Meeresspiegel zu tun?
Prof. Anders Levermann, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung

Schifffahrt und operationelle Eisdienste
Dr. Jürgen Holfort, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie

[3] Changes in Ocean Circulation Could Lead To Rapid Regional Sea Level Change, Potsdam, 4. April 2005
http://www.pik-potsdam.de/news/press-releases/archive/2005/changes-in-ocean-circulation-could-lead-to-rapid-regional-sea-level-change

25. September 2012