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INTERVIEW/041: Down to Earth - Schätze der Geographie (SB)


Interview mit Prof. em. Bruno Messerli auf dem 32. Weltkongreß der Geographie am 29. August 2012 in Köln



"Wir haben eine Verantwortung - die Geographie wiederentdecken!", lauteten die Schlußworte einer mit viel Applaus bedachten Rede Prof. em. Bruno Messerlis am 29. August 2012 auf dem International Geographical Congress in Köln [1].

Verantwortung für nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit - das führte der Referent den versammelten Geographinnen und Geographen in seiner "Keynote Lecture" über "Global Change and Globalisation - Challenges for Geography" (Globaler Wandel und Globalisierung - Herausforderungen für die Geographie) eindrücklich vor Augen. Im Anschluß an den Vortrag war Prof. Messerli bereit, dem Schattenblick einige Fragen, die sich aus dem Vortrag ergeben haben, sowie zu seiner Heimat, der Schweiz, zu beantworten.

Beim Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Bruno Messerli
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Professor Messerli, Sie sprachen in Ihrem Vortrag über das Wissen in älteren geographische Schriften, das verloren gehe. Wie könnte das heute wieder nutzbar gemacht werden?

Bruno Messerli (BM): Ich hatte einmal gedacht, ich hätte eine neue Idee und habe in verschiedenen Periodika zurückgeblättert. Es war erstaunlich, was schon alles zu der Idee geschrieben worden war. Das alles geht verloren. Ein anderes Beispiel: Jemand wie Gilbert F. White, ein genialer Geograph aus den USA, der viele Preise erhalten hat, gründet eine Kommission, die er einige Jahre lang leitet und die dann wieder aufgelöst wird. Vielleicht war die Zeit für die damals von der Kommission behandelten Fragen noch nicht reif, jedenfalls geht auch deren Wissen verloren. Ich bin der Meinung, jemand müßte diese Dinge aufarbeiten und in Bezug zur heutigen Situation setzen. Man würde sich wundern, wie viele Leute was zu den unterschiedlichsten Themen gesagt haben.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag auch Kritik an dem Ihrer Meinung nach mangelnden gesellschaftlichen Interesse an der Geographie und ihrer ungenügenden Förderung geäußert. Kann denn die Geographie mit den sich wandelnden globalen Umweltveränderungen in ihrer ganzen Breite Schritt halten oder sollte sie sich vielleicht mehr auf bestimmte Kernfragen oder die Kernprobleme der Menschheit konzentrieren?

BM: Das ist eine gute Frage. Um sie zu beantworten, möchte ich etwas ausholen. Ich war einmal in einem ganz kleinen Forschungsinstitut Leiter eines Alpenprogramms und habe einen Humangeographen gefragt, ob er mir helfen wolle. Er sagte spontan zu und ist mit eingestiegen. Das war dann die Kernmannschaft. Aus der hat sich das Programm weiterentwickelt mit vielleicht 30 verschiedenen Disziplinen, die zudem an verschiedenen Instituten angesiedelt waren. Da kamen die Zoologie und die Botanik dazu, von der geologischen Seite wurden Fragen eingebracht, die Bodenkunde durfte nicht fehlen, und so weiter. Selbst Ökonomen und Juristen wurden hinzugezogen. Denn es ging in dem Programm unter anderem um Fragen der Abgrenzung der Landgebiete, um Erbschaftsprobleme in einem Bauernhof und ähnliches. Es kamen also viele Leute zusammen. Da hatten wir einen Klüngel, also, das kann ich Ihnen sagen! Aber eben darin bestand auch eine Chance, weil wir einen Blick sowohl für naturwissenschaftliche als auch humanwissenschaftliche Aspekte auf unsere Fragestellung gewannen. Mit nur einer Seite wäre sie nicht lösbar gewesen. Deshalb ist die Geographie, die ja beides behandelt, wichtig.

SB: Und bei der Ausdifferenzierung durch die vielen Disziplinen war die ursprüngliche Frage nicht verloren gegangen?

BM: Nein, sondern die Disziplinen gingen verloren! Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir hatten ein sehr gutes Team von Botanikern, das die Frage beantworten sollte, wie stark der menschliche Einfluß auf die Arten ist. Doch die Botaniker waren zunächst einmal so fasziniert von dem zu untersuchenden Berggebiet, daß sie sagten, sie müßten zuerst eine botanische Karte erstellen. Damit wüßten sie dann, was dort überhaupt vorhanden ist; danach sähe man weiter. Die hatten drei Jahre lang an der botanischen Karte gearbeitet, bis daß die Forschungsgelder praktisch verbraucht waren. Und als wir wieder mit unserer Frage an sie herantraten, war das Geld aus und die Antwort nicht da! Wie man interdisziplinär arbeitet, kannten sie damals noch nicht.

Ein anderes Beispiel: Einzelne Professoren hatten ihre Doktoranden auf eine strenge Weise geführt, indem sie mehr Präzision und ähnliches forderten, was diese verzweifeln ließ. Wir mußten dann intervenieren und erklären, daß die Doktoranden Zulieferer für viele andere Forschungsbereiche sind. Und das bringt mich jetzt auf die ganze Problematik eines schweizerischen Nationalfonds.

SB: (Lacht) Gut, die Problematik der Fördergelder wird in anderen Ländern ähnlich sein, vermute ich.

BM: Das wird in anderen Ländern ähnlich sein. (Lacht) Als ich einmal dem Chef des Forschungspräsidenten ein Programm vorstellte, hat er mich gefragt: Ist das überhaupt Forschung? Grindelwald [2] ist doch einfach ein Tourismusort, was will man mehr? Darauf habe ich ihm geantwortet: Aber in Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien haben sie ein eigenes Gebirgsprogramm. Es fehlt eine zentrale Stelle in den Alpen. Erst auf dieses politische Argument hin hat er geschaltet - von der Sache her hatte er es nicht verstanden. Das war zum Wahnsinnig-Werden. Als aber die Forschungsarbeit abgeschlossen war, hat der Nationalfonds entschieden, daß interdisziplinäre Projekte mehr Gelder erhalten sollten. Man ist jetzt, glaube ich, bei drei Prozent des Budgets. So fing das alles an.

Prof. Messerli beim Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Engagierter Verfechter interdisziplinärer Forschung
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Ich möchte auf ein ganz anderes Thema zu sprechen kommen. Sie hatten in Ihrem Vortrag die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels [3] erwähnt. Die kleinen Inselstaaten jedoch fordern, daß dieses Ziel für die maximale Erderwärmung auf 1,5 Grad gesenkt wird. Wäre das aus Ihrer Sicht vernünftig?

BM: Ja natürlich, das wäre super, wenn es unter zwei Grad bleiben könnte! 1,5 Grad wären natürlich noch besser, aber das wäre nur noch 0,5 Grad höher als heute. Doch wenn ich die Berichte zur Klimaentwicklung lese, beispielsweise den OECD Outlook 2050 - man wirft mir ja immer vor, ich verstünde nichts von Ökonomie, deshalb habe ich mich dort ausgerüstet -, dann kann einem schon mulmig werden. Was dort geschrieben steht, macht wirklich betroffen.

SB: Sie erwähnten in ihrem Vortrag auch die Nützlichkeit der Berechnung von Ökosystemdienstleistungen. Wie kann verhindert werden, daß es aufgrund dieses Mittels zu Formen der Enteignung oder Verdrängung beispielsweise bei indigenen Bevölkerungen kommt? Wie kann gesichert werden, daß nicht ein vielleicht gut gemeintes Mittel ins Gegenteil verkehrt wird?

BM: Natürlich muß so etwas verhindert werden. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Es ist doch Wahnsinn, was Staaten wie China an Land in Afrika zusammenkaufen. Das hat natürlich einen Preis, aber was repräsentiert der? Sicherlich nicht die nächsten fünfzig Jahre. Ich will damit sagen, daß auf diesem Land jedes Jahr etwas für Afrika produziert werden könnte. Der Verkaufswert oder die Pacht entsprechen dem nicht im mindesten. Deshalb hatte ich eben in meinem Vortrag diese verrückte Publikation von Costanza [4] wieder einmal hervorgezogen. Das ist auch so eine "Old Idea". Ich war damals in der UNESCO und kaufte mir die angesehene französische Zeitung "Le Monde". Die hatte den Costanza-Bericht auf ihrer Titelseite aufgegriffen und sinngemäß geschrieben: "Kaufen Sie die Welt für 33 Trillionen!" Sie haben das lächerlich gemacht und einfach nicht verstanden, was es bedeutet.

SB: Selbst die mit Wasser gesegnete Schweiz hat 2003 ein schweres Dürrejahr erlebt. Was sagen die wissenschaftlichen Prognosen - könnte das wegen des hohen Wasserkraftanteils an der Energieversorgung zu einem ernsthaften Problem werden?

BM: Vor einigen Monaten hatten wir eine Konferenz, die unserer Geologe Rolf Weingartner organisiert hat. Daran nahmen auch die Direktoren von Kraftwerken wie Dixence teil. Das Resultat in einem Satz: Bis 2050 kein Problem, weil die Gletscher schmelzen. Im Sommer werden wir sogar mehr Wasser haben und damit eine höhere Energieproduktion. Aber ab 2050 endet die Situation, weil bis dahin viele kleinere Gletscher verschwunden sind und sich die größeren auf dem Rückzug befinden. Man ist auf der Konferenz so verblieben: Wir beobachten ganz genau, was bis 2050 passiert, und werden dann bestimmen, was in den Jahren danach noch an Abfluß - hier vor allem im Sommerhalbjahr - vorhanden ist. Wahrscheinlich läuten dann die Alarmglocken. Aber jetzt zu läuten, hat keinen Zweck, das glaubt doch niemand.

SB: Wobei sich dann auch die Frage des Wassermangels stellen könnte. Bestehen dazu weitere Pläne oder Überlegungen?

BM: Ja, im Moment sollen die Pumpspeicherkraftwerke verstärkt und auch neue Anlagen gebaut werden. Beispielsweise mit Grande Dixence oben und dem Genfer See unten. So hätte man die Chance, früh genug auch Sommerdefizite abzudecken, weil man Wasser aus dem See hinaufpumpen und wieder runterlassen kann, so daß immer ein Ausgleich stattfindet. Schwieriger wird es an der Grimsel. Dort soll die Staumauer um 23 Meter erhöht werden. Dadurch werden einige Arten und auch Moore zerstört.

Übrigens hat es eine Initiative zum Schutz der Moore gegeben. Nachdem hunderttausend Unterschriften gesammelt worden waren, wurde ein Moorschutzartikel in die Bundesverfassung aufgenommen. Darüber sind sogar die Grünen gespalten. Einige von ihnen sagen: Keine Erhöhung der Mauer, kommt nicht in Frage, die Verfassung gilt! Andere halten dagegen: Wir müssen etwas nachgeben, wenn wir die Energiewende wollen. Wenn Sie aber die Leute da oben im Grindelwald fragen, werde Sie zu hören bekommen: Verflucht noch mal, immer diese Befehle aus Bern!

Meiner Meinung nach ist das etwas falsch gelaufen. Man hätte die Gemeinden beispielsweise finanziell unterstützen sollen, damit sie die wertvollen Moore in ihrem Gemeindeareal schützen. Das wäre der korrekte Weg gewesen.

SB: Eine andere Energiequelle der Schweiz ist die Geothermie. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, daß ein möglicher Energiemangel, den Sie auf frühestens ab 2050 veranschlagt haben, die Bereitschaft der Ingenieure und Wissenschaftler erhöht, Geothermiebohrungen auszubringen, trotz des damit verbundenen Risikos, dadurch Erdbeben auszulösen, wie es bei Basel schon mal vorgekommen ist?

BM: Ich sehe in der Geothermie ein gewaltiges Potential und halte die Finanzierung für zu schwach. Deutschland macht es im Augenblick mit Wind- und Sonnenenergie vor, die Schweiz folgt auf einem ähnlichen Pfad der Energiewende. Es sind jetzt für Bern und Zürich Geothermiestandorte evaluiert worden. Aber die Finanzierung ist nicht besprochen, und angefangen hat man auch noch nicht. Das alles braucht viel Zeit, und wenn man endlich zu bohren beginnt, dauert es nochmals eine Zeitlang bis zur eigentlichen Energieversorgung.

Ich mache mir Sorgen, daß man den Zeitpunkt verpaßt, um die Energiewende zu bewältigen. Mehr kann ich dazu allerdings nicht sagen, weil ich nicht weiß, was genau in den politischen Kreisen zu diesem Thema besprochen wird. Dazu wird es aber am 12. September auf dem Bundesplatz eine große Veranstaltung [5] geben, zu der auch der frühere deutsche Bundeskanzler Schröder als Referent erwartet wird. Dort wird dann die ganze Energiepolitik ausgelegt.

SB: Herr Prof. Messerli, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:
[1] Ein Bericht zu Prof. Messerlis Vortrag finden Sie unter INFOPOOL, UMWELT, REPORT:
BERICHT/035: Down to Earth - Gefahr erkannt ... (SB)

[2] Grindelwald ist eine politische Gemeinde im Verwaltungskreis Interlaken-Oberhasli des Kantons Bern in der Schweiz. Auf einer Publikationsliste in seiner Vita wird Bruno Messerli beispielsweise als Co-Autor der 1975 erschienenen Studie "Die Schwankungen des Unteren Grindelwaldgletschers seit dem Mittelalter. Ein interdisziplinärer Beitrag zur Klimageschichte" in der Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie (Bd. XI, H. L., 110 S.) genannt.

[3] Zwei-Grad-Ziel bedeutet, daß laut den internationalen Klimaschutzvereinbarungen die globale Durchschnittstemperatur nicht um mehr als zwei Grad gegenüber dem Beginn des Industriezeitalters steigen soll.

[4] Robert Costanza et. al: "The value of the world's ecosystem services and natural capital", Nature 387, 253 - 260 (15. Mai 1997).

[5] Der "Swiss Energy and Climate Summit" (swissECS) fand vom 12. bis 14. September in Bern statt.

Prof. Messerli und SB-Redakteur haben ihre Freude und lachen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Und das bringt mich jetzt auf die ganze Problematik eines schweizerischen Nationalfonds ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

22. Oktober 2012