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INTERVIEW/094: Treffen der Wege - Grüne Netze aus der Hand ... Dr. Christa Müller im Gespräch (SB)


Die Farbe der Forschung II
Das Innovationspotenzial von Beziehungen

Symposium am 7./8. März 2014 in Berlin

Dr. Christa Müller über die Auflösung der Grenze zwischen Kultur und Natur am Beispiel der Stadtentwicklung



Die fordistische Stadt, die Stadt des Industrialismus, hat sich überlebt; die Stadt von heute ist postfossil, ein verletzbares Gebilde, das dem Klimawandel begegnen und Antworten auf wachsende Migrationsbewegungen geben muß, sagte Christa Müller in ihrem Vortrag "Urbane Gärten und Landwirtschaft: Städtische Netzwerke des Do-it-yourself" am 8. März auf dem Symposium "Die Farbe der Forschung II" in Berlin.

Referentin beim Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Urban gardening ist nicht Ausdruck einer romantischen Verklärung des Landes, sondern angetrieben von der Suche nach einer anderen Stadt, die die ökologischen und sozialen Kosten ihrer Existenz wieder in den eigenen Zuständigkeitsbereich nimmt." (Christa Müller, 8.4.2014, Berlin)
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die urbane Gartenbewegung greife Fragen einer nachhaltigen Umgestaltung von Gesellschaft auf bemerkenswert unideologische Weise auf und bearbeite sie direkt vor Ort in unmittelbarem Bezug auf eine in neuer Weise ausgedeutete Gegenwart. Die Grenze von Natur und Kultur werde brüchig und verschiebe sich. Natur wird gestattet, in die Stadt einzudringen, und "kollektiv" stehe heute nicht mehr unter der Maßgabe von Hammer und Sichel, sondern entstehe als eine netzwerkartige Struktur, lieferte die Soziologin den theoretischen Überbau für den Vortrag von Bastiaan Frich, der anschließend über konkrete Projekte der Aneignung städtischen Raums aus Basel berichtete.

Nach dem Vortrag beantwortete Christa Müller dem Schattenblick noch einige Fragen:

Schattenblick (SB): Sie haben in Ihrem Vortrag von der Trennung in Stadt und Land gesprochen und daß sich die Trennung nach und nach aufzulösen beginnt. Ist das eine Entwicklung, die man aktiv fördern sollte?

Christa Müller (CM): In der Forschung beschäftige ich mich nicht mit dem, was man fördern sollte, sondern zunächst einmal damit zu beobachten, was passiert. Und da ist es sehr deutlich und evident, daß sich die Trennung, die die Industriemoderne möglich gemacht hat und die auch zur Aufrechterhaltung dieser Form von gesellschaftlicher Produktion nötig war, aufzulösen beginnt. Das bedeutet, daß wir in eine neue Epoche eintreten, die ganz viele Chancen bietet, Dinge, die zuvor mit Gewalt getrennt worden sind, wieder zusammenzubringen und dadurch mehr Raum für nachhaltige Lebensstile zu schaffen.

SB: Hat diese Entwicklung schon Einfluß auf die Stadtplanung genommen?

CM: Ja, die Stadtplanung reagiert auf neue Anforderungen. Sie ist eigentlich auch ein ganz guter Seismograph, wie das Beispiel New York zeigt, eine Stadt, die wie keine andere mit Urbanität in Verbindung gebracht wird. Sie bereitet sich auf den Klimawandel vor, indem sie unter anderem Grünflächen vernetzt, Community Gardens unterstützt und eine Million Bäume auf städtischen Boden pflanzt. Das sind Hinweise darauf, daß die Urbanität dabei ist, sich zu verändern. Besonders deutlich zeigt sich das an dem Entstehen eines neuen Naturverhältnisses. Das könnte auch eine positive Nachricht in sich bergen, weil die Natur aus der Stadt herausgehalten und überhaupt Urbanität so definiert wurde, daß sie der Raum war, in dem nur Menschen, ihre Dinge und Produkte waren.

SB: Würden Sie sagen, daß New York Ihre Vorbildstadt wäre für die Veränderungen, die Sie mit dem Urban Gardening beschreiben, oder gibt es da noch andere Vorbilder?

CM: Ich kann mit der Frage insofern nicht so viel anfangen, als daß sie ein bißchen in Richtung der ersten Frage zielt. Darauf wäre ja jetzt zu sagen, was das richtige Modell oder das richtige Vorbild ist. Man kann einfach gucken, wo Städte interessant sind, wo neue Dinge passieren und dazu gehört New York ebenso wie Berlin, Hamburg oder Basel.

SB: Wie bewerten Sie die These, daß die Nutzung von Freiräumen, das Urban Garding bzw. allgemein die Kultur des Selbermachens, die ja hier in Berlin sehr verbreitet zu sein scheint, eine Folge des Rückzugs des Staates aus der sozialen Verantwortung ist? Daß also die Menschen mehr oder weniger dazu genötigt werden, für sich selbst zu sorgen, weil der Staat seine Fürsorgepflicht immer weniger wahrnimmt?

CM: Ich sehe das nicht als eine Strategie an. Zum Beispiel ist die Sozialdemokratie nicht an Selbstversorgung interessiert, das würde die Existenz der Partei an sich ad absurdum führen. Der FDP wiederum fehlt komplett die soziale Phantasie, um sich überhaupt vorstellen zu können, daß Leute ihr Gemüse selber anbauen und sich darüber versorgen. Deshalb betrachte ich das nicht als staatliche Strategie, sondern ich würde genau umgekehrt sagen: Die Selbstversorgung und die kollektive Form der Selbstversorgung können den Sozialstaat nicht ersetzen, aber sie fordern ihn heraus, damit er sich um Dinge wie "care economy" kümmert, die wichtig sind, um ein Gemeinwesen aufrechtzuerhalten.

SB: Meine Frage hob auf Entwicklungen ab wie beispielsweise die Tafeln, von denen inzwischen in Deutschland eine Million Menschen abhängig sind. Sie leben sozusagen von den Resten der Gesellschaft. Der Staat zieht sich zurück, die Bürger werden initiativ.

CM: Aber urbane Gärten lassen sich mit Tafeln überhaupt nicht vergleichen, das sind völlig andere Akteure. Beim urbanen Gärtnern geht es nicht darum, etwas für die Armen zu tun, sondern es handelt sich um Selbsthilfeaktivitäten, die auch nicht erst im unmittelbaren Elend oder aus einer Not heraus entstehen, sondern die, wie ich das heute darzulegen versucht habe, unter anderem interkulturelle Begegnungsstätten, Orte des Commonings und der Wiederaneignung handwerklicher Fähigkeiten, etc. sind.

SB: Sie würden also nicht sagen, daß die vertikale Landwirtschaft in den Städten ein Modell ist, um global den Mangel an Nahrung und somit den Hunger in der Welt zu beseitigen?

CM: Nein, dafür haben wir ja die Landwirtschaft. Aber urbanes Gärtnern und urbane Landwirtschaft sind eine Herausforderung und zugleich Aufforderung an die Landwirtschaft, nachhaltig zu produzieren und städtische Bevölkerungen für die nachhaltige Produktion von Lebensmitteln zu sensibilisieren. Nichtsdestotrotz wird die urbane Landwirtschaft die städtische Produktion sehr viel stärker charakterisieren, als das heute der Fall ist. In Zukunft wird in sehr vielen Städten auf den Brachflächen, auch auf den Dächern, professionell und gewerblich Gemüse angebaut. Das ist sicherlich ein neuer Trend, der sich durchsetzen wird. Das ist eine Landwirtschaft der kurzen Wege, die notwendig werden wird, weil sich über den Ölpreis die Transportkosten verteuern werden. Aber auch das ist wiederum etwas anderes, als die Welternährung sicherzustellen.

SB: Mit Städten assoziiert man eigentlich Autoverkehr, Feinstaub und andere Formen der Schadstoffbelastung. Gibt es schon Untersuchungen darüber, was das für die urbane Landwirtschaft bedeutet?

CM: Ja, die gibt es. Ina Säumel von der TU Berlin hat so eine Untersuchung, die wir von der Anstiftung Ertomis auch finanziert haben, durchgeführt. [1]

Ein Ergebnis lautet, daß urbane Lebensmittel stärker mit Feinstaub und Schwermetallen belastet sind als Lebensmittel vom Land. Deshalb werden bestimmte Tips gegeben wie zum Beispiel, daß die Gärtner tunlichst mindestens zehn Meter Abstand von der Straße halten und auch bestimmte Hecken pflanzen sollen. Aber das wird in den Gemeinschaftsgärten zum Teil sowieso schon gemacht. Ansonsten ist eine Stadt, in der mehr Lebensmittel angebaut werden, natürlich auch eine Stadt, die den Verkehr zurückdrängen muß.

SB: In der Literatur wird auch von Permakultur gesprochen. Ist das mit Urban Gardening gleichzusetzen?

CM: Permakultur ist eine spezielle Art und Weise, Landwirtschaft zu betreiben, die einen ganzheitlichen Anspruch erhebt und einen weltanschaulichen Überbau hat. Beim Urban Gardening gibt es den nicht, sondern das ist ein Handlungs- und Aktionsraum.

SB: Vielen Dank, Frau Müller, für das Gespräch.

Blick von schräg oben auf die begrünten Dächer mehrerer Gebäude - Foto: Jwilly77, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 nicht portiert via Wikimedia Commons

Urban Gardening auf den Dächern des Rockefeller Centers, New York, 18. August 2008
Foto: Jwilly77, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 nicht portiert via Wikimedia Commons


Fußnote:

[1] http://anstiftung-ertomis.de/images/jdownloads/sonstige/saeumel_2013.pdf

Weitere Berichte und Interviews zum Berliner Symposium "Die Farbe der Forschung II" vom 7. und 8. März 2014 finden Sie unter dem kategorischen Titel "Treffen der Wege":
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/ip_umwelt_report_bericht.shtml
und
http:/www.schattenblick.de/infopool/umwelt/ip_umwelt_report_interview.shtml

BERICHT/067: Treffen der Wege - Ökosynaptische Knoten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0067.html

BERICHT/068: Treffen der Wege - Urknallverständigung (SB)
Gedanken zum Vortrag von Saira Mian "Am Schnittpunkt von Kommunikationstheorie, Kryptographie und Agrarökologie"
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0068.html

BERICHT/070: Treffen der Wege - Von Auflösungen auf Lösungen (SB)
Über den Vortrag von Ina Praetorius "Beziehungen leben und denken. Eine philosophische Spurensuche"
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0070.html

INTERVIEW/077: Treffen der Wege - Reform alter Werte, Ina Praetorius im Gespräch (SB)
Ina Praetorius über Beziehungen, den Wandel wörtlicher Werte und das Postpatriarchiale Durcheinander
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0077.html

INTERVIEW/078: Treffen der Wege - Das Flüstern im Walde, Florianne Koechlin im Gespräch (SB)
Florianne Koechlin über das Bewußtsein und die Würde von Pflanzen sowie über Grenzen, die der Mensch verletzt
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0078.html

INTERVIEW/088: Treffen der Wege - Ökoideologische Träume..., Biobauer Sepp Braun im Gespräch (SB)
Josef Braun über die Vernetzung von Wald, Wiese und Acker
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0088.html

INTERVIEW/089: Treffen der Wege - Kahlfraß und Kulturen, Prof. Dr. K. Jürgen Friedel im Gespräch (SB)
Professor Dr. K. Jürgen Friedel über Pflanzennährstoffmobilisierung, Nährstoffwirkung, Nährstoffmangel, Forschungsmethoden und Rudolf Steiner
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0089.html

15. April 2014