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INTERVIEW/209: Profit aus Zerstörungskraft - so was wie Diabetes ...    Liudmila Marushkevich im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl
Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Liudmila Marushkevich, ehemalige Mathematiklehrerin und ehrenamtlich in der belarussischen, gemeinnützigen Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" tätig, über ihr Projekt "Leben mit Diabetes" und die Kinder von Tschernobyl und das radioaktive Vergessen


16. Oktober 2015 im tschechischen Atomkraftwerk Temelin. Bei der Routinekontrolle eines Fremdarbeiters sprechen plötzlich die hochempfindlichen Meßgeräte an und schlagen Alarm. Mit Hochdruck wird nach dem "Störfall" gefahndet, aber nichts gefunden. Eine anschließende Untersuchung des Mannes ergibt: Er hat in den Tagen davor Wildschweinfleisch gegessen, das mit radioaktivem Cäsium-137 aus dem Böhmerwald kontaminiert war. Diese Isotope sind noch ein Rest des Fallouts, der bei der Explosion des Reaktor 4 von Tschernobyl am 26. April 1986 auch über weite Teile Europas niederging. Die Halbwertszeit von Cäsium-137 beträgt 30 Jahre. Auch wenn die Gefahr der atomaren Verstrahlung in den Köpfen der Menschen allmählich verblaßt, bedeuten 30 Jahre für radioaktive Cäsiumisotope nur, daß die Hälfte der Isotope bereits zerfallen sind und dabei ihre Strahlung von sich gegeben haben. Der Rest ist immer noch präsent und wird - rein statistisch - zur tickenden Zeitbombe für das Risiko, an Krebs zu erkranken, die jene betrifft, die damit auf irgendeine Weise in Kontakt kommen. Das kann überall dort sein, wo die radioaktiven Isotope der Brandwolken von Tschernobyl die Erde, die Pflanzen, die Luft oder das Wasser berühren konnten ... [1]

Geschichten über den leichtfertigen Umgang mit und das Vergessen von der immer noch vorhandenen Radioaktivität kennt auch Liudmila Marushkevich, die sie im Rahmen des Forum 1 "30 Jahre Leben mit Tschernobyl - Eine Bilanz der gesundheitlichen und ökologischen Schäden" als eine mögliche Erklärung dafür aufzeigte, warum auch heute noch Menschen in Weißrußland unter den Spätfolgen des damaligen Super-GAUs, der größten nuklearen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, leiden.

Die ehemalige Mathematiklehrerin schilderte auf dem Internationalen Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", der vom IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung) vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin, organisiert wurde, ihre eigenen Erfahrungen und Beobachtungen während und nach der Katastrophe. Sie stammt aus der Gegend im Süden und Südwesten Weißrußlands, das zu 70 Prozent von dem radioaktiven Inferno direkt betroffen war. Über 530 Dörfer in der Umgebung von Gomel und Mogilew wurden mit Cäsium-137, Strontium und Plutonium verseucht. Darunter auch der Ort ihrer Familie, die sich dort wenige Tage nach dem Unglück zu den traditionellen Maifeierlichkeiten versammelte.

Die Bevölkerung sei von der damaligen sowjetischen Führung nicht gleich über die Gefahr und notwendige individuelle Schutzmaßnahmen informiert worden, möglicherweise deshalb, weil auch die Behörden nicht wirklich das gesamte Ausmaß des Risikos begriffen, meint sie.

Seit 1992 arbeitet die inzwischen in Minsk lebende Rentnerin ehrenamtlich in der belarussischen, gemeinnützigen Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl", die 1989 von Gennadij Gruschewoj gegründet wurde, der 2014 an Leukämie verstarb. Sie engagiert sich in verschiedenen humanitären und sozialen Projekten der Stiftung. Da Liudmila Marushkevich seit dem 20. Lebensjahr an Diabetes leidet, wurde ihr die Koordination des Projekts "Leben mit Diabetes" für die diabeteskranken Kinder und deren Eltern angetragen, dem sie sich mit viel Engagement und Hingabe widmet.

Nach ihrem Vortrag war sie bereit, dem Schattenblick noch einige Fragen zu beantworten.


Die Referentin während ihres Vortrags auf der IPPNW-Konferenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bei uns gibt es mehr Kinder mit Diabetes nach der Tschernobyl-Katastophe
Liudmila Marushkevich
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Liudmila Marushkevich, Sie sprechen von einer Studie an Kindern über die zunehmenden Fälle von Diabetes. Kann man dies auf die Folgen von Tschernobyl zurückführen?

Liudmila Marushkevich (LM): Ich glaube, ja. Auf dem Kongreß heute wurde darüber gesprochen, daß die Folgen der Radioaktivität zuerst zu Komplikationen an der Schilddrüse führen, diese Störung hat dann wiederum einen Effekt auf den gesamten Körper, unter anderem auch auf die Bauchspeicheldrüse, so daß sich vorstellen läßt, daß sich daraus Diabetes entwickeln kann.

Bei uns gibt es mehr Kinder mit Diabetes nach der Tschernobyl-Katastophe, je nach Entfernung verringert sich die Anzahl. Heute wird viel diskutiert, ob Tschernobyl einen Einfluß auf den Anstieg des Diabetes Typ I in den verstrahlten Regionen im Vergleich zu dem allgemeinen Anstieg weltweit hat. Wir arbeiten in der Stiftung schon seit 20 Jahren mit zuckerkranken Kindern. Die letzte wissenschaftliche Veröffentlichung zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 2004. Es handelt sich um die Arbeit von Tatjana Mochart, Professorin der Medizin und Leiterin des Lehrstuhls der Endokrinologie der Belarussischen Staatlichen Medizinischen Universität. Daraus geht hervor, daß der Anstieg der Krankheit bei Kindern im Gebiet Gomel höher ist als in anderen Gebieten unseres Landes.

SB: Wird dieser naheliegende Zusammenhang weiter untersucht?

LM: Leider liegen mir keine Informationen über jüngere Untersuchungen vor. Ich habe mit einigen Fachleuten wie Prof. Angelika Solnzeva und Prof. Alla Schepelkevitsch, der Hauptkinderendokrineologin des Gesundheitsministeriums von Belarus gesprochen. Ihren Beobachtungen zufolge tritt Diabetes Typ I in unserem Land bei immer jüngeren Kindern auf. Jedes Jahr werden mehr Fälle von Säuglingen unter 24 Monaten registriert, die schon an einem Diabetes I leiden.

SB: Sprechen Sie über diese Zusammenhänge auch in der Stiftung oder mit den Betroffenen?

LM: Ich wohne in Belarus. Bei uns nur das Wort 'Tschernobyl' zu erwähnen, ist unausgesprochen 'nicht erlaubt'. Wir reden nicht darüber, offiziell lesen wir auch nichts und wenn wir etwas lesen, sprechen wir nicht darüber. Doch etwas in solchen Momenten zu Betroffenen zu sagen, ist auch nicht einfach. Man braucht dazu gute Nerven. Denn ganz gleich, welche Krankheiten bei manchen Menschen auftreten, daß es mit Tschernobyl in Verbindung steht, ist meist ganz offensichtlich. Das wird jedoch verdrängt.

Mein Onkel ist beispielsweise an Lippenkrebs gestorben, 10 Jahre nach Tschernobyl. Ein anderer war schon einige Zeit aus Tschernobyl weggezogen, als er Magenkrebs bekam. Als Folge des Reaktorunglücks wurden diese Fälle nicht offiziell betrachtet. Als ich meinen Onkel während einer Komplikation in der Klinik aufsuchte, erklärte mir der zuständige Arzt, mein Onkel wäre schon seit 10 Jahren krebsleidend. Entschuldigung, der Mann war zeitlebens immer kerngesund gewesen. Nun sollte er angeblich schon in all diesen Jahren bereits Krebs gehabt haben, ohne etwas zu merken? Zwei Monate nach der Diagnose ist er gestorben. Kurz nach dem Reaktorunfall. Wir sprechen nicht darüber, aber ich glaube, das war auch eine Folge von Tschernobyl.

Einige Leute sagen, daß man mit Diabetes sehr gut leben kann. Manche essen ihr Leben lang gesund und dann bekommen sie trotzdem diese Krankheit. Nun ja, in Belarus essen wir eigentlich zu viele Kohlenhydrate. Es ist ein Kartoffelland, wir nehmen zu viel Kartoffeln und zuviel Brot zu uns. Nach der Tschernobyl-Katastrophe kommt all das zusammen.

SB: Sehen Sie da vielleicht auch einen direkten Zusammenhang zur lokalen Landwirtschaft? Sie erwähnten vorhin neue landwirtschaftliche Nutzflächen, die in Gomel entstehen. Gibt es schon Bereiche, die als sicher gelten, es aber vielleicht nicht sind?

LM: Die Einwohner meines Heimatdorfs Ludwin wurden erst sechs Jahre nach der Reaktorkatastrophe in andere Bezirke umgesiedelt. Die Häuser wurden komplett zerstört. Doch wenn man sich das heute ansieht, entstehen dort Felder und landwirtschaftliche Nutzflächen. Für wen, frage ich? Es ist doch bekannt, daß die radioaktiven Stoffe noch im Boden lagern und in die Lebensmittel gelangen können, die man dort anbaut. Damit verschlimmern sich unsere gesundheitlichen Probleme nur noch.

Der Umgang mit dem Risiko ist sehr unterschiedlich. Nachdem die beiden Dörfer meiner Eltern evakuiert wurden, sind manche Menschen daraus nur etwa 10 Kilometer weitergezogen und haben auch ihren ganzen Hausstand mitgenommen. 10 Kilometer ist nicht so weit vom Strahlengebiet und von dem Heimatdorf entfernt. Wer sagt, daß dort kein Risiko für Strahlung besteht?

Das ist vielleicht auch ganz interessant: Man fährt beispielsweise durch eine Straße, die dann an einem Transparent endet, das darauf hinweist, daß nun eine Sperrzone beginnt, in der noch zuviel Radioaktivität vorherrscht und man bei Betreten das Risiko eingeht, verstrahlt zu werden. Kurz davor aber wurde dann ein Parkplatz mit vielen Tischen als Erholungsplatz eingerichtet. Ja, soll es denn auf dieser Seite des Transparents sauber sein und auf der anderen Seite nicht, frag ich mich? Nichts dort erinnert noch an die ursprünglichen Dörfer, an die Menschen die da gewohnt haben und warum sie alle weggezogen sind. Nicht mal ein Gedenkstein wurde aufgestellt, der an die Einwohner und die Opfer von Tschernobyl erinnert. Niemand ist auf die Idee gekommen, auch nicht die Regierung. Ich vermute aber, das hat einen Sinn, denn wenn ich durch etwas an mein altes Dorf erinnert werde, dann wird auch die Trauer wieder geweckt und das Gefühl, daß noch etwas von ihnen dort zurückgeblieben ist. Und das wollen die Menschen nicht. Vielleicht träumen sie von ihrer Heimat, aber ich denke, die Erinnerungen an die eigenen Wurzeln sind wichtig. Aus diesem Grund habe ich das Denkmal meiner Großeltern, das schon verfallen war, wieder renoviert. Meine Verwandten haben gesagt, 'Du bist dumm. Dort ist die radioaktive Zone, warum hast du alles neu gemacht?'

SB: Vielleicht haben Sie als Mathematiklehrerin gelernt, sich mit Radioaktivität anders auseinanderzusetzen. Vielleicht ist sie für Sie berechenbarer und weniger abstrakt?

LM: Mein Vater war Offizier und mußte deshalb auch über alle Waffengattungen bis in die physikalischen und chemischen Details informiert sein. Seine Bücher und andere Dinge, die er mitbrachte, waren die Spielzeuge meiner Kindheit. Ich habe aus den Büchern Atompilze abgemalt und mich mit Gasmasken verkleidet - mein Vater gab mir das. Vielleicht deshalb hatte ich keine Berührungsängste und auch keinen Haß gegen die Nutzung von Kernenergie. Viele Menschen haben bei uns die Ansicht geteilt, daß Radioaktivität eine gute Sache ist, aber nach der Tschernobyl-Katastrophe weiß man genau, daß es eigentlich verboten ist, in die Sperrzone zu fahren. Man weiß auch genau, daß man die Pilze dort nicht essen kann. Aber alle Leute essen sie.

SB: Während des Kongresses wurde der Vorfall im Kernkraftwerk Temelin erwähnt, der sich schließlich als ein Ernährungsproblem erwies. Ein Besucher hatte radioaktiv kontaminiertes Wildschwein gegessen.

LM: Ja, davon habe ich gehört.

SB: Ist so etwas in Ihrer ehemaligen Heimat oder auch dort, wo sie heute leben, auch schon vorgekommen?

LM: Ja, meine zwei jungen Kolleginnen haben Fisch gegessen. Ich war dabei, als uns dieser große Lachs aus einem Fluß geschenkt wurde, der durch die kontaminierte Zone fließt. Meine Kolleginnen haben sich den Fisch geteilt und mit Ihren Kindern gegessen. Ich nicht.

Ich meine allerdings, die Radioaktivität wirkt sich auch noch anders aus, selbst wenn man vorsichtig ist. Wie gesagt, ich arbeite mit Diabetikerkindern schon seit 20 Jahren. Immer, wenn die Kinder nach Deutschland reisen oder in Belarus ein Ferienlager besuchen, werden zunächst die Schilddrüsen untersucht, auch meine wurde das. Ich war der Meinung, daß ich eine gute Schilddrüse habe, denn ich hatte damit nie Probleme. Also sagte ich zu der Ärztin, 'Sie können sich das sparen, ich habe nichts'. Doch sie bestand darauf. Und tatsächlich habe ich ein Adenom. [2] Ich habe seit dem 20. Lebensjahr Diabetes, war immer in ärztlicher Behandlung und weiß, daß ich bis 1998 vollkommen gesund war. Das habe ich schriftlich. Warum bekomme ich plötzlich 1998 ein Adenom? Das hängt meines Erachtens auch mit Tschernobyl zusammen.

SB: Die Liquidatorinnen und Liquidatoren sind häufig der Statistik zufolge an Krankheiten gestorben, die auch Zivilisationskrankheiten sind: Herz, Kreislauf, Diabetes.

LM: Ich finde Dr. Fairlie hat vorhin sehr anschaulich erklärt, wie alle diese Krankheiten auf Probleme mit der Schilddrüse zurückgeführt werden können, die beispielsweise durch die Kontamination mit radioaktivem Jod geschädigt wurde. Selbst Augenkrankheiten, wie die Katarakte oder auch Herz-Kreislauferkrankungen hängen damit zusammen.

SB: Wissen Sie etwas darüber, wie solche Krankheitsfälle in den Statistiken über Tschernobyl zugeordnet werden?

LM: Nein, es läßt sich schwer etwas aus Statistiken ableiten, geschweige denn zuordnen. In einem interessanten Interview zweier Ärzte in Belarus wurde gesagt, wenn die Leute sterben und die Todesursache dokumentiert wird, dann ist das in den seltensten Fällen die Wahrheit. Es sei zu aufwendig, genau zu klären, warum die Menschen gestorben sind. Wegen einer Krankheit, wegen Krebs, wegen einer Entzündung oder etwas ganz anderem. Noch schwerer aber sei es, den eigentlichen Grund dieser Todesursache festzustellen. Das auch noch mit Tschernobyl in Zusammenhang zu bringen, ist schwer nachzuweisen.

SB: Wie bewußt ist die Gefahr einer immer noch möglichen radioaktiven Kontamination im Bewußtsein der Öffentlichkeit. Gibt es noch Meßstationen, in denen man beispielsweise seine Lebensmittel kontrollieren lassen kann?

LM: Vielleicht gibt es sie, aber ich habe in letzter Zeit keine mehr gesehen. Und wenn ich überprüfen lassen will, ob ich selbst radioaktiv verstrahlt bin, dann stehen diese Sessel, die es vor 30 Jahren noch überall gab und auf denen man sich kostenlos testen lassen konnte, inzwischen nur noch an wenigen Plätzen zur Verfügung und ich muß dafür bezahlen.

Ich sehe allerdings auch, daß die Menschen wenig Neigung haben, sich mit der Realität zu konfrontieren. Sie wollen gar nicht messen und wissen, was los ist. Als ich mich auf diese Konferenz vorbereitet habe, sagten mir die Ärzte in der Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl": 'Liudmila, bei uns ist alles okay, alles ist ganz wunderbar. Und du mußt deine Arbeit machen, die du gut machst.'

Aber was genau ist den meine Aufgabe? Wenn ich mich um Kinder mit Diabetes kümmere, ihnen versuche beizubringen, welche Broteinheiten oder wieviel Insulin sie in verschiedenen Situationen brauchen, weil sie physisch oder psychisch mehr belastet sind, wenn sie Sport machen oder eine Physikarbeit schreiben, dann habe ich es genau mit dem gleichen Problem zu tun. Ich möchte helfen und ich bin eine gute Lehrerin. Aber nicht alle wollen die Hilfe. Die Eltern wollen vielleicht noch, aber viele Kinder wollen nur, daß der Arzt ihnen sagt, was sie spritzen sollen, und dann so weiterleben, wie sie es wollen.

SB: Sie machen Ernährungsberatung mit diesen Kindern. Erklären Sie Ihren Schützlingen dabei auch, warum man kein Gemüse aus lokalem Anbau essen sollte?

LM: Nein, in diesen Fällen habe ich genug damit zu tun, den Kindern zu erklären, warum es wichtig ist, auf die aufgenommenen Broteinheiten zu achten. Warum man bei Hypoglykämie (Unterzuckerung) am besten Traubenzucker zu sich nimmt, und daß man aber kontrollieren muß, wieviel man davon gegessen hat. Die Kinder waren vorher frei. Jetzt müssen sie rechnen und denken. Ein Kind hat sehr schnell 10 Broteinheiten aufgenascht, aber als Diabetiker dürfen sie das nicht mehr. Diese Kinder haben große Probleme.

Ich hatte allerdings begonnen, mit den Kindern auch das Buch von Swetlana Alexijewitsch zu lesen, 'Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.' Dieses Buch hat mir sehr viel gegeben und ich wollte das mit den Kindern teilen. In dem ersten Kapitel über das Schicksal der Familien aus Tschernobyl kommt eine Szene vor, in der ein Kind stirbt und als ich das vorlas, fingen alle Kinder an zu weinen.

Einige ältere haben gefragt: 'Liudmila, warum machst du den Kindern angst?' Ich habe geantwortet: 'Das ist unser Leben, das ist die Geschichte unserer Generation.' Der Zweite Weltkrieg ist längst schon vorbei, der Faschismus wurde besiegt, aber jetzt marschieren wieder Menschen und lassen den Nationalismus neu aufleben - man darf die Geschichte nicht vergessen, damit sie sich nicht wiederholt.

Nach der Tschernobyl-Katastrophe haben viele meiner Kollegen, ich bin ja Lehrerin, festgestellt, daß die Kinder größere Lernschwierigkeiten als vor der Katastrophe haben. Manche behaupteten sogar, Radioaktivität mache die Kinder dumm. Aber vielleicht macht das auch unser modernes Leben, das ist schwer zu sagen. Fest steht aber, die Kinder sind sehr viel schneller müde, haben weniger Ausdauer, ihnen fehlt die Konzentration und sie sind antriebs- und lustlos. Wir waren anders.

SB: Im Anschluß an Ihren Vortrag erwähnte einer der Ärzte ja auch, daß die Kinder, die zur Luftveränderung verschickt werden oder die ins Ausland kommen, um sich zu erholen, mit einer deutlich verbesserten Kondition und Konstitution wiederkommen. Könnten die Veränderungen, die Sie beobachten, auf eine Art Langzeitwirkung der Strahlung zurückgehen oder gibt eine aktuelle Strahlung, die gewissermaßen ständig vorhanden ist.

LM: Im Auftrag der Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" hatte ich mich im Rahmen des Projekts, das ich koordiniere, auch um die Erholungreisen für diabeteskranke Kinder nach Kamenz in Deutschland oder auch in die Schweiz gekümmert. Die Kinder wurden vor und nach der Reise medizinisch untersucht und auch die Strahlungswerte ermittelt. Nach jeder Reise kommen die Kinder mit neuem Lebensmut und sehr viel fröhlicherer Stimmung zurück, und ich bin sicher, daß das auch daran liegt, daß sie in Deutschland unkontaminiertes, gesundes Essen und gute unverstrahlte Luft bekommen.

Vielleicht liegt es auch ein wenig daran, daß wir auf diesen Reisen für eine freundschaftliche Atmosphäre sorgen, so daß die Kinder neue Freundschaften knüpfen können, Spaß haben und sich unter positiv motivierten Kindern, die alle das gleiche Problem haben, einfach normal fühlen können. Wir machen auch Spiele. Es gibt kleine Geschenke, Ausflüge und vieles mehr, was den Kindern Selbstvertrauen gibt.

Doch all das findet in anderen Ländern, weit weg von Belarus statt und das ist ein wesentlicher Faktor. Deshalb ist Deutschland für uns so wichtig.

SB: Frau Marushkevich haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.


Anmerkungen:

[1] Abgesehen von den offiziellen Zahlen, wie 830.000 Liquidatoren (wie die Aufräumkräfte in Tschernobyl genannt wurden), den 350.000 Evakuierten aus der 30 km-Zone und weiteren stark kontaminierten Regionen und den ca. 8,3 Millionen Menschen aus den stark belasteten Regionen in Rußland, Weißrußland (Belarus) oder der Ukraine, die am direktesten mit dem größten und stärksten Anteil der Falloutwolke (36 Prozent) in Berührung kamen, sprechen jüngste Erkenntnisse aus dem IPPNW-Report dafür, daß mindestens 600 Millionen Menschen auch in anderen Teilen Europas nach wie vor von den Folgen dieses radioaktiven Beschusses betroffen sind, der immerhin 53 Prozent der Gesamtradioaktivität ausmachte. Weitere 11 Prozent verteilten sich auf den Rest der Welt. Die gesundheitlichen Folgen zeigen sich anders als gemeinhin prognostiziert, nicht nur in einer Erhöhung des Krebsrisikos, wie die aktuellen Krebsstatistiken für Schilddrüsenkrebs, Leukämie und andere Krebsarten in den betroffenen Gebieten zeigen. Darüber hinaus führen die Wissenschaftler, deren Erkenntnisse dem IPPNW-Bericht zugrunde gelegt wurden, viele Nichtkrebserkrankungen auf Strahlungseinwirkungen und sogenannte Niedrigdosenstrahlung zurück.

[2] Adenom - Polyp, auffällige Veränderung an der Schilddrüse, aus der sich ein Krebs entwickeln kann.


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongreß finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

INTERVIEW/207: Profit aus Zerstörungskraft - eine ungehörte Stimme ...    Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

15. März 2016


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