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INTERVIEW/270: Insektenschwund - Interessengegensätze ...     Prof. Dr. Werner Kratz im Gespräch (SB)



Im Spannungsfeld der Kontroverse, worauf der nicht länger zu ignorierende oder ernsthaft zu bestreitende Insektenschwund maßgeblich zurückzuführen ist, treffen zwangsläufig einander widerstreitende Interessen aufeinander. Ob Naturschutz, Landwirtschaft, Agrochemie und Politik begehbare Schnittmengen finden, diesen verhängnisvollen Prozeß zu stoppen, muß bis zum Beweis des Gegenteils bezweifelt werden. Der Rückgang der Insekten ist schließlich kein isoliertes Phänomen, sondern im Kontext der vorherrschenden Lebens- und Wirtschaftsweise zu sehen, die auch in dieser Hinsicht ihre eigenen Voraussetzungen mit katastrophalen Folgen untergräbt. Inwieweit ein Dialog der beteiligten Akteure relevante Ergebnisse zeitigt oder im Gegenteil per Konsensmanagement den unverzichtbaren Streit zu Lasten der Problembewältigung entsorgt, gilt es wachsam zu prüfen.

Bei der Tagung "Rückgang der Insekten: Kenntnisstand, Forschungen, Aktivitäten", die auf Einladung der Naturschutzorganisation NABU am 17. Februar 2018 am Institut für Landschaftsökologie (ILÖK) in Münster stattfand, stellte PD Dr. Werner Kratz (NABU Bundesfachausschuß Ökotoxikologie) dessen Sicht auf das Thema Insektenrückgang dar. Er wohnt in Berlin und ist derzeit 2. Vorsitzender im Landesvorstand des NABU Brandenburg. Der Biologe und Chemiker hat in seinen akademischen Qualifikationsarbeiten bis hin zur Habilitation einen ökosystemaren Ansatz unter Einbeziehung verschiedener wirbelloser Organismen und der Wirkung von Umweltchemikalien auf sie verfolgt. Aus seiner Zeit als Dozent an der FU Berlin, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle, Abteilungsleiter am Landesumweltamt Brandenburg wie auch Mitglied in verschiedenen Fachgremien ist ihm sowohl die wissenschaftliche Forschung und Lehre als auch die Umsetzung in politischen Zusammenhängen vertraut.

Vor Beginn der Tagung beantwortete Werner Kratz dem Schattenblick einige Fragen zur Konstellation und Konfliktlage der verschiedenen Interessengruppen im Umgang mit dem Insektensterben.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Werner Kratz
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Ist es ein angemessener Begriff, von "Insektensterben" zu sprechen?

Werner Kratz (WK): Ich denke schon, daß das ein angemessener Begriff ist. Wir haben bereits in den 80er Jahren agrarökologische Studien auf Flächen durchgeführt, bei denen wir über die gängigen Fangmethoden mit sogenannten Barberfallen beispielsweise das Aufkommen von Laufkäfern, Spinnen und Asseln verglichen und festgestellt haben, daß es unter Pestizideinfluß und den Tätigkeiten unserer konventionellen Bauern doch zum erheblichen Einbruch dieses faunistischen Anteils in den Flächen kommt. Wir haben das in Berlin gemacht, andere Arbeitsgruppen haben das in Schleswig-Holstein durchgeführt, wo Prof. Berndt Heydemann damals an der Uni Kiel als Agrarökologe tätig und eine Zeitlang auch Umweltminister dieses Bundeslandes war. Wir verfolgen das also über viele Jahre, wobei ich selber in der entomologischen Ausbildung tätig gewesen bin und nicht so intensiv Freilandforschung im Sinne von Artenschutz betrieben habe. Ich war Ökotoxikologe, mich haben immer die ökosystemalen Prozesse interessiert, inwieweit Umweltchemikalien auf die von Organismengruppen getragenen Prozesse Einfluß haben.

Die vielen Kollegen, die heute hier bei der Tagung sind, belegen das Insektensterben. Es gibt diverse kleine Studien in Naturschutzgebieten, in kleinen Landschaftsausschnitten, das passiert nicht nur in Nordrhein-Westfalen, das können Sie auch in Schleswig-Holstein sehen, in Brandenburg haben wir den Landesfachausschuß Entomologie, geleitet von Herrn Gelbrecht, der sehr viel mit Tagfaltern arbeitet. Schauen Sie sich das Tagfaltermonitoring des Umweltforschungszentrums (UFZ) Leipzig/Halle an oder unsere Kollegen vom NABU in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz - wir haben derzeit bundesweit circa 30 gute Studien, von denen wir sagen können, daß sie in der ganzen Republik ein extremes Verschwinden von Insektenarten belegen. Ursprünglich betraf das nur die seltenen Arten, inzwischen gilt das aber auch für die Generalisten.

Ich persönlich beschäftige mich primär mit den Düngungsfragen, also mineralischem Stickstoff und Umweltchemikalien im weiteren Sinn, dazu gehören die Pflanzenschutzmittel, wir nennen sie Pestizide, weil wildwachsende Pflanzen der Segetalflora am Rande der Anbauflächen, die wir schützen wollen, im Gegensatz zu Kulturpflanzen nicht geschützt werden. In diesem Zusammenhang stellen wir fest, daß es durch unterschiedliche Landnutzungen zu erheblichen Einbrüchen kommt. Schauen Sie sich zum Beispiel die Organismengruppen in den Böden an, die für die Bodenfruchtbarkeit und die Humusbildung verantwortlich sind. Bei Regenwürmern hatten wir vor 50 Jahren im Mittel noch 100 Tiere pro Quadratmeter Ackerfläche, heute freuen wir uns, wenn wir einen finden. Es sind in diesem Fall keine Insekten, aber die Regenwürmer gehören natürlich auch zur Gruppe der wichtigen Tierarten in unserer Umwelt.

SB: Wie hat sich die Wahrnehmung dieser Problematik in der Öffentlichkeit verändert?

WK: Wir sind sehr froh, daß sich gerade in den letzten beiden Jahren die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit aus meiner Sicht dramatisch geändert hat. Wir waren beispielsweise mit dem ersten Vortrag im Januar 2016 im Agrarausschuß des Bundestags. Damals waren alle politischen Parteien von der CSU über die Grünen bis hin zu SPD und CDU zugegen, und selbst relativ konservative Politiker waren doch erstaunt, als wir diese Daten präsentiert haben. Es gibt einige Schwerpunkte in der Republik, wo die Fachleute sitzen. Ein Schwerpunkt ist ganz klar in Nordrhein-Westfalen, dann haben wir weitere Schwerpunkte an der Uni Göttingen, am Umweltforschungszentrum (UFZ) in Leipzig/Halle, da sitzt Prof. Josef Settele, der sich auch sehr intensiv um diese Dinge kümmert. Ich könnte jetzt noch einige weitere Universitäten nennen, die alle zeigen, daß wir es geschafft haben, ein Thema, das vor fünf Jahren niemals auf die Titelseite der Zeit gekommen wäre, plötzlich mit dem Konterfei unserer Bundeskanzlerin in Verbindung mit einer Schmetterlingsart dorthin zu bringen. Das sind beachtenswerte Dinge. Ich bekomme täglich aus vielen Zeitschriften Links zugeschickt, wo überall über diese Thematik referiert wird. Wir vom NABU Deutschland wollen dieses Wissen noch sehr viel mehr in die Köpfe von Bürgerinnen und Bürgern tragen, also unsere Citizen-Science-Ansätze stärken. Viele Dinge, die wir auf der heutigen Tagung darstellen, kommen aus dem Citizen-Science-Bereich und sind in die Forschung eingeflossen. Hätten wir nicht die vielen Hobby-Insektenforscher, die uns in ehrenamtlicher Arbeit diese Daten liefern und dazu beitragen, die nationale Agenda der Nachhaltigkeit und der Biodiversität umzusetzen, könnte das gar nicht in der Art und Weise gelebt werden, wie es zur Zeit auch mit sehr viel stärkerer Präsenz in der Presse geschieht.

SB: Gibt es denn noch Skeptiker oder Gegenstimmen, die das Insektensterben in Abrede stellen oder relativieren?

WK: Die gibt es immer, und die Lager sind Ihnen sicher auch bekannt. Die kommen natürlich auch heute wieder zu unserer Konferenz. Vom Deutschen Bauernverband, von den regionalen Bauernverbänden und auch von der chemischen Industrie, an allererster Stelle vom Industrieverband Agrar, der ja auf jeder Pressekonferenz zur Grünen Woche in Berlin mit den gleichen Forderungen auftritt, das Umweltbundesamt arbeite zu langsam, denn sie haben 150 weitere Pestizide in der Pipeline, die sie auf den Markt bringen wollen. Aus dieser Richtung kommt ein ganz massiver Druck, es wird immer nur ökonomisch und mit dem Hunger in der Welt argumentiert, das wird der Kollege von Bayer heute sicher auch wieder machen: Wenn wir nicht wären, könnten wir die Welt nicht ernähren. Da halten wir natürlich stets dagegen, daß wir eine andere Art von Ernährung brauchen. Bei uns werden 30 Prozent der Lebensmittel weggeworfen, und vor allem zeigt uns der Ökolandbau beispielsweise im Land Brandenburg mit inzwischen fast 20 Prozent Anteilfläche, daß es auch ohne chemisch-synthetische Pestizide und mit einer anderen Art von Stickstoffdüngung geht.

SB: Wie verlaufen die Fronten in dieser Debatte, wenn man beispielsweise die Politik nimmt? Ist sie für die Argumente erreichbar?

WK: Ich gehöre verschiedenen Expertengremien an, darunter einem des Noch-Bundeslandwirtschaftsministers Christian Schmidt im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, das sich Nationaler Aktionsplan zur nachhaltigen Benutzung von Pestiziden nennt, wobei es also um deren Reduktion geht. Dort sitzen die Fronten immer direkt zusammen am Tisch. In den Arbeitsgruppen oder im Plenum haben wir es dann mit dem Bundesbauernverband, mit der chemischen Industrie, mit den unterschiedlichen Anbauverbänden, mit Edeka und REWE zu tun und müssen sehen, daß wir für Natur und Umweltschutz etwas erreichen. Ich arbeite jetzt drei Jahre in diesem Gremium mit, aber nicht im Auftrag des NABU, dem das zu langsam geht. Ich bin von der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA) delegiert worden, weil ich noch gute Kontakte zu der Abteilung N im Ministerium in Brandenburg pflege.

Wir bewegen uns mit der Zeit schon aufeinander zu, was sich an vielen Aktionen ablesen läßt und auch im ganz normalen Supermarkt niederschlägt. Wir vom NABU machen beispielsweise mit REWE viele Streuobstwiesenprojekte, da gibt es schon Entwicklungen, weil der Druck aus der Bevölkerung gewachsen ist. Der jährliche Bericht des Umweltbundesamtes zum Umweltbewußtsein unserer Bürgerinnen und Bürger zeigt theoretisch stets ein hohes Umweltbewußtsein, aber es wäre schön, wenn diese Mitbürgerinnen und Mitbürger, das, was sie in den Interviews bekunden, dann auch in die eigene Lebensführung einbringen könnten. Da gibt es sicherlich in den Kindergärten, in den Curricula der Schulen, was deren Aktualisierung betrifft, noch viel zu tun, damit man nicht plötzlich einen Lehrplan hat, in dem die Folien von Bayer auftauchen. Solche Dinge gibt es ja immer noch. Das Curriculum muß schon ausgewogen und auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis sein. Oder nehmen Sie diesen berühmten Sachkundenachweis der Landwirte. Das ist im Grunde genommen der Führerschein, damit sie Pestizide sprühen dürfen. Die Kriterien sind aus meiner Sicht relativ anspruchslos, was die ökologischen Zusammenhänge angeht. Deswegen versuchen wir in den Gremien des Nationalen Aktionsplans beim Bundeslandwirtschaftsministerium, die konventionellen Bauern dahin zu bringen, daß sie weniger Gift anwenden. Denn für uns sind Pestizide Umweltgifte, die wir in den entsprechenden Umweltmedien Boden, Wasser und Luft wiederfinden, die Nicht-Zielorganismen werden abgetötet. Es ist sehr wichtig, daß wir uns wieder alter Methoden wie der des sogenannten integrierten Pflanzenschutzes besinnen, die wir vor 40 Jahren gelebt haben. Die Bauern sollten dahingehend befähigt werden, Fruchtfolgen, Auswahl der entsprechenden resistenten Sorten und derartige Dinge anzuwenden und zu vermeiden, großflächig Pestizide auszubringen.

Das ist ein sehr schwerer Weg, wobei wir dabei aber eine gewisse Schützenhilfe von einsichtigen Anbauverbänden beispielsweise aus dem Obstbau im Alten Land bei Hamburg bekommen. Dort gibt es inzwischen Maßnahmen, die kontrolliert umgesetzt werden, weil man im normalen Obstanbau derzeit pro Vegetationssaison bis zu 30mal mit der Giftspritze durch die Obstreihen geht. Wollen wir diese Praktiken zurückfahren, ist wieder der Verbraucher gefragt. Wenn dieser weniger Gifte in der Umwelt haben will, muß er auch mal einen Apfel akzeptieren, der eine kleine Schorfstelle trägt und nicht 80 mm Durchmesser hat. Ich kaufe meine Äpfel im Bioladen, die sind halt ein bißchen kleiner und der eine oder andere trägt vielleicht eine Schorfstelle, aber er schmeckt dafür super gut, ist voll aromatisch, und ich bekomme als Pollenallergiker nicht gleich ein Brennen und Jucken im Mund- und Halsbereich.

SB: Gibt es denn von politischer Seite noch mehr Einflußmöglichkeiten?

WK: Wir hoffen jetzt auf die GroKo, ich habe mir die Texte schon einmal angesehen, die liegen ja auf dem Tisch. Sie enthalten gewisse Anstriche, die uns gut gefallen, zum Beispiel, daß es doch einen sehr viel stärkeren Insektenschutz in Deutschland geben soll. Das zeigt uns, daß diese Problematik in der Politik angekommen ist. Es soll auch ein deutsches Biodiversitätsinstitut geben, wobei der Text auch Widersprüche aufweist. So wird auf der einen Seite eine Reduktion von Pestiziden gefordert, Sie kennen ja die Diskussion um das Glyphosat, während auf der anderen Seite geschrieben wird, daß mehr Personal ins Umweltbundesamt kommen soll, damit schneller geprüft werden kann. Wir empfehlen unseren Mitgliedern immer wieder, sehr viel öfter mit ihren regionalen Politikern zu reden: Rückt ihnen auf die Bude und fordert sie auf, entsprechende Vorhaben auch politisch umzusetzen. Auch die heutige Tagung zeigt, daß wir inzwischen regen Zuspruch der Presse haben, den wir für andere Bereiche nie gekannt haben. Ich habe mich früher sehr viel mit Bodenschutz befaßt. Wenn es dann mal Havarien oder Deponiebrände gab, war die Presse natürlich zugegen, aber bei rein ökologischen Themen hielt sich das immer sehr in Grenzen.


Werner Kratz Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Fundierte Argumente aus ökotoxikologischer Sicht
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Welche Einflußmöglichkeiten hat man auf die Hersteller von Pestiziden, die über den Dialog hinausgehen?

WK: Heute ist ja wieder ein Herr von Bayer hier, den ich kenne. Wir vom NABU führen zur Zeit sowohl Dialoge mit Bayer als auch mit BASF. Ich gehöre einer Kommission an, in der wir uns regelmäßig mit BASF treffen, weil BASF und Bayer mitbekommen haben, daß es mit dem Absatz nicht mehr so gut läuft, und sie zukunftsfähig bleiben wollen. Dort sind durchaus Speerspitzen zu erkennen, die auch im Fortbestand ihres Betriebes wollen, daß ihre Produkte künftig nicht mehr diese Negativanstriche haben. Ich schätze das so ein, daß wir mit zunehmender Technifizierung der konventionellen Landwirtschaft wie etwa der Drohnentechnologie einen enormen Schub im Erkenntnisstand erzielen können, der sich dann in der Praxis niederschlägt. Wird eine Befliegung durchgeführt, kann man sagen, wo die Schädlinge auf dem Acker sitzen, so daß sie sehr viel gezielter bekämpft werden können, sofern man immer noch an die Chemie glaubt. Wir sagen ja, daß wir das gar nicht mehr wollen, wir wollen mehr Hecken, mehr Rückzugsflächen für Organismenarten, die von Natur aus die Aufgabe haben, gewisse Populationen zu regulieren, sprich die sogenannten Antagonisten. Laufkäfer fressen Blattläuse, andere Karnivorenkäfer fressen Schnecken, viele Agrarvögel, bei denen wir ja auch einen massiven Rückgang beklagen, spielen dabei eine wichtige Rolle. Einer der deutschen Nachhaltigkeitsindizes ist der Agrarvogelindex, in dem wir zur Zeit bei 58 liegen, obgleich wir schon 100 erreicht haben sollten. Das zeigt wiederum, welche Dramatik dieses Insektensterben im Rahmen von Nahrungsketten hat.

SB: Welche Erkenntnisse gibt es diesbezüglich im Ausland? Ist Deutschland führend in diesem Forschungsbereich?

WK: Leider nicht. Die Franzosen sind da schon zwei Schritte weiter, die Engländer machen auch einen sehr guten Job, Skandinavien ohnehin. Wir sind andererseits nicht ganz schlecht im Vergleich. Wenn Sie in Spanien oder Griechenland Urlaub machen, sehen Sie die Bayer-Tüten überall herumliegen. Ich selber durfte als Wissenschaftler durch Forschungsaufenthalte im Ausland Staaten wie Indonesien besuchen. Wenn Sie dort durch die Landschaften gehen, sehen Sie überall diese Packungen auf den Äckern herumliegen. Das Regulativ in der EU ist Gott sei Dank immer noch relativ gut, wir haben ein starkes regulatorisches Moment, die regulatorische Ökotoxikologie, also die Aufgabe, die im Umweltbundesamt und im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geleistet wird. Die Kollegen dort setzen die EU-Verordnungen in nationales Recht um, und da läuft auch schon vieles gut.

Ich werde jedoch in meinem heutigen Vortrag Belege präsentieren, daß zwischen den Anforderungen der theoretischen Ökotoxikologie und Umweltchemie einerseits und dem, was wir bei der Zulassung von Pestiziden machen, andererseits viele Täler liegen. Das ist mein Job, ich versuche seit vielen Jahren, Einfluß darauf zu nehmen, daß sich die Zulassungsbedingungen und -methoden verbessern. Wir testen heute an ausgewählten Organismen, die leicht züchtbar und robust sind, sowohl die Wirkstoffe auf EU-Ebene als auch die Produkte auf Ebene der Mitgliedsstaaten. Dann rechnen wir einen kleinen Sicherheitsfaktor ein und sagen: Liebe Bauern, das könnt ihr ohne Risiko auf die Äcker ausbringen. Diese Vorgehensweise entspricht jedoch nicht dem, was wir brauchen. Nehmen Sie zum Beispiel das Bienenbrotmonitoring des Deutschen Imkerbundes vom letzten Jahr. Von 100 Proben waren 98 mit Pestiziden belastet. Nehmen Sie die vielfältigen Honiguntersuchungen, nehmen Sie die Untersuchungen an Pollen, die von vielen deutschen Bieneninstituten durchgeführt werden, und Sie finden darin Insektizide, Herbizide und Fungizide. Das zeigt mir ganz einfach, daß es nicht nur die Bauern sind, die frevelhaft diese Stoffe anwenden, sondern daß bei den Zulassungsverfahren Dinge übersehen werden, die wir in Zukunft stärker im Fokus haben und regulieren müssen.

Und lassen Sie mich noch eines sagen: Ich habe es ja als Abteilungsleiter im Landesumweltamt Brandenburg erlebt: Dieser massive Stellenabbau im öffentlichen Dienst gerade in den Umweltbehörden und Landwirtschaftsämtern hat dazu geführt, daß wir fast keinen Vollzug mehr haben. Das Moment der Überwachung bei der Ausbringung dieser Stoffe liegt darnieder. Wir haben für sämtliche Äcker in Brandenburg nur noch drei dafür zuständige Leute, nach der Wende waren es noch über 100. Dort müssen wir wieder aufrüsten, auch um solchen Leuten, die wirklich als die schwarzen Schafe definiert werden, das Handwerk zu legen.

SB: Es gibt im Klimabereich den Begriff der sogenannten Kippunkte, an denen unumkehrbare Prozesse einsetzen. Gibt es entsprechende Wendemarken im Bereich der Ökologie?

WK: Wir haben nicht nur Kippunkte im Klimabereich, sondern auch in der Ökologie. Die Theorien dazu sind 40, 50 Jahre alt, das kann man auch in den Lehrbüchern nachlesen. Deswegen habe ich mich so viel mit ökosystemalen Prozessen beschäftigt, die durch diese Gruppen letztendlich getragen werden. Unser theoretischer Ansatz ist immer gewesen, beispielsweise den Streuabbau hervorzuheben. Gäbe es ihn nicht, würde Münster in totem Blattwerk versinken. In den Wäldern sind ja nicht Leute vom Grünflächenamt, sondern Organismen am Werk, die den Abbau betreiben. Wir haben uns darauf geeinigt: Wenn dieser Prozeß stärker als 30 Prozent gehemmt wird, ist die Grenze erreicht. Es geht dabei nicht nur um Pestizide, sondern auch um Schwermetalle und andere Industriechemikalien. Zudem ist der Komplex der Biozide bei vielen Bürgerinnen und Bürgern wie auch Presseleuten noch gar nicht angekommen. Dies beschreibt den großen Komplex der zahlreichen Haushaltschemikalien, die im Humanbereich eingesetzt werden.

Wir haben Kippunkte definiert, die jedoch sehr schwer an einer Zahl festzumachen sind. Nehmen Sie einen Wald in Mitteldeutschland und demgegenüber einen Wald im alpinen Bereich, der in Folge des Klimawandels schon ganz andere Probleme durch Trockenheit und stärkere UV-Einstrahlung hat. Beides zusammen kann man nicht durch eine allgemeine Zahl ausdrücken, das muß man sich im Einzelfall anschauen. Dafür fordern wir seit vielen Jahren, daß nicht diese Drittmittelstudien über drei Jahre finanziert werden, sondern eine Langzeitförderung von wenigstens zehn Jahren erforderlich ist, um ökosystemspezifisch solche Prozesse und Populationsentwicklungen zu untersuchen und natürlich auch entsprechende Prognosen, die über Ökosystemmodelle mathematisch auszudrücken sind, zu erstellen.

SB: Wie gehen Sie in der Zusammenarbeit mit Unternehmen mit dem Problem um, daß diese wie etwa bei der Initiative "Bee Care Center" von Bayer gemäß ihren Interessen reine PR machen? Wie unterscheidet man als NABU-Mitarbeiter, was PR ist und was vielleicht tatsächlich den Bienen oder Insekten im allgemeinen zugute kommt?

WK: Wir nennen das ja Greenwashing und erkennen es durchaus. Wir haben, gerade was Bienenschutz angeht, gewisse Vorstellungen. Mein Kollege am Institut für Biologie der FU, Prof. Randolf Menzel, beschäftigt sich auch seit vielen Jahren mit dem Einfluß von Pestiziden auf das Verhalten von Bienen. Wenn wir uns heute die Bienenprüfung anschauen und das, was das Deutsche Bieneninstitut beim Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen (JKI) macht, erkennen wir viele Probleme. Aus unserer Sicht kann es nicht sein, daß wir im Zulassungsprozeß den Bienen Tropfen des Wirkstoffs auf den Abdomen geben und sie dann in irgendwelchen Zelten eine Weile fliegen lassen. Wir wollen die Stoffe wirklich freilandrelevant geprüft haben, die Methoden sind entwickelt und liegen auf dem Tisch. Sie sind auch der Europäischen Lebensmittelbehörde EFSA zur Verfügung gestellt worden, da gibt es inzwischen auch Draft Papers, wo die Reise hingehen soll. Ich werde heute im Vortrag auch eine Folie meines Kollegen Menzel zeigen und hervorheben, daß man ganz klar nachweisen kann, welchen Einfluß Neonikotinoide auf das Verhalten von Honigbienen und anderen Insekten haben. An diesem Punkt können wir mit der Industrie über derartige subtoxische, subchronische Effekte diskutieren, die stärker in die Zulassungspraxis Eingang finden müssen.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisher im Schattenblick zur NABU-Tagung über den Insektenrückgang unter UMWELT → REPORT → BERICHT und UMWELT → REPORT → INTERVIEW erschienen:

BERICHT/133: Insektenschwund - Politik zu träge ... (1) (SB)
BERICHT/134: Insektenschwund - Politik zu träge ... (2) (SB)

INTERVIEW/268: Insektenschwund - Aufgabenvielfalt unterschätzt ...     Prof. Dr. Christoph Scherber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/269: Insektenschwund - schon länger in der Peilung ...     Marie Thöne im Gespräch (SB)

27. Februar 2018


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