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INTERVIEW/280: Landwirtschaft 4.0 - klimaschonend marktgerecht ...    Prof. Dr. Albert Sundrum im Gespräch (SB)



Eine leicht depremiert wirkende Milchkuh in trister Stallhaltung - Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft, (mit freundlicher Erlaubnis zur Nutzung in Medien)

'Vielen Landwirten fehlt es an Ressourcen, um für das Wohl der Tiere zu sorgen oder Umweltschäden zu vermeiden.' (Prof. Albert Sundrum)
Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft, (mit freundlicher Erlaubnis zur Nutzung in Medien)

Die Nutztierhaltung in Deutschland steht nicht erst seit jüngster Zeit in der Kritik. Nach einer Phase der Entspannung läßt sich heute kaum noch verschleiern, daß an den Grundkonflikten nichts geändert wurde. Die 50 Jahre zurückliegende Debatte zwischen Tiernutzern und -schützern scheint sich zu wiederholen. Neue Probleme kommen dazu.


Abgepackte Schweineschnitzel in der Kühltruhe eines Supermarktes - Foto: 2018 by FASTILY [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], from Wikimedia Commons

"Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch"?
Die Leistung des Landwirts für das Tierwohl läßt sich nicht am Produkt erkennen.
Foto: 2018 by FASTILY [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], from Wikimedia Commons

Laut einer Befragung im Rahmen des Ernährungsreports 2018, der zu Beginn des Jahres vom Agrarministerium vorgestellt wurde, wollen immer mehr Menschen, daß Ihr Fleisch im Einklang mit Tierwohl, Klima und Umwelt hergestellt wird. [1] Danach ißt jeder Dritte regelmäßig Fleisch und Wurst. Etwa 60 Prozent gaben an, auf die Qualität der Produkte zu achten, fast ebenso viele legten Wert auf die faire Bezahlung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, jeder Zweite auf umweltschonende Produktionsmethoden. Drei Viertel halten die Pflege ländlicher Räume und mehr als ein Drittel die Transparenz eines Betriebes für sehr wichtig. Immerhin 40 Prozent der Befragten hielten höhere Standards bei der Tierhaltung für das wichtigste Qualitätskriterium. 90 Prozent davon würden für bessere Haltungsbedingungen auch einen entsprechenden Aufpreis zahlen, aber nur ein Viertel würde bei einem Grundpreis von zehn Euro für ein Kilo Fleisch noch 5 bis 10 Euro mehr für gerechtfertigt halten. [2] Das Kaufverhalten der meisten Konsumenten zeigt, daß immer noch den billigsten Angeboten der Vorzug gegeben wird. Möglicherweise deshalb, weil 66 Prozent der Käufer davon ausgehen, daß Nutztiere in Deutschland entsprechend der Formulierung des Tierschutzgesetzes von 1972 artgerecht gehalten werden und weil deutsche Lebensmittel allgemein einen guten Ruf haben, der dem Verbraucher seit Kindesbeinen von Marketing und Werbung eingeimpft wurde: "Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch".

Allerdings lassen sich die Tatsachen der abschreckenden Zustände in den Tiermastanlagen kaum noch übersehen. Dafür bedarf es nicht einmal Bilder von kranken Tieren und federlosen Hühnchen, die Tierschützer zur Aufklärung ins Netz setzen. Schon ein einfaches Rechenexempel zeigt, daß Nutztierbetriebe an der Lebensqualität von Tieren sparen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Laut einem Beispiel des Online Magazins Telepolis [2] gab es 2015 in Niedersachsen rund 8,8 Millionen Schweine. Die Mast eines Ferkels kostete 60 Euro, im Verkauf brachte es etwa die Hälfte ein. Solche Defizite trieben Landwirte in den Ruin, entsprechend ging die Zahl der Betriebe auf rund 2200 zurück (1992 waren es noch 45.000). Gleichzeitig nehmen Verletzungen und Todesfälle durch zu hohen Besatz, aber auch krankhafte Veränderungen an inneren Organen und Gelenken durch schlechte Haltungsbedingungen, Nährstoffmangel, Medikamentennebenwirkungen u. dgl. zu. Abhilfe will das deutsche Agrarministerium jetzt durch ein neues Tierwohl-Label schaffen. Doch laut Tiermediziner Prof. Dr. Albert Sundrum greift dieses Projekt der sich selbst als "Lebensministerin" bezeichnenden Julia Klöckner viel zu kurz.

Prof. Sundrum leitet seit Oktober 1999 das Fachgebiet Tierernährung und Tiergesundheit am Fachbereich für Ökologische Agrarwissenschaften an der Universität Kassel. Nach Studium der Veterinärmedizin wandte er sich der Ökologischen Landwirtschaft zu, um herauszufinden, ob mit diesem Ansatz die Erzeugung von Produkt- und Prozeßqualitäten in der Nutztierhaltung verbessert werden kann. Von 2003 bis 2012 war er Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Durch seine umfangreiche Beteiligung an EU Forschungsvorhaben und ihrer Koordination ist er mit nationalen und internationalen Ansätzen der ökologischen und konventionellen Nutztierhaltung in Politik und Wissenschaft vertraut.

Auf der vierten Podiumsdiskussion des diesjährigen Zukunftsdialogs Agrar- und Ernährung in Berlin sprach er sich für ein stärkeres Engagement in der kontroversen Auseinandersetzung mit den zentralen Problemen aus, die - wie er befürchtet - mit der Einführung des geplanten Labels und dessen Kriterien weiter ignoriert und generell tabuisiert werden könnten. Im Anschluß an die Diskussion erläuterte er dem Schattenblick, was seines Erachtens im derzeitigen Diskurs nicht ausreichend berücksichtigt wird.


Auf dem Podium des 5. Zukunftsdialogs Agrar & Ernährung 2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Plädiert für mehr Engagement der Akteure aus Agrarwirtschaft, Politik und Wissenschaft im Diskurs um die Kernprobleme der Nutztierhaltung.
Prof. Dr. Albert Sundrum
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Professor Sundrum, Sie waren mit dem Verlauf der Diskussion "Herausforderung Tierhaltung", in der innovative Ansätze für eine zukünftige Nutztierhaltung vorgestellt werden sollten, nicht zufrieden. Sagen Sie uns warum?

Prof. Dr. Albert Sundrum (AS): Ich bin enttäuscht darüber, dass die Kernprobleme der Nutztierhaltung nicht adressiert wurden. Aus meiner Perspektive, die meinem fachlichen Hintergrund geschuldet ist, hätte man die betriebliche Situation, das heißt die Primärerzeugung, ins Zentrum der Erörterungen bringen und sich mit den dort vorherrschenden Zielkonflikten auseinandersetzen müssen. Doch das wurde nur am Rande kurz angerissen.

SB: Sie erwähnten vorhin, dass in einigen anderen Ländern ein engagierterer Diskurs über die Möglichkeiten der Verbesserungen auf den Betrieben geführt wird. Können Sie uns aus eigener Anschauung näher erläutern, wie andere Länder mit der Problematik umgehen?

AS: Die Verantwortlichen in einigen anderen europäischen Ländern, hierzu gehören insbesondere die skandinavischen Länder, haben schon länger begriffen, dass eine Wertschöpfung auf Dauer nicht nur über eine Kostenführerschaft funktioniert, sondern dass eine Qualitätsführerschaft immer wichtiger wird. Qualität bedarf allerdings des Nachweises und der Kontrolle durch eine unabhängige Institution anhand geeigneter Kriterien und Beurteilungskonzepte. Die Kriterien, die wir in Deutschland verwenden, reichen weder für eine angemessene Beurteilung der Produktqualitäten noch für eine Bewertung der Prozessqualitäten 'Umweltverträglichkeit' und 'Tierschutz'. In anderen Ländern gibt es Konzepte, die besser geeignet sind, sich einen Überblick über die qualitativen Leistungen eines landwirtschaftlichen Betriebes zu verschaffen.

Zum Beispiel werden in den Niederlanden die Betriebe hinsichtlich ihrer Stickstoff- und Phosphorein- und -austräge bilanziert, und zwar unter Einbeziehung der Stoffflüsse innerhalb des Betriebes. Dies ermöglicht eine realistischere Einschätzung der Umweltschutzleistungen. Die Betriebe werden hinsichtlich dieser Leistungen skaliert, das heißt mittels Benchmarking differenziert. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, um hinsichtlich der Beratung auf die Betriebe fokussieren zu können, die im unteren Segment angesiedelt sind, und ihnen dabei zu helfen, die Umweltschutzleistungen zu verbessern. Das Benchmarking ließe sich auch im Marketing einsetzen, so dass sowohl durch die Bindung der Direktzahlungen an Leistungen für das Gemeinwohl als auch über Marktmechanismen Impulse für eine Qualitätserzeugung gesetzt werden können.

In Deutschland stehen die gegenwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dem Anliegen der Qualitätserzeugung diametral entgegen: Die Exportorientierung und das Streben nach Kostenführerschaft nötigt die Betriebe, weiterhin Kosten zu senken, um irgendwie existenzfähig zu bleiben. Das anhaltende "Höfesterben" zeigt, dass es viele Betriebe trotz jahrzehntelanger Bemühungen um Senkung der Produktionskosten nicht schaffen, als Betrieb zu überdauern. In einer solchen Konstellation kann den Nutztieren häufig nicht mehr das zur Verfügung gestellt werden, was diese an hochwertigen Futtermitteln, an Betreuung, an Hygiene und Schutz bräuchten. Viele Landwirte haben gar keine Wahl; sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Ihnen fehlt es schlicht an Ressourcen, um für das Wohl der Tiere zu sorgen oder Umweltschäden zu vermeiden.

SB: Die Bundesministerin Julia Klöckner hat in Ihrer Ansprache den Verbraucher in die Pflicht genommen, der Ihrer Ansicht nach eine Qualitätsbewertung und somit auch eine Qualitätssteuerung mit seinem Kaufverhalten vornehmen könne. Verbraucher- oder Bürgerinitiativen appellieren spätestens seit der BSE-Krise dafür, nur zertifizierte Fleischerzeugnisse zu kaufen. Eine entsprechende Forderung kommt von Tierschützern, die mit Sicherheit andere Schwerpunkte legen. Welche Rolle spielt der Konsument Ihrer Meinung nach bei der Qualitätsbewertung? Und könnte umgekehrt eine konsequente Nachfrage nach zertifizierter Ware von den Betrieben bedient werden?

AS: Bei zertifizierter Ware stellt sich zunächst die Frage, was wird zertifiziert und welche qualitativen Aussagen sind damit verbunden. Bisher wird nur die Einhaltung von gesetzlichen Mindestanforderungen oder - wie in der ökologischen Landwirtschaft - die Einhaltung erhöhter Mindestanforderungen zertifiziert. Die Einhaltung von Mindeststandards erlaubt jedoch keine Aussage über die Qualität der Erzeugung oder der Produkte, die unter diesen Bedingungen erzeugt werden. Mindeststandards sind Input-Größen; Qualität kann jedoch nur anhand von Output-Größen, das heißt am Ergebnis der vielfältigen Prozesse beurteilt werden.

Ich persönlich halte nichts davon, die Verbraucher damit zu beauftragen, den Produkten und den Erzeugungsprozessen einen Wert beizumessen. Mit dieser Aufgabe sind sie schlichtweg überfordert und deshalb in dieser Hinsicht auch nicht hinreichend mündig. Der "mündige Verbraucher" ist ein vorgeschobenes Trugbild, um ungestört wie bisher weitermachen zu können und die Verantwortung bei den Konsumenten abzuladen. Zwar müssen sie entscheiden, welches Produkt sie aus dem unerschöpflichen Angebot letztlich kaufen. Was ihnen jedoch fehlt, ist die belastbare Information, welches Produkt mit welchem Grad an Tierschutz- oder Umweltschutzleistung erzeugt wurde. Das eindeutige Entscheidungskriterium, das Käufer derzeit haben, ist der Preis. Also entscheiden sie sich sehr häufig für den geringsten Preis in der Hoffnung, gleichzeitig ein Produkt mit einer hinreichenden Qualität zu erwerben, so wie ihnen die Werbung dies auch immer wieder suggeriert. Viele wissenschaftliche Studien legen nahe, dass die Kaufentscheidung der Verbraucher im Wesentlichen auf ihrer subjektiven Einschätzung des Verhältnisses von Preis und Leistung beruht. Der Preis ist bekannt, die Leistung in der Regel nicht.

Erst wenn eine unabhängige Beurteilung der qualitativen Leistung und eine entsprechende Kennzeichnung vorliegt, können Verbraucher entscheiden, welchen Preis sie für den dargelegten qualitativen Wert der Ware im Hinblick auf Tier- und Umweltschutz oder auch bei der Produktqualität zu zahlen bereit sind, d.h. was ihnen persönlich der ermittelte Wert einer Ware wert ist. Erst dann ist eine marktwirtschaftliche Situation gegeben, die den Verbrauchern eine mündige Entscheidung ermöglicht. Aber solange sie gar nicht wissen, welche qualitative Leistung sie für einen bestimmten Preis erwerben, glauben sie sich auf der sicheren Seite, wenn sie Schnäppchen einkaufen. Dabei können sie kaum etwas falsch machen, preiswerter geht es schließlich nicht. Verbraucher haben derzeit kaum eine Chance, sich den qualitativen Sektor und qualitative Unterschiede im Detail zu erschließen. Von interessengeleiteter Seite wird so getan, als hätten wir bereits ein besonders hohes Qualitätsniveau. Wenn man sich aber in der Welt oder in Europa ein wenig umsieht, dann realisiert man, dass woanders Qualitätsware erworben werden kann, die in Deutschland gar nicht auf dem Markt angeboten wird.

SB: Wie ließe sich ein solches System durchsetzen, damit es den Tierhaltungsbetrieben den notwendigen Impuls gibt, ihr Qualitätsniveau im Tier- und Umweltschutz aufzustocken? Müssten vielleicht zunächst die Menschen geschult werden, worauf sie achten müssen?

AS: Nein, die Verbraucher brauchen keine Schulung. Diese brauchen sie ja auch nicht, wenn sie sich mechanische oder elektronische Geräte anschaffen, oder ein Auto kaufen. Sie brauchen eine zuverlässige Beurteilung von Qualitätsware durch Experten und aufgrund der großen Schwankungsbreite zwischen den Qualitätsniveaus eine Skalierung. Der Verbraucher kennt dies von elektrischen Geräten, wie Kühlschränken. Die sind beispielsweise mit A, B, C gekennzeichnet. Daran kann er die Klimarelevanz des Geräts abschätzen.

SB: Also eine Art Abgasplakette für Tierhaltungsbetriebe wie es sie beim TÜV gibt?

AS: Nein, dies würde wieder der Einhaltung von Mindeststandards entsprechen, die ich zuvor als völlig ungeeignet für die Qualitätsbeurteilung verworfen habe. Es bedürfte einer Art Ranking, eines Kategorisierungssystems von Betrieben nach ihren jeweiligen Umwelt- und Tierschutzleistungen. Es in die Tat umzusetzen, wäre natürlich eine hoheitliche und damit staatliche Aufgabe, die man nicht Privatinteressen überlassen darf. Des Weiteren gehört es zu den Aufgaben des Staates, den Wettbewerb fair zu gestalten. Dies gilt insbesondere für den Tier- und Umweltschutz. Beide Bereiche sind als durch den Staat zu schützende Güter im Grundgesetz verankert. Dieser nimmt aber die Verantwortung in viel zu geringem Maße wahr.


Kühe in Stallhaltung. Um an das Futter zu gelangen, müssen sie den Kopf durch ein speziell angepaßtes Gitter stecken. - Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft, CC-BY-ND

Stallhaltung erleichtert die Kontrolle von klimarelevanten Emissionen.
Doch wer kontrolliert die Milch- und Fleischindustrie, von der die fünf größten Konzerne allein einen größeren Treibhausaustoß als der weltgrößte Erdölkonzern Exxon haben? [3]
Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft, CC-BY-ND

Eigentlich müsste die Landwirtschaft dringend in die Klimadebatte einbezogen werden. Der frühere Landwirtschaftsminister Schmidt, der Vorgänger von Frau Klöckner, hat sich damit gebrüstet es geschafft zu haben, die Landwirtschaft aus den Klimadebatten herauszuhalten. Eine solche Haltung können wir uns nicht mehr leisten, weil die Landwirtschaft ein maßgeblicher Emittent von Stickstoffverbindungen, von klimarelevanten Gasen oder auch von Feinstaub ist. Die landwirtschaftlichen Produktionsprozesse auszuklammern, ist auch gegenüber anderen Wirtschaftszweigen, die ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, nicht fair. Über das Verkehrswesen wird intensiv diskutiert und es werden Regulierungen implementiert. Nur die Landwirtschaft entzieht sich bisher dieser Regulation. Das kann ich als Staatsbürger nicht akzeptieren.

Gleichzeitig werden bei der Betrachtung der für die Klimadebatte relevanten Nährstoffflüsse innerhalb und aus der Landwirtschaft Wettbewerbsverzerrungen deutlich, die den verantwortungsvollen Umgang mit Nährstoffen nicht belohnt: Ein Landwirt, der externalisiert, das heißt, der intensiv wirtschaftet und sich gleichzeitig nicht darum kümmert, wieviel Nährstoffe aus dem Betrieb entweichen und damit die Umwelt belasten, ohne dass es ihn etwas kostet, der hat einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Betrieben, die versuchen, verantwortungsvoller mit ihren Nährstoffen zu wirtschaften. Das sind zutiefst unfaire Wettbewerbsbedingungen. Diese Ungerechtigkeit einzudämmen, wäre eigentlich Aufgabe der Politik, sowohl der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) als auch der nationalen Politik. Beide weigern sich allerdings, dies überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn über Lösungen zu diskutieren.

SB: Würden Ihres Erachtens die Kriterien, die vorhin genannt wurden: Input, Output, und schließlich Umweltbelastung oder Emission in die Atmosphäre schon für die Validierung eines Betriebes ausreichen?

AS: Eine Stickstoff- und Phosphorbilanz in der Art und Weise, wie sie bereits in den Niederlanden praktiziert wird, würde für die Beurteilung der Umweltschutzleistungen eines Betriebes schon eine praktikable und veritable Einschätzung liefern. Für die Tierschutzleistungen eines Betriebes kann die Erfassung der Rate an Todesfällen und Produktionskrankheiten über den Jahresverlauf in Relation zu den erzeugten Produktmengen eine sehr aussagefähige Beurteilung liefern. Diese Daten liegen auf sehr vielen Betrieben bereits vor, das heißt, man müsste nicht einen großen zusätzlichen Aufwand betreiben. Es liegt auf der Hand, dass kranke Tiere in ihrem Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt sind. Betriebe mit einer geringen Rate an Produktionskrankheiten sind hinsichtlich der Tierschutzleistungen deutlich besser einzustufen, als Betriebe mit hohen Raten an Produktionskrankheiten. Das Management muss den Tieren mehr Aufmerksamkeit widmen und mehr Ressourcen in Form einer verbesserten Fütterung, Hygiene und Pflege zuteilen, damit diese in der Lage sind, sich ohne Störungen der Gesundheit anpassen zu können. Wir verfügen bereits über hinreichendes Wissen, können aber unser Know-how und die vielfältigen Beratungsempfehlungen in der Praxis gar nicht zur Anwendung bringen, weil die Landwirte kein Geld haben, um das zu realisieren bzw. weil sich die damit verbundene Investition nicht amortisiert. Die Landwirte haben keinen wirtschaftlichen Spielraum dafür.

SB: Gibt es keine kleineren Veränderungen, die ein Landwirt ohne weitere Kosten mit wenigen Handstrichen oder etwas mehr Mühe zum Tierwohl und damit zur Verhinderung von Produktionserkrankungen beitragen kann?

AS: Das ist zu einfach gedacht. Die Tiergesundheit ist das Gesamtergebnis, das heißt der Output der komplexen Interaktionen zwischen sehr vielen Faktoren innerhalb des Betriebssystems. Diese Interaktionen und das daraus resultierende Ausmaß an Produktionskrankheiten sind betriebsspezifisch. Man kann nicht von einzelnen Faktoren auf die damit hervorgerufene Wirkung bei der Gesamtheit der Betriebe schließen. Dies ist ein sogenannter induktiver Fehlschluss. Erkrankungen kommen zustande, weil tier- und betriebsindividuelle Wechselwirkungen nicht miteinander kompatibel sind, so dass Störungen auftreten. Folglich muss erst die betriebliche Gesamtsituation in den Blick genommen werden. In einem diagnostischen Prozedere gilt es herausfinden, was die Schwachstellen eines Betriebes sind, wie viele und welche Produktionskrankheiten vorliegen und welche Tiere besonders betroffen sind. Nur so kann die Aufmerksamkeit sowie die zeitlichen und finanziellen Ressourcen auf die Bereiche fokussiert werden, welche betriebsspezifisch für die Störungen relevant sind. Erst aus der Identifizierung von Schwachstellen, erst aus der Diagnose ergeben sich Lösungs- bzw. Behandlungsansätze. Diese lassen sich aber nicht auf andere Betriebe übertragen. Dort liegen andere Probleme und andere Wechselwirkungen vor, die auf eine an den Betrieb angepasste Strategie behoben werden müssen.


Freilaufende Hühner, in einem derart dichten Gedränge, das für das einzelne Tier nicht einmal den im Tierschutzgesetz verankerte Platz von 2,5 Quadratmetern Bewegungsraum läßt. - Foto: by Roger Kidd / Yes, they are Free Range! Claverley, Shropshire

Streßfaktor Freilauf.
'Die Tiergesundheit ist das Gesamtergebnis, das heißt der Output der komplexen Interaktionen zwischen sehr vielen Faktoren innerhalb des Betriebssystems.'
Foto: by Roger Kidd / Yes, they are Free Range! Claverley, Shropshire

Die induktive Vorgehensweise, generelle oder technikbasierte Ansätze zu entwickeln und sie dann auf alle Betriebe zu übertragen, ist wissenschaftlich nicht belastbar. Sie funktioniert bei einigen quantitativen Parametern aber bei qualitativen Zielgrößen kommen Sie damit nicht weiter. Die Tatsache, dass die Agrarwissenschaften dennoch vorrangig auf technische und züchterische und damit induktive Lösungsansätzen setzt, macht sie nicht nur zum Teil einer Lösung, sondern auch zum Teil des Problems. Es wird in den Agrarwissenschaften viel zu wenig darüber reflektiert und gestritten, ob die bisherigen Ansätze wirklich in der Lage sind, die offensichtlichen und schon seit geraumen Zeiträumen existierenden Probleme einer Lösung zuzuführen. Bezogen auf die Tierschutz- und Umweltschutzleistungen kann ich jedenfalls nicht erkennen, dass uns die enormen Forschungsanstrengungen der Vergangenheit dazu befähigt haben, die unvermindert anhaltenden und sich eher verschärfenden Probleme in der Zukunft zu lösen. Meine vorläufige Einschätzung ist, dass wir unter dem Diktat der Kostenminimierung unsere Kenntnisse schlicht nicht zur Anwendung bringen können, weil sie kostensteigernd sind und von den Landwirten als solche eingestuft werden.

SB: Verringern sich die Probleme durch den Rückgang der Nutztierhaltung oder durch das eingangs erwähnte Höfesterben?

AS: Das ist so nicht zu erwarten. Die Anzahl der Betriebe geht zwar drastisch zurück. Die Tierzahl ist jedoch gleich geblieben bzw. hat bei einigen Spezies sogar zugenommen. Es gibt nach wie vor sehr viele Tiere, die auch sehr viele Nährstoffe brauchen, die importiert werden müssen. Auf der anderen Seite exportieren wir viele Produkte - im Bereich Schweinefleisch und Milch sind es über 40 Prozent der im Land erzeugten Produkte. Die Exkremente der Tiere bleiben im Lande, nicht gleichmäßig über das Land verteilt, sondern in bestimmten Regionen hochgradig konzentriert. Zusätzlich werden noch große Mengen an Exkrementen von holländischen Betrieben importiert, weil sie den aufnehmenden Betrieben in Deutschland zusätzliche Einnahmen auf Kosten des Gemeinwohles bescheren. Manche Regionen sind quasi, wenn ich das mal sehr überspitzt formulieren darf, die Latrine von holländischen Betrieben. Gleichzeitig werden die Probleme mit den im Land anfallenden Exkrementen nicht gelöst. Auch dies wurde auf dem heutigen Panel nicht thematisiert.

Auf der anderen Seite, auch das wurde hier in den vorangegangenen Diskussionsbeiträgen nicht erwähnt, werden etwa 40 Prozent der Ackerflächen in Ostdeutschland nicht mit organischem Dünger versorgt, weil sie von den Zentren der Tierhaltung zu weit entfernt sind. Sie müssen zur Freude von BASF & Co mit mineralischen Düngemitteln versorgt werden. Was die heute diskutierte Kreislaufwirtschaft betrifft, haben wir hier eine Situation, die weder ausbalanciert noch auf Effizienz getrimmt ist. Dafür müsste die Tierhaltung in die Regionen mit geringem Viehbesatz verlagert werden. Darüber hinaus bräuchte es eine entsprechende Abstimmung zwischen Tierhaltung und Pflanzenbau, damit die Ressourcen effizienter genutzt werden können und möglichst wenig davon in die Umwelt entweicht. Die Strategien dafür sind vorhanden. Nur passen die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht dazu. Diese Kernproblematik wurde heute nicht thematisiert und reflektiert.

SB: Müsste ein neuer Berufsstand, wie der eines Beraters oder eines Mediators der Landwirtschaft geschaffen werden, der diese vielen unterschiedlichen Bereiche und die Politik zusammenbringt?

AS: Es gibt durchaus schon Berater, die über entsprechende Kompetenzen verfügen und bei der Lösung oder Minderung von Zielkonflikten helfen könnten. Solange jedoch nur die Maßnahmen ins Auge gefasst werden, die eine Senkung der Produktionskosten erwarten lassen, werden die Landwirte auch keine Beratung anfordern oder gar bezahlen wollen, welche kostensteigernd wirken könnte. Auch die Wissenschaft steckt hier in einer Falle. Sie versucht immer wieder neue Optionen zu erforschen, bekommt davon aber nur sehr wenig in die Anwendung transferiert, weil dafür kein hinreichender Markt vorhanden ist. Weil von der Praxis in erster Linie nur das realisiert wird, was verspricht, die Kosten zu senken, findet eine externe Validierung der von der Wissenschaft entwickelten methodischen Ansätze nur selten statt.

Andererseits gibt es durchaus Spielräume für ein Sowohl-als-auch, das heißt sowohl für die Realisierung einer hohen Produktivität als auch hoher qualitativer Leistungen. Um diesen auf Synergieeffekten basierenden Schatz zu heben, bedürfte es allerdings einer systemischen Herangehensweise. Diese hat in den Agrarwissenschaften trotz gegenteiliger Bekundungen bislang kaum Eingang gefunden.

SB: Die sogenannte Landwirtschaft 4.0 bewirbt ebenfalls zahlreiche neue und vermutlich auch kostspielige Techniken. Sind diese Technologien ausreichend evaluiert? Und werden sie halten, was sie versprechen?

AS: Die heute feil gebotenen digitalen Ansätze lassen nur in Teilbereichen einen Lösungsbeitrag erwarten; sie adressieren jedoch nicht die Kernprobleme. Mit neuer - wie bereits in der Vergangenheit mit der bisherigen Technik werden Erwartungen verknüpft, ohne dass bisher der Nachweis einer umfassenden Wirkung, der über einen begrenzten Teilaspekt hinausgeht, unter sehr heterogenen betrieblichen Bedingungen über eine externe Validierung erbracht wurde. Was wir eigentlich bräuchten wäre ein Wettbewerb um die effektivsten und effizientesten Lösungen für die jeweiligen betriebsspezifischen Konstellationen, das heißt einen Wettbewerb zwischen den Betrieben hinsichtlich der Erbringung von Tierschutz- und Umweltschutzleistungen, das heißt Leistungen für das Gemeinwohl.

SB: Wenn die Digitalisierung im Stall darauf hinausläuft, dass man durch ein Monitoring den Bedarf der Tiere an Aminosäuren und Nährstoffen ermitteln und entsprechend elektronisch die Futterausgabe regulieren kann, lassen sich Futtermenge, Schadstoffemissionen und sogar der Wasserbedarf erheblich reduzieren. Das scheint ökologisch sinnvoll und wirtschaftlich effizient. Stört es Sie als Tierarzt, wenn Tiere in Stallhaltung als eine Art biochemische oder organische Fabrik betrachtet werden, reduziert auf Ausgangsstoffe und Endprodukte wie Fleisch, Milch oder Eier?


Eine Legebatterie - Foto: 2006 By ITamar K. [gemeinfrei], from Wikimedia Commons

In Geflügelställen ist Kannibalismus "normal". Diese Haltungsverfahren verursachen im Verbund mit mangelhafter Tierbetreuung eine Vielzahl von vermeidbaren Erkrankungen und Todesfällen bei den Tieren - das gilt für alle Haltungsverfahren, ob bio oder konventionell.
Foto: 2006 By ITamar K. [gemeinfrei], from Wikimedia Commons

AS: Damit habe ich kein grundsätzliches Problem. Maßgeblich ist für mich, inwiefern die Technik dazu beiträgt, eine Verbesserung des Tierschutzes und des Umweltschutzes zu leisten. Diesen Nachweis fordere ich ein. Wie auch immer das durch Technik gelöst wird - es gibt genug Optionen, die sich vor allem zum Wohl des Tieres umsetzen lassen -, entscheidend ist, dass man sie nur als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck betrachtet. Das wäre falsch. Das gleiche gilt für Futtermittel wie Soja, technische Hilfsmittel oder Arzneimittel, die daraufhin geprüft werden müssen, ob das zuvor definierte Ziel damit tatsächlich erreicht wird. Dies ist nicht nur von den jeweiligen Mitteln, sondern vor allem vom Kontext und von der Verwendung der zum Kontext passenden Mittel abhängig. Und dann gilt es zusätzlich zu prüfen, ob das Ziel mit den Mitteln auch kostengünstig erreicht werden kann. Kurz gesagt: Das Ziel muss klar sein und nachweislich erbracht werden; mit welchen Mitteln es erreicht wird, bleibt weitgehend den einzelnen Betrieben überlassen.


Zwei Ferkel, die sich sauwohl fühlen. - Foto: by RoyBuri CC0 via Pixabay

'Es gibt genug Optionen, die sich vor allem zum Wohl des Tieres umsetzen lassen.'
Foto: by RoyBuri CC0 via Pixabay

Doch wie ich bereits eingangs sagte, so lange die qualitativen Leistungen nicht valide beurteilt werden, und der Landwirt für eine höhere Leistung keine zusätzliche Honorierung erfährt, fehlt der Anreiz, also unterlässt er es. Er bleibt bei der weit verbreiteten Strategie - die sich längst für viele Betriebe als trügerische Hoffnung und damit als Fehleinschätzung erwiesen hat - zu überdauern, indem man weiter versucht, die Kosten zu minimieren. Dies führt meines Erachtens immer tiefer in die Sackgasse.

SB: Vielen Dank, Herr Professor Sundrum für die deutlichen Worte.


Anmerkungen:


[1] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Broschueren/Ernaehrungsreport2018.html;nn=310868

[2]Quelle: Januar 2018, Telepolis, Susanne Aigner:
"Massentierhaltung: Ist ein Ende der Qualen absehbar?"
https://www.heise.de/tp/features/Massentierhaltung-Ist-ein-Ende-der-Qualen-absehbar-3952551.html?seite=all

[3] mehr zum Thema:
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0156.html


Bisher sind zum "5. Zukunftsdialog Agrar und Ernährung 2018" im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/138: Landwirtschaft 4.0 - die Stickstoffalle ... (SB)
BERICHT/139: Landwirtschaft 4.0 - Besserungen verlangen und geloben ... (SB)
BERICHT/141: Landwirtschaft 4.0 - Börsen, Aktien und kapitalverfügt ... (SB)

INTERVIEW/274: Landwirtschaft 4.0 - Ökolandbau, warum nicht ...    Silvia Bender im Gespräch (SB)
INTERVIEW/275: Landwirtschaft 4.0 - Tierhaltungs- und Gebrauchsalternativen ...    Dr. Martina Stephany im Gespräch (SB)
INTERVIEW/276: Landwirtschaft 4.0 - Akutantworten ...    Prof. Dr. Matin Qaim im Gespräch (SB)


16. Juli 2018


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