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STANDPUNKT/059: "Wir müssen lernen den Frauen zu vertrauen" (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 4/15

"Wir müssen lernen den Frauen zu vertrauen"

Ein Gespräch von Nicole Thies mit Sarah Diehl zu den Themen Schwangerschaftsabbruch und Mutterbild


Sarah Diehl engagiert sich seit Jahren für eines der zentralen Frauenrechtsthemen: das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Dabei geht es ihr um den 'sicheren' Zugang: dass Frauen körperlich unversehrt einen Schwangerschaftsabbruch durchführen können - was deutlich wahrscheinlicher wird, wenn der Eingriff bzw. die Medikamenteneinnahme legal sind. Ihr ist die Entkriminalisierung ebenso wichtig wie die Entstigmatisierung innerhalb der Gesellschaft.

Und wer glaubt, die Argumente wären längst zur Genüge ausgetauscht, irrt. Für die MIZ-Redaktion sprach Nicole Thies mit Sarah Diehl über ihr Engagement, über aktuelle Debatten und Vorstellungen über Mutterbilder und Mythen in unserer Gesellschaft.


MIZ: Warum engagierst du dich für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und das Recht der Frauen über ihr Leben und ihren Körper selbst bestimmen zu können? Warum ist dir das Thema so wichtig?

Sarah Diehl: Ich habe mich anfänglich mit dem Thema beschäftigt, weil es scheinbar kein Thema mehr war. Obwohl weltweit Frauen an Schwangerschaftsabbrüchen sterben: vor 10 Jahren etwa 78.000 Frauen weltweit pro Jahr. Mich hat diese Zahl schockiert. Obwohl ich zu dem Zeitpunkt Gender Studies studiert habe und mich für feministische Geschichte interessierte, kannte ich die Zahl nicht. Abtreibung war zwar ein zentraler Teil der sog. zweiten Welle der Frauenbewegung, aber als junge Feministin hatte auch ich das Thema nicht mehr im Blick. Es redete keine mehr darüber, so dass der Eindruck entstand, alles wäre in Ordnung. Mir wurde klar, dass dies ist ein Thema ist, wo Frauen - eben durch das Stigma - wieder mundtot gemacht werden und dass selbst in der feministischen Debatte, das Thema mit einem 'Oldschool-Feminismus' verbunden wird.

Dabei ist das Thema bodenlos und stark verzahnt in viele andere Themenkomplexe. Dazu gehören Frauenemanzipation und sexuelle Aufklärung, aber auch ganz viele politische Themen und die Religionen, sowie Projektionen über Leben und Liebe.

MIZ: Woran lag das, dass das Thema aus dem Fokus geraten ist?

Sarah Diehl: Meine Vermutung: Damals lag der Fokus auf queeren Debatten, also eher identitären Ansätze. Und da hatten alle Fragen, die sich um Schwangerschaft, wer und was mit dem weiblichen Körper geschieht und was mit Körperlichkeit zu tun hat, wenig Platz. Nicht zuletzt weil das Thema Schwangerschaft und weibliche Körperlichkeit gern instrumentalisiert wird, um Frauen wieder auf ihre Weiblichkeit zu reduzieren - also auf ihre Biologie, auf ihre "Natur" als Mutter. Die neuen Ansätze sahen die Freiheit eher darin, sich von Körperlichkeit und vor allem von Determinanten von Körperlichkeit - und von dem Geschlecht - zu lösen. In den Anfängen der queeren Debatten war, so glaube ich, nicht ganz klar, wie Schwangerschaft oder Mutterschaft und Schwangerschaftsabbruch integriert werden können.

MIZ: Wie wird die Debatte heute geführt? Warum ist Thema noch wichtig?

Sarah Diehl: Mittlerweile wird Frauen gesagt, du kannst dein Leben total kontrollieren. Du hast Verhütungsmittel, du bist gleichberechtigt, du kannst in deinem Leben alles machen, was du willst. Nur passt nicht in dieses neoliberale Bild, dass Frauen keine absolute Kontrolle über ihre Gebärfähigkeit ausüben können. Dass Verhütung einfach funktioniert, ist ein Mythos. Verhütung hat viele Nebenwirkungen, ist teuer, hat eine Fehlerquote bis zu 15%. Es braucht auch die Männer dazu, die mitmachen. Auch die Störanfälligkeit ist hoch: Denn Sexualität hat ja auch mit Leidenschaft zu tun. So wie man dem absoluten Technikglauben folgt, dass Verhütung 100% klappt, hält sich im gleichen Atemzug der Mythos, dass die Frau zu blöd war, um zu verhüten, und deshalb nun einen Abbruch benötigt. Die Verantwortung wird komplett auf die Frau übertragen. So dass auch alles, was bei der Verhütung falsch läuft, allein Fehler der Frau ist. Kein systemischer Fehler mehr, sondern ein Fehler der Frau, die Sexualität genießen will. Die Übertragung der Verantwortung setzt Frauen unter Druck und evoziert ein enormes Schuldgefühl. Sie selbst sind dann schuld daran, dass die Verhütung nicht klappt, dass ihre Karriere nicht funktioniert, dass sie ihre Kindererziehung nicht hinkriegen, dass sie ungewollt schwanger werden.

MIZ: Warum ist wichtig, die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch weiterzuführen?

Sarah Diehl: Weil wir zu wenig über das Thema wissen - Abtreibung ist ein Tabuthema. Dabei hat jedes Land seine Geschichten. Aus welchem politischen Kalkül Gesetze so sind, wie sie sind. Wie Frauen mit der Illegalität umgehen. Und es freut mich, dass es mittlerweile wirklich gut funktionierende Netzwerke gibt.

MIZ: Kannst du ein paar Initiativen und ihre Arbeit kurz vorstellen?

Sarah Diehl: Gern. Ich habe meinen Fokus mittlerweile von der Arbeit der Abtreibungsgegner und der Kirche hin zum Aufbau konkreter Hilfsstrukturen für Frauen verschoben. Obwohl es natürlich sehr wichtig ist, sich mit den Strategien der Abtreibungsgegner_innen auseinanderzusetzen: Denn das sind Menschen, die ihren Frauenhass mit Liebe vertuschen wollen. Die Rhetorik hat sich mittlerweile geändert, denn sie wissen, dass sie mit offener Frauenverachtung die Mitte der Gesellschaft nicht mehr erreichen. Deshalb tut man jetzt so, als wolle man die Frau vor ihrer falschen Entscheidung retten. Wobei man erst einmal die Bilder von Spätabtreibungen zeigt und falsche Informationen über die Gefahren des Abbruchs verbreitet; dabei ist Abtreibung laut WHO einer der sichersten medizinischen Eingriffe überhaupt. Der Klassiker sind die ganzen Web-Seiten, die vorgeben Hilfsangebote zu sein, dabei letztendlich nur Schuldgefühle und Ängste in den Frauen wecken wollen, wovor man dann vorgibt, sie retten zu wollen.

MIZ: Eine perfide Masche. Dennoch zurück zur Frage: Welche Projekte machst du derzeit konkret?

Sarah Diehl: Vor acht Jahren habe ich den Dokumentarfilm Abortion Democracy - Poland/South Africa gemacht, mit dem ich heute noch Bildungsarbeit mache. Dadurch habe ich so viele Pro Choice-Aktivistinnen weltweit kennengelernt, mit denen ich dann gemeinsam Strukturen auf- und ausbauen wollte, die es Frauen trotz Illegalität ermöglichen, Abtreibungen zu haben.

Ich habe eine Gruppe in Berlin aufgebaut. Wir nennen uns Ciocia Basia (polnisch für Tante Barbara). In Anlehnung an die afrikanischen Organisationen, die ich getroffen habe, weil einige sich Tante Jane / Aunty Jane nannten. Oft macht die Tante die Sexualaufklärung, mit der man eher als mit Mutter über schambesetzte Themen reden kann. Und um diese familiäre Vertrauensbasis geht es uns: Wir helfen dir, wir verurteilen dich nicht. Wir helfen Frauen aus Polen nach Berlin zu kommen und dort eine Abtreibung zu haben. Und dafür haben wir einen 'Specialdeal' sozusagen, um den Abbruch bezahlbar zu machen. Denn die Frauen haben einen großen Aufwand: Sie müssen nach Berlin anreisen, meist sich vom Job freinehmen, ihren Verwandten und Freunden Lügen auftischen, ihre Kinder unterbringen und versorgen etc. Frauen wird gerne Kinderfeindlichkeit unterstellt, aber tatsächlich haben mehrheitlich Mütter eine Abtreibung für ihre Familien, die sie schon haben. Damit treffen die Frauen eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung, was man gar nicht oft genug betonen kann. Denn Mütter wissen ganz genau, was es bedeutet, Kinder zu haben, wie viele zeitliche und finanzielle Ressourcen damit gebunden werden und möchten diese für die Kinder, die schon haben, nicht verringern.

MIZ: Wie helft ihr den Frauen?

Sarah Diehl: Wir orientieren uns weniger an ideologischen Diskussionen sondern daran, was die Frauen wirklich brauchen, denn allein die Frau wird die Konsequenzen tragen müssen, wenn ihr Hürden gesetzt werden.

Oft werden die Bedenken angebracht, ob die Frau das wirklich kann, ob die Frau sich genug Gedanken darüber gemacht hat. Das sind unerträglich paternalische Perspektiven, um eine Frau davon abzuhalten, das zu tun, was sie braucht. Es wird immer wieder unterstellt, man könne der Frau nicht vertrauen, über sich und ihren Körper zu bestimmen. Diese Aussage schlägt sich in jeder Gesetzgebung, der gesellschaftlichen Beurteilung und im individuellen Sprechen über Abtreibung nieder. Ein zutiefst antifeministisches Argument. Denn das Maß sollte sein, dass die Frau alle Informationen erhält, die sie braucht, um eine Entscheidung zu treffen. Wir müssen lernen, den Frauen zu vertrauen, dass sie wissen, was sie tun.

MIZ: Klingt sehr plausibel. Woran scheitert's in der Praxis?

Sarah Diehl: Ich denke, den Leuten ist oft nicht klar, wie tief ein christliches Weltbild immer noch in uns verankert ist: die Kirche hat der Frau nie vergeben, dass sie Leben gebiert, sie also gottgleich Leben schafft. Um das auszugleichen wurde die Taufe erfunden, damit der Mann, also der männliche Priester, das Kind wirklich ins Leben bringt, zum Subjekt, zum Menschen macht - nicht die Frau durch die Geburt. Das Ritual wertet die Geburt und die Arbeit der Frau ab. Deshalb wird so massiv dämonisiert, wenn sich die Frau entscheidet, dass der Embryo in ihrem Körper nicht zum Menschen wird.

Zudem wird das Thema als horrorhaft und grässlich dargestellt und wird damit nicht als normaler Bestandteil der Frauengesundheit oder einfach der Frauenrealität betrachtet. Und das Thema wird immer als 'Bäh-bäh' behandelt und mit Verantwortungslosigkeit, Irrsinn, mit psychologischen Problemen behaftet. Damit das Thema nicht zum normalen Bestandteil von Frauenerfahrung werden kann, wo Frauen Entscheidungen treffen können und müssen und sich auch darüber austauschen können.

MIZ: Was machst du konkret? Mit welchen Gruppen?

Sarah Diehl: Ciocia Basia arbeitet mit verschiedenen Gruppen zusammen: zum Beispiel Women help Women, Women on Waves oder Women on Web, die letzteren beiden sind die gleichen Personen, die nur zwei verschiedene Projekte machen. Women on Waves hat vor über 10 Jahren damit begonnen, mit Booten, auf denen eine Abtreibungsklinik war, Frauen aus Ländern wie Polen und Irland - wo Abtreibungen illegal waren - abzuholen. In internationalen Gewässern wurde dann der Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Denn dort gilt das Recht, unter dessen Flagge das Schiff fährt. In diesem Fall war es die Niederlande. Das war eine große Medienkampagne, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Aber auch um zu zeigen, wie absurd das ist, was die Frauen durchmachen müssen und wie stark das Thema mit der nationalen Arroganz und Nationalstaatlichkeit verbunden ist.

MIZ: Du sprachst Polen an. Wie ist die Situation in Polen?

Sarah Diehl: An Polen lässt sich gut zeigen, wie das Thema Abtreibung von einem Nationalstaat benutzt wurde. Nach dem Kommunismus inszenierte sich der polnische Nationalstaat als katholisch, auch dadurch, dass die Ablehnung und Kriminalisierung von Abtreibung und Homosexualität offen zelebriert wurde. Auch gegenüber der EU hat Polen - wie Irland - deutlich gemacht, wir sind zwar ein Teil der EU, aber diesbezüglich lassen wir uns nichts sagen. Gerade kleine Länder versuchen damit, ihr Mitspracherecht zu untermauern, obwohl dies innerhalb der EU denkbar gering ist. Umso erstaunlicher, dass hier Frauenrechte zur Verhandlungsmasse werden und unter den Tisch fallen, nur um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. In Polen haben sogar Frauen trotz ärztlichem Attest, das besagt, eine Abtreibung sei medizinisch notwendig, Schwierigkeiten, einen Arzt zu finden, der ihnen hilft, da Ärzte Angst vor Rufschädigung haben. Deshalb müssen wir auch Frauen helfen, die mit ihren gesundheitlichen Schwierigkeiten alleingelassen werden. Je nach Fall vermitteln wir sie weiter nach Holland oder England, was finanziell, gesundheitlich und psychologisch sehr belastend ist.

MIZ: Um auf die Situation in Polen aufmerksam zu machen, habt ihr mit Woman on Waves zusammengearbeitet. Wie genau verlief die Aktion? Und mit welchem Ziel?

Sarah Diehl: Wir haben in Frankfurt/Oder Abtreibungspillen auf eine Drohne gepackt. Dieses ferngesteuerte Flugobjekt ist dann nach Polen gesteuert worden, und dort wartete eine Gruppe von Frauen, davon haben drei Frauen die Pille eingenommen. Mit der Aktion sollte die Absurdität gezeigt, was Frauen tun müssen, um eine Abtreibung zu bekommen. Es war auch deshalb ein solches Vergnügen, da Drohnen als militärisches Männerspielzeug wahrgenommen werden.

Women on Web verschicken zudem die Abtreibungspille per Post in Länder, wo Schwangerschaftsabbrüche illegal sind. Damit konnten viele Frauenleben gerettet werden. Und mittlerweile hat sich daraus ein gut organisiertes Netzwerk entwickelt, mit beispielsweise Abortion Support Network, die speziell irischen Frauen helfen, für einen Abbruch nach London zu kommen oder den Women Help Women. Diese verschicken jedoch auch Verhütungsmittel in Länder, wo diese nicht erhältlich sind. Denn Sexualaufklärung, Verhütung und Schwangerschaftsabbruch sind ein Themenfeld, das Aktivist_innen auch gar nicht voneinander trennen. Dazu muss ich betonen, dass die Frauen das natürlich alles unbezahlt in ihrer Freizeit machen.

Diese selbstorganisierte Hilfe ist sicherlich ein Grund, warum die Sterblichkeitsrate gesunken ist. Hierfür ist die Abtreibungspille eine Revolution, weil Frauen den Abbruch nun selbst vornehmen können. Denn die Abtreibungspille besteht aus zwei Medikamenten und die zweite, Misoprostol, ist in vielen Ländern frei verkäuflich. Dieses Wissen muss den Frauen vermittelt werden: Sie können sich das Mittel selbst besorgen.

Das rettet Leben: Vor zehn Jahren starben 78.000 Frauen weltweit an Abtreibungen, heute sind es 48.000. Die WHO nimmt an, dass dies ein Effekt von Misoprostol ist, weil die Frauen nicht mehr Bleichmittel, Gifte, Stricknadeln oder Dornen benutzen. Die Information ist im Internet leicht zugänglich und erlaubt die Selbstanwendung von Misoprostol.

MIZ: Wird dieser erleichterte Zugang zu einer Neuverhandlung des § 218 führen?

Sarah Diehl: Nein. Auch weil die Leute denken, alles ist in Ordnung und das Gesetz ist super. Nur die wenigsten wissen, dass in Deutschland Abtreibungen illegal sind, nur eben unter bestimmten Bedingungen straffrei und welche Probleme sich daraus ergeben. Und die Diskussion dreht sich um den Embryo und nicht um die Bedürfnisse der Frau.

In Deutschland gibt es zwei Hauptprobleme. Durch die Illegalität haben Abtreibungsgegner_innen viele Möglichkeiten, Ärzt_innen das Leben schwer zu machen. Ärzt_innen dürfen nicht öffentlich sagen, dass sie Abtreibungen anbieten, weil es illegal ist. Informationsfluss über Webseiten z.B. darf nicht erfolgen. Ärzt_innen, die dies trotzdem tun, werden von Abtreibungsgegner_innen mit Klagen überhäuft. Die Strategie, zeitliche und finanzielle Ressourcen zu binden, geht dabei auf.

Zweitens bieten immer weniger Ärzt_innen Schwangerschaftsabbrüche an. Gerade in ländlichen Gebieten ist das bereits ein großes Problem. Ursache ist, dass das Thema kein Bestandteil der Gynäkolog_innen-Ausbildung ist. Unfassbar, dass ein so zentraler Teil der Frauengesundheit komplett ausgenommen wird. Ärzt_innen müssen sich selbst darum kümmern, Kolleg_innen zu finden, die ihnen eine Hospitanz und damit die Praxiserfahrung ermöglichen.

Gynäkologen lernen zwar, was bei einer Fehlgeburt zu tun ist. Aber das Thema Abtreibung kommt nicht vor. Damit wird die gesamte Diskussion von ihnen ferngehalten, womit ihnen auch Vermittelt wird, dass es ein randständiges Schmuddelthema ist. Sie müssen sich nicht damit auseinandersetzen, was das für die Patientinnen bedeutet, und das hat Konsequenzen, wie sie mit Fragen in entsprechenden Situationen umgehen. Also halten sich auch hier die negativen Vorstellungen dazu, und Ärzt_innen fragen sich, warum soll ich mir eine 'Zusatzausbildung' und obendrein den Ärger mit Abtreibungsgegner_innen antun.

MIZ: Das klingt sehr danach, dass eine 'Betroffenheit' beim einzelnen Menschen vorhanden sein muss, um sich sozusagen aus Überzeugung zu engagieren. Ist das so?

Sarah Diehl: Ja, das ist tatsächlich bei den meisten Menschen so. Menschen sind leider gern selbstgerecht. Abtreibungsgegner_innen hatten deshalb so großen Erfolg, weil sie den Fokus der Aufmerksamkeit von der Frau weg allein auf den Embryo lenkten.

Die Frau wird darauf reduziert, ein Gefäß für das gesellschaftlich erwünschte Kind zu sein. Im Mittelpunkt steht der Embryo als das heilige Leben, das unschuldige Leben, das Leben an sich. Diese Projektionsfläche bietet sich auch an, um sich selbst als gut und lebensbefürwortend darzustellen. Ausbaden muss das aber die Frau und das meist alleine. Lebensschützer_innen haben es geschafft, die Menschenrechte auf den Embryo anzuwenden und nicht mehr auf die Frau. Obwohl Embryonen kein Schmerzempfinden, kein Bewusstsein und keinerlei Subjektivität bis zur 24. Schwangerschaftswoche haben.

MIZ: Das klingt wenig nach Emanzipation und nach der Parole "ob Kinder oder keine, bestimmen wir alleine". Was verbirgt sich dahinter? Wie wird das Thema 'Schwanger-Sein' in unserer Gesellschaft verhandelt?

Sarah Diehl: Das ist noch immer der perfide 'Maria-Mist': Da die Frau eben nicht asexuell das heilige reine Leben gebärt, ist die reale Frau immer eine Gefahrenquelle: egoistisch, dreckig, verantwortungslos.

Und so wird sie auch beäugt. Darum habe ich das Buch über Kinderlosigkeit geschrieben. Darin ging es mir nicht darum, Kinderlosigkeit zu idealisieren, sondern darum, über das schlechte Image der kinderlosen Frau zu schreiben und darüber, wie das Mutterideal in unserer Gesellschaft funktioniert.

MIZ: Zum Mutterideal und vor allem zum Mutterinstinkt ist derzeit wieder viel zu lesen. Wie schätzt du die gesellschaftlichen und sozialpolitischen Konsequenzen ein?

Sarah Diehl: Frauen werden dazu konditioniert, die Dreckarbeit der Nation zu machen. Die ganze Debatte um Care-Arbeit - also Fürsorgearbeit - zeigt, dass Gleichberechtigung nicht funktioniert, nur weil Frauen jetzt auch Lohnarbeiterinnen sind. Frauen wird suggeriert: Ihr seid gleichberechtigt - könnt lohnarbeiten und eine Ausbildung haben usw., also in männliche Arbeitsbereiche vordringen. Dass aber auch dazugehört, dass der weibliche Arbeitsbereich auch von Männern, bzw. auch gesamtgesellschaftlich übernommen wird, wird einfach nicht gesehen. Ich kann auch nicht fassen, dass die Menschen einfach so hinnehmen, dass Doppelbelastung ein Problem der Frau ist und nicht von Männern. Dahinter steckt die Erzählung vom Mutterideal und vom Mutterinstinkt: Frauen können Fürsorgearbeit besser leisten aufgrund irgendwelcher biologischen Projektionen.

MIZ: Hat sich die Sichtweise in den letzten Jahren geändert? Und ist der Diskurs um das Mutterideal und den Mutterinstinkt stärker in das öffentliche Interesse bzw. den Fokus gerückt? Siehst du einen Ausweg aus dem Dilemma bzw. alternative Organisationsformen, die sozialpolitische Anerkennung benötigen?

Sarah Diehl: Ich denke, dass mit dem Fokus auf Natürlichkeit und Biologie neue Druckmittel aufgebaut werden mussten, weil andere weggefallen sind. Früher mussten Frauen einfach heiraten, brauchten einen Ehemann, um sozial und finanziell abgesichert zu sein und Mutterschaft war eines der wenigen Dinge, worüber sie überhaupt Anerkennung bekommen haben und was ihren Wert innerhalb der Gesellschaft ausgemacht hat. In der Kleinfamilie war die Frauenrolle dann festgelegt und Frauen hatten Schwierigkeiten, außerhalb dessen ein Leben zu kreieren.

Da Frauen jetzt aber selbstbestimmter leben können, wird nun die Biologie, die Psychologie und die Natur in Stellung gebracht, und damit behauptet, dass die Frau nicht anders kann als Mutter werden zu wollen. Als Projektionsfläche funktioniert es deshalb so gut, weil über Liebesbedürfnis und über Liebe und Gemeinschaft als positive Bezüge den Frauen eine Selbstverständlichkeit suggeriert wird. Übrigens auch leicht zu vermarkten und zu verkaufen, da das Bild aufrechterhalten wird, dass Liebe und Gemeinschaft allein über das eigene Kind in der eigenen Familie mit Ehemann und Mutter, Vater, Kind hergestellt werden kann. Das ganze Gerede um Individualisierung und Singlehaushalte usw. existiert nur deshalb, weil Menschen in ihren alten Familienkonzepten wie der Kleinfamilie nicht mehr leben wollen, neue Konzepte wie Groß-WGs mit sozialer Elternschaft und Patchwork-Familien aber politisch erschwert werden und als randständig und als gefährlich für ein Kind gezeichnet werden.

MIZ: Und ist andererseits die Kleinfamilie und das Heiraten nicht wieder in Mode gekommen?

Sarah Diehl: Es gibt viele junge Leute, die unbedingt Familie haben wollen. Aber ich denke, dass daraus die Ängste vor der neoliberalen Wirtschaft sprechen. Da sich aber keine alternativen Konzepte zur Kleinfamilie anbieten, idealisiert man diese wieder als Schutz vor der bösen Welt des Kapitalismus. Dabei ist die Kleinfamilie als Schutz vor der Arbeitswelt eine Projektionsfläche, sie ist vielmehr ein Garant für die Trennung zwischen unbezahlter weiblicher Hausarbeit und bezahlter männlicher Lohnarbeit. Tatsächlich sagten mir die meisten Interviewpartnerinnen: Es geht mir nicht darum, dass ich kein Kind will, sondern dass ich wegen einem Kind nicht in der Kleinfamilie landen will, weil das die größte Frauenfalle überhaupt ist.

Gerade die Art und Weise, wie Frauen eingedrillt wird, dass sie unbedingt ein eigenes Kind haben müssen, sonst haben sie keine weibliche Erfolgsbiografie, sonst sind sie einsam im Alter etc., das wirkt sich auch auf das Selbstbild der Frau aus. Es wird kinderlosen Frauen schwer gemacht, sich nicht als defizitär zu empfinden.

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 4/15, S. 29-36, 44. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Tilsiter Str. 3, 51491 Overath
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Erscheinungsweise: vierteljährlich,
jeweils Anfang April, Juli, Oktober und Januar.
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Bezugskosten Abonnement: 18,- Euro (Inland),
22,- Euro (Ausland) jeweils inkl. Porto.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2016

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